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Verkehrte Welt

Wer heute die Seiten 8 und 9 der Leipziger Volkszeitung (LVZ) aufschlägt, findet sich in einer verkehrten Welt wieder. Da wird zum einen über das jahrelange Treiben des sächsischen Verfassungsschutzes berichtet „Verfassungsschutz sammelte illegal Informationen von Bürgern“ – ein himmelschreiender politischer Skandal! Auf der gegenüber liegenden Seite ist ein Interview mit dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen Michael Kretschmer (CDU) abgedruckt. In diesem macht er in der ihm eigenen Chuzpe die SPD für das Erstarken der AfD verantwortlich. Die SPD habe „das berechtigte Selbstbewusstsein der Menschen hier – wir haben das System der DDR beendet, wir haben etwas Neues aufgebaut, wir gehen mutig voran – beschädigt und Erfolge zunichte gemacht.“ Das ist ähnlich dreist wie einst Helmut Kohl (CDU), der die einzige Neugründung einer Partei im Verlauf der Friedlichen Revolution, die SDP/SPD, schon im Rahmen der ersten freien Volkskammerwahl März 1990 als Partei des DDR-Sozialismus verleumdete. Doch die Blockpartei CDU hatte mit der Friedlichen Revolution so viel tun wie heute die CDU mit dem Kampf gegen den Rechtsextremismus: nämlich nichts!

Doch diese Art der Politik der verkehrten Welt hat bei Kretschmer seit Jahren Methode. Offensichtlich verfängt diese bei Journalist*innen – nicht nur in der „ZEIT im Osten“-Redaktion, eine Art Fanclub von Michael Kretschmer, nun auch beim „Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND)“. Denn mit keinem Wort wird Kretschmer in dem Interview nach dem Verfassungsschutzskandal befragt, der vor einigen Tagen aufgeflogen ist. Stattdessen werden ihm die Stichworte gereicht, um über SPD und Grüne herzuziehen und sich neben Reiner Haseloff als „Brandmauerbauer“ gegen die AfD zu profilieren. Doch es ist noch gar nicht so lange her, da echauffierte sich der damalige CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer bei Anne Will (16. September 2016) empört: Es sei ungeheuerlich, dem Freistaat Sachsen zu unterstellen, er würde nichts gegen den Rechtsextremismus tun. Seit 1990 seien der Freistaat und insbesondere die CDU gegen den Rechtsextremismus aktiv. Das behauptete er damals angesichts des pöbelhaften Auftretens von Bürger*innen gegen Bundespräsident Joachim Gauck im September 2016 und nachdem in Bautzen bei der Landtagswahl 2014 die NPD 10,8 % und die AfD 14,3 % erzielten. Mit der CDU aber hat das nach Kretschmer alles nichts zu tun – wohl wissend, dass die CDU seit 1990 für die Verleugnung des Rechtsextremismus, für katastrophale Nicht-Demokratiebildung, für einen rechtslastigen Verfassungsschutz die Hauptverantwortung trägt. Bis vor kurzem (und bei manchem CDU-Platzhirsch noch immer) waren und sind die Grenzen zu den Rechtsnationalisten nicht nur der AfD sehr fließend. Noch im Februar 2021 stimmte die CDU in Plauen zusammen mit der AfD und der rechtsextremistischen Partei „III. Weg“ gegen ein Demokratieprojekt und entzog dem „Bündnis für Demokratie, Toleranz und Zivilcourage“ die Fördergelder (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/plauen-cdu-streicht-geld-fuer-demokratieprojekt-mit-stimmen-von-afd-und-iii-weg-a-1c72fced-a212-4cb6-92f2-6c029c093ad4). Irgend eine Reaktion von Kretschmer? Nichts.

Was Kretschmer natürlich verschweigt: Die CDU konnte 2019 in Sachsen und nun in Sachsen-Anhalt mit Reiner Haseloff bei den Landtagswahlen nur deswegen eine deutliche Distanz zur AfD gewinnen, weil viele Bürger*innen aus Sorge um die Demokratie ihre Parteipräferenz zurückgestellt und der CDU (zähneknirschend) ihre Stimme gegeben haben. Hinzu kommen die Menschen, die täglich im bürgerschaftlichen Engagement sich den Rechtsnationalisten nicht nur in der Wahlkabine entgegenstellen. So hat das schlechte Abschneiden von Grünen und SPD bei diesen Wahlen natürlich mit ihren eigenen Schwächen, aber auch damit zu tun, dass viele Wähler*innen vorsichtshalber der CDU ihre Stimme gegeben haben. Sie wollten verhindern, dass die rechtsextreme AfD stärkste Partei wird. Dass nun aber herauskommt, dass der Verfassungsschutz diese Bürger*innen bespitzelt, über sie Akten sammelt und linksradikaler Umtriebe verdächtigt, ist ein Skandal – der gleiche Verfassungsschutz übrigens, der noch immer tief im Sumpf des NSU steckt. Dass dazu dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer kein Wort über die Lippen kommt, zeigt, von welch zwanghaftem Opportunismus er getrieben ist – übrigens der gleiche gnadenlose Opportunismus, den er in Sachen Kohleausstieg an den Tag legt. Denn er gehörte bis vor kurzem zu denen, die weit über das Jahr 2050 hinaus Braunkohle fördern und weitere Dörfer abbaggern lassen wollten. Heimat-Rhetorik bedienen, aber traditionsreiche Ortschaften zerstören wollen zugunsten einer Energiegewinnung von gestern – damit hatte ein Michael Kretschmer nie ein Problem.

So wichtig es ist, rechtsextremistische Parteien wie die AfD politisch zu bekämpfen – dies über den Umweg einer starken CDU zu tun, wird sich als Sackgasse erweisen. Denn was soll man von einer Partei halten, die offensichtlich kein Problem hat mit einem Bundestagskandidaten Hans-Georg Maaßen in Thüringen, dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten, unter dessen Ägide massenhaft NSU-Unterlagen geschreddert wurden, bevor der Untersuchungsausschuss im Bundestag ihrer habhaft werden konnte? Und was von einer CDU, die sich nun anschickt, im Bundestag alles zu blockieren, was Demokratie und Transparenz stärkt? Verirre sich also niemand in den verkehrten CDU-Welten. Stärken wir in den kommenden Monaten den Menschen und den Parteien den Rücken, die von ihrer Geschichte und ihrem Programm her über jeden Zweifel erhaben sind, die Demokratie, den sozial gerechten Zusammenhalt und den Klimaschutz zu fördern.

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Zur Strategie von Ministerpräsident Kretschmer siehe auch:

https://wolff-christian.de/verharmlosen-und-recht-behalten-kretschmer-faehrt-die-alte-masche/

https://wolff-christian.de/der-geist-ist-aus-der-flasche/

 

 

6 Antworten

  1. Natürlich sind die Ausführungen von MP Kretschmer zum SPD-Anteil an den AfD-Erfolgen Blödsinn, dem beginnenden Wahlkampf geschuldet. Bemerkenswert allenfalls, dass er es offensichtlich (noch) für notwendig erachtet, im Wahlkampf auch die SPD zu diffamieren und nicht nur die Grünen – das sollte der SPD ein wenig Selbstbewusstsein geben!
    Widerspruch bzw. Ergänzung an Christian Wolff bzgl. „Kretschmer-Fanclub des Redaktionsbüros Zeit-im-Osten“: auf Martin Machowecz trifft Deine Bemerkung sicher ohne jede Einschränkung zu, aber z.B. Anne Hähnig oder Valerie Schönian sind durchaus andere Kaliber.
    Der Wahlausgang in Sachsen-Anhalt hat mich doch sehr überrascht: einen Vorsprung von > 16% für die CDU vor der AfD hätte ich niemals erwartet, genauso wenig das bessere Wahlergebnis für die FDP gegenüber den Grünen! Nicht überrascht haben mich dagegen die Zahlen für SPD und Linke.
    20,8% für die AfD sind einerseits erfreulich wenig (gegenüber den Prognosen und den eigenen Erwartungen der AfD), andererseits aber immer noch skandalös viel (für die Demokratie und die Geschichtsvergessenheit in Deutschland)!
    Dem abschließenden Satz von Christian Wolff – „so wichtig es ist, rechtsextremistische Parteien wie die AfD politisch zu bekämpfen – dies über den Umweg einer starken CDU zu tun, wird sich als Sackgasse erweisen“ – kann ich ohne jede Einschränkung zustimmen!
    Persönlich traue ich aber der Partei, „die von ihrer Geschichte her über jeden Zweifel erhaben ist“, für die kommende Legislaturperiodejedoch nicht zu, die dringend notwendigen Veränderungen anzugehen! Ich denke, sie muss sich in der Opposition personell und inhaltlich erneuern bzw. endlich wieder zu sich selbst finden!

  2. Die SPD für den Aufstieg der AfD verantwortlich zu machen, ist schon ziemlich grotesk. Schon die Gründung der AfD hatte etwas mit den gravierenden Konstruktionsfehlern des Euro-Systems zu tun, für die neben der damaligen Bundesbankführung vor allem die Unionsparteien verantwortlich waren. Und der Zustrom von Asylbewerbern nach Deutschland wäre 2015 nicht zur Flüchtlingskrise ausgeartet, wenn ein stabiles Sozialsystem, hinreichend hohe Mindestlöhne und ein umfangreicher sozialer Wohnungsbau angesichts absehbar zunehmender Konkurrenz im Niedriglohnsektor und Wohnungsmarkt nicht erhebliche Benachteiligungsgefühle in den unteren Einkommensschichten hätten aufkommen lassen. Die damals im Niedergang befindliche AfD konnte deshalb auf einmal wieder Oberwasser gewinnen.

    Der Ehrlichkeit halber muss man aber dazusagen, dass die SPD als langjähriger Koalitionspartner der CDU/CSU dem nichts Wesentliches entgegengesetzt hatte. Mehr noch, Grundlagen für die offensichtlichen sozialen Verwerfungen im Lande, wie z. B. Rentenkürzungen und der ausufernde Niedriglohnsektor, wurden bekanntermaßen bereits während der Regierungszeit von Rot-Grün gelegt. Dass auch die andere linke Partei, „Die Linke“, z. Z. mit keiner attraktiven und glaubwürdigen Alternative zum dominierenden neoliberalen Paradigma aufwarten kann, hat sich bei der jüngsten Landtagwahl in Sachsen-Anhalt wieder einmal gezeigt. Arbeitslose wählten zu 38% die AfD und nur zu 15% die Linke (SPD 8%). Bei den Arbeitern waren es 38% bzw. 11% (SPD 8%). Die Kritik Sahra Wagenknechts an der Identitätspolitik der sog. „Lifestyle-Linken“ teile ich übrigens (s. das neue Buch von S. W., „Die Selbstgerechten“).

    Die Gefahr, dass auch in den nächsten Jahren das Wählerpotenzial der AfD auf hohem Niveau bleibt, ist groß bei der auch im Kretschmer-Interview deutlich werdenden, für die CDU typischen Denkweise, wie mit den ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie und der Bewältigung der Klimakrise umzugehen ist. Der Appell zur Beschränkung von Sozialleistungen und zur umgehenden Begleichung der pandemiebedingt stark angestiegenen Staatsschulden lässt die nächste Austeritäts-Welle schon erahnen.

  3. „Doch die Blockpartei CDU hatte mit der Friedlichen Revolution so viel tun wie heute die CDU mit dem Kampf gegen den Rechtsextremismus: nämlich nichts!“
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    Der erste Teil Ihrer Aussage stimmt, doch der zweite ist falsch. Ich nehme nur das Beispiel des ehemaligen Innenministers von Sachsen-Anhalt, Stahlknecht. Als der von einer Minderheitsregierung der CDU (toleriert von der AfD, das sagte er zwar nicht explizit) faselte, entließ ihn MP Dr. Haseloff und sorgte noch dafür, dass er den CDU-Landesvorsitz verlor.

    Die Aussage des MP Kretschmer, wonach die SPD im Osten die Menschen als Opfer des Westens apostrophiere und damit der AfD in die Hände spiele, ist natürlich Unsinn. Gerade in Sachsen macht die SPD unter ihrem Vorsitzenden Dulig (den Sie, sehr geehrter Herr Wolff, einmal geringschätzig als „Schwiegermuttertyp“ bezeichneten) einen guten Job. Die SPD wird dringender denn je als Konterpart gegenüber der erstarkenden Dilettantenpartei Bündnis 90/Die Grünen gebraucht.

  4. „So wichtig es ist, rechtsextremistische Parteien wie die AfD politisch zu bekämpfen – dies über den Umweg einer starken CDU zu tun, wird sich als Sackgasse erweisen.“
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    Wieso Umweg? Wer soll denn konservative Wähler im demokratischen Parteienspektrum binden, wenn nicht die CDU? Die Landtagswahlen sind ohnehin nur bedingt geeignet, einen Bundestrend zu begründen; sie waren, sind und werden sein Personenwahlen – auf den Ministerpräsidenten zugeschnitten. Und so gewinnen mal die Grünen, mal die SPD, mal die CDU und nächstes Jahr aller Voraussicht nach die Linke.

  5. Lieber Christian, danke; beide Fakten in der heutigen LVZ sind so ungeheuerlich und eines Regierungschefs, der ja wohl auch noch nach der BT-Wahl mit den beiden Juniorpartnern wird regieren müssen, schlichtweg unwürdig.

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