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Non scholae sed vitae …

Mit diesem Spruch begrüßte uns mein Lateinlehrer zu Beginn der 5. Klasse (damals Sexta) im Jahr 1960: „Non scholae sed vitae discimus“. Allerdings verschwieg er uns damals, dass der römische Philosoph Seneca, von dem der Spruch stammt, es ursprünglich genau umgekehrt geschrieben hatte: „Non vitae sed scholae discimus“ (Wir lernen nicht für das Leben, sondern für die Schule). Durchgesetzt aber hat sich die Fassung, dass Bildung dem Leben dient und nicht der Schule als Bildungseinrichtung. An diesen Spruch muss ich seit geraumer Zeit denken. Denn in der Diskussion um die Frage, wie der Kita- und Schulbetrieb in Corona-Zeiten aufrecht erhalten werden kann, kommt eines viel zu kurz: das Leben der Kinder und Jugendliche. Um sie, um den*die einzelne*n Schüler*in, um das einzelne Kindergartenkind geht es, um seine und ihre Zukunft und Entwicklung. Anders als in den Pflegeheimen begleiten wir in den Kitas und Schulen alle Menschen in der entsprechenden Altersgruppe – und zwar nicht auf ihrem letzten Lebensweg, sondern auf dem Weg ins Leben hinein.

Wurde und wird das in der vom Corona-Virus beherrschten Zeit ausreichend bedacht? Wenn man die Äußerungen der Sprecher*innen der Lehrer*innen-Gewerkschaften und -Verbände, der Kultusminister*innen, der Bildungspolitiker*innen aber auch der Virolog*innen hört, kommen mir erhebliche Zweifel. Da geht es in erster Linie um Schutz vor einer möglichen Infektion (so wichtig der auch ist!), um Maskentragen und Abstand (auch wichtig, aber könnte auch als selbstverständlich gelten), um Nachholen des in den Lehrplänen vorgesehenen des Lernstoffs, um Präsens- und Distanzunterricht – wobei letzterer bis vor kurzem die Priorität hatte. Doch merkwürdigerweise kommen naheliegende Fragen nicht vor. Wie sieht es aus:

  • mit den überfüllten Schulbussen und Straßenbahnen? Warum werden da nicht mehr Busse und Wagons eingesetzt?
  • mit Luftaustauschgeräten in den Klassenzimmern? Warum sind bis heute nicht alle Klassenräume damit ausgestattet?
  • mit kleinerer Gruppen- und Klassenstärke in größeren Räumen?
  • mit der Entrümpelung der Lehrpläne?

Dies alles nicht als Notlösung, sondern als dauerhafte Verbesserung der Bildungsbedingungen in Kitas und Schulen! Merkwürdigerweise spielen in den aktuellen Diskussionen diese Fragen kaum eine Rolle. Einzig die Gesellschaft für Aerosolforschung wird nicht müde, Luftaustauschgeräte und kleinere Gruppenstärken für Kitas und Schulen anzumahnen – davon ausgehend, dass das Infektionsgeschehen in geschlossenen Räumen, in denen sich viele Menschen aufhalten, gefährlich ist. Warum ist kein Gesetz, keine Verordnung auf den Weg gebracht worden, die Bestimmungen für den Kita- und Schul(neu)bau ab sofort radikal zu verändern: weg von durch Dämmung plastifizierten Betonbauten mit viel zu kleinen Klassenräumen hin zu einer atmenden Architektur mit größeren Räumen für kleinere Gruppen? 20 Kinder in 40 qm² großen Gruppenräumen sind für Kinder und Erzieher*innen auch ohne Corona-Virus eine Zumutung!

Diese Veränderungen müssen spätestens jetzt in Gang gesetzt werden. Genauso die Entrümpelung der Lehrpläne. So wichtig es ist, Lernstoff nachzuholen – in der Schule geht es umfassende Bildung der Persönlichkeit: soziale Kompetenz, kulturelle, auch religiöse Bildung, Einüben der Demokratie. Das ist aber weitgehend nur in Präsens möglich. Präsensunterricht und damit Schulleben müssen oberste Priorität haben. Ebenso sollten die Bildungspolitiker*innen in den Regierungen, Parlamenten und Verbänden viel mehr zur Kenntnis nehmen, dass die Kinder und Jugendliche in den vergangenen Monaten gelebt, Erfahrungen gesammelt und dabei viel gelernt haben! Jetzt kommt es darauf an, das Erlebte zu verarbeiten, die gemachten Erfahrungen produktiv für den weiteren Bildungsweg einzusetzen. Das ist eine mindestens so wichtige Bildungsaufgabe für Kitas und Schulen wie das Nachholen von Lernstoff: non scholae sed vitae … .

Natürlich: Die Umsetzung aller Maßnahmen findet vor Ort, in der je einzelnen Kita und Schule statt. Aber das wird nur gelingen, wenn den Leitungen und Kollegien der Schulen mehr Kompetenz und Freiheit zugestanden wird und obrigkeitsstaatliches, behördenhöriges Denken aus den Lehrer*innenzimmern ausziehen; wenn innovative Initiativen gefördert und entsprechende finanzielle Ausstattung zugesagt wird. In diesem Zusammenhang wird dann wieder die Originalfassung des alten Spruchs sinnvoll: es geht um die Schulen und Kitas als Lebensraum, für nicht wenige Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen auch als Schutz- und Freiraum. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass nach wie vor in Deutschland durch die Schulbildung die sozialen Gräben verstärkt werden, dann sollte zumindest im politischen Raum der Schola die eindeutige Priorität zukommen. Es ist an der Zeit, dass wir in Sachen Kita und Schule endlich alle Maßnahmen aus dem Blickwinkel der Kinder und Jugendliche und ihrer Entwicklung zu einer einzigartigen Persönlichkeit betrachten.

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