Das Positive vorneweg: Die hohe Beteiligung an den Europawahlen und die klare Absage an die rechtsnationalistischen Zerstörer der Europäischen Union zeigen an, dass die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in Deutschland wertschätzen und die europäische Einigung stärken wollen. Zwar sind 11 % Stimmenanteil für die Rechtsnationalisten der AfD genau 11 Prozent zu viel. Aber ein weiterer Rechtsruck ist ausgeblieben. Doch in Ostdeutschland hat er sich verfestigt, vor allem in Sachsen. Das ist mehr als alarmierend – vor allem, weil bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen die AfD in manchen Stadträten die Mehrheit stellen wird (Gott sei Dank nicht in Leipzig. Da steht den 14,9 % für die AfD eine rot-grün-rote Mehrheit von fast 55 % gegenüber). Nun sind für das Wahlergebnis der AfD zuerst und vor allem diejenigen verantwortlich, die den Rechtsnationalisten ihre Stimme gegeben haben. AfD-Wähler/innen sind keine bemitleidenswerte ostdeutsche Dummerchen. Sie befinden sich auch nicht in irgendeiner Zwangslage, so entscheiden zu müssen. Nein, sie wählen die AfD in vollem Wissen um deren Demokratieverachtung, Ausländerfeindlichkeit, kulturelle Abschottung und umfassender politischer Inkompetenz. Die Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, lautet nicht: Wie bekämpfen wir die AfD? Die Frage ist: Was geht in Menschen vor, die AfD wählen, obwohl durch Rechtsnationalisten nur Probleme geschaffen werden, aber kein einziges gelöst wird; obwohl die AfD wie eine FPÖ oder Lega aus lauter kleinen Straches besteht? Wie können wir Menschen davon abhalten, weiter mit dem Feuer eines Faschismus affinen Rechtsnationalismus zu spielen?
Wer auf diese Fragen Antworten sucht, muss sich mit einem durchaus erfreulichen Aspekt der Europa- wie der Kommunalwahl auseinandersetzen. Bei dieser Wahl spielten die von den Rechtsnationalisten gesetzten Themen (Zerstörung der EU, Abschottung gegen Geflüchtete, Islamfeindlichkeit, völkischer Nationalismus, Leugnung des Klimawandels) keine besondere Rolle. Auf kommunaler Ebene standen Themen wie Mobilität, Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, Sicherheitsbedürfnis, Bau von Kitas und Schulen im Vordergrund. Da auf allen Ebenen ein Nachholbedarf an Entscheidungen besteht, lasten viele Bürgerinnen und Bürger die Missstände den Parteien an, die bis jetzt in den Kommunen das Sagen haben. Dieses gilt auch auf Bundesebene. Da stand vor allem das Thema Klimaschutz im Mittelunkt. Hier wurden in den vergangenen Wochen die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD, durch die argumentative und anhaltende Power von FridaysForFuture geradezu vorgeführt. Mehr noch: Derzeit haben weder SPD noch CDU/CSU eine Zukunftsvision für die Generationen anzubieten, die Jahrzehnte ihres Lebens noch vor sich haben. Gerade die SPD sieht sehr, sehr alt aus und langweilt große Teile der jungen Generation. Dieser programmatische Austrocknungsprozess der Partei hält an. Als Anfang 2017 zusammen mit der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz Tausende junge Menschen in die SPD eintraten und damit der SPD das Angebot machten, wir wollen mit euch Zukunft gestalten, hat man dieses Geschenk noch nicht einmal ausgepackt. Im Willy-Brandt-Haus wurde überhaupt nicht begriffen, welche Herausforderung in diesem Angebot steckt: Wir müssen uns friedens-, klima-, sozialpolitisch auf Zukunft hin orientieren. Stattdessen wurde Kanzlerkandidat Martin Schulz durch einen katastrophal konzipierten Wahlkampf in die Unkenntlichkeit geführt und ist dort untergegangen.
Bis heute hat die viel beschworene Erneuerung keine wirkliche Umsteuerung bewirkt – auch nicht durch Kevin Kühnert. Merkwürdig – auch er tritt so auf, als gehöre er schon zu den Scholz, Maas und Nahles, denen es so sehr an Charisma mangelt. Ein Vergleich zwischen seinem ZEIT-Interview (siehe auch http://wolff-christian.de/erneuerung-sieht-anders-aus-zum-zeit-interview-mit-kevin-kuehnert/) und seinen Auftritten in diversen Talk-Shows und dem Youtuber Rezo macht dies überdeutlich. Mit großen Vorbehalten und einer Menge Vorurteilen habe ich mir das Video angesehen (https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ). Nach den 55 Minuten war mir ziemlich klar, warum sich Menschen, mich eingeschlossen, durch Rezo im besten Sinn herausgefordert fühlen. Er hat eine sehr lebendig vorgetragene, scharfsinnige, durchaus witzig aufbereitete, aber immer wohl begründete, sehr ernsthafte Analyse des Politikversagens der Regierungsparteien, insbesondere der CDU/CSU, aber eben auch der SPD, geliefert – ohne sich ideologisch auf ausgetretenen Pfaden zu bewegen. Selbst wenn für mich an manchen Stellen seine Sprache gewöhnungsbedürftig ist – ich habe lange nicht mehr eine so spannende politische Rede gehört. Sie kam ohne jede Häme und Hetze, ohne dass Sündenböcke geschaffen werden, aus – und hatte eine deutliche Botschaft: Wir dürfen den politischen Glaubwürdigkeitsverlust der Bundesregierung nicht länger verdrängen und wegrationalisieren. Es müssen jetzt politische Entscheidungen getroffen werden, die Zukunft eröffnen und den Menschen helfen, sich engagiert an der Demokratie zu beteiligen. Nebenbei: Rezo überzeugt nicht, weil er sich der neuen Medien bedient, sondern weil er inhaltlich stark argumentiert. Es wird also den Parteien nichts nutzen, ihre Botschaften über Youtube abzusetzen, wenn es die alten sind.
Während über Kevin Kühnerts ZEIT-Interview diejenigen mit den üblichen Reflexen debattieren, die derzeit die notwendigen politischen Entscheidungen verweigern, klicken 11 Millionen Bürgerinnen und Bürger das Rezo-Video an und fühlen sich verstanden, aufgerüttelt und zum Handeln ermutigt. Kein Wunder, dass davon vor allem die Partei profitiert, die den Klimaschutz programmatisch schon immer auf dem Schirm hatte, nämlich die Grünen. Kein Wunder aber auch, dass die Rezo-Rede der Partei auf die Füße fällt, die seit Jahren den/die Umweltminister/in stellt und eigentlich schon einmal begriffen hatte, dass eine ökologisch ausgerichtete Politik kein sozialpolitischer Luxus ist sondern eine Notwendigkeit, nämlich die SPD. Es ist als Sozialdemokrat bitter zu sehen, dass die SPD in ihrer Führung bis heute offensichtlich nicht begriffen hat, dass soziale Notwendigkeiten wie die Grundrente nur dann als ein Gewinn verbucht werden, wenn diese eingebettet sind in eine zukunftsorientierte Politik, für die sich Menschen begeistern können, die jetzt noch nicht an ihren Ruhestand denken. Wohlstandsicherung ist nichts, was Menschen zum politischen Handeln motiviert. Aber Klimaschutz und aktive Friedenspolitik – das geht jeden an und das bereitet den Weg für sozialpolitische Entscheidungen.
Bleibt zum Schluss der Trost, dass mit FridaysForFuture, aber auch mit Einlassungen wie der von Rezo sich jetzt politische Alternativen auftun, die sich nicht nur an den Grundwerten der Verfassung orientieren und den politischen Diskurs beleben. Sie ermutigen uns auch, der sog. „Alternative für Deutschland“ (AfD) mit ihrer nationalistischen Gartenzaunmentalität und ihren menschenverachtende Abschottung gegen alles Fremde keinen Millimeter Raum zu geben. Das gilt es in den nächsten Wochen vor allem dort zu kommunizieren und zu praktizieren, wo die Rechtsnationalisten ihr Unwesen treiben und gesellschaftliches Leben in Deutschtümelei erstarren lassen. Hier sind alle Generationen gefordert – auch die Schüler/innen und Studierenden von FridaysForFuture und die Rezos. Nutzen wir die Zeit bis zum 1. September 2019.
8 Antworten
Nun sind Sie leider etwas unter Ihrem Niveau, lieber Herr Lerchner:
Es ist keine „Obsession“ in Sachen Sozialismus, die ich habe, sondern eine andere Meinung als Sie. Ich habe Ihre Argumente mit Respekt gelesen; einigen kann ich folgen, anderen nicht – und insbesondere nicht dem, daß Sozialisten gut mit Geld umgehen können; Geld im übrigen, daß ja eben nicht ihnen gehört, sondern das sie treuhänderisch für die Allgemeinheit verwalten und ausgeben. Daß wir beide auf diesem Sektor die Dinge unterschiedlich sehen, ist ja offensichtlich und wir werden uns auch kaum einigen können, zB auch zur Frage der Schwarzen Null und damit der Frage, wie viel des Vermögens unserer Nachkommen wir schonmal auffressen dürfen, wo Sie offensichtlich großzügiger sind, als ich es für gerechtfertigt halte. Es ist schlicht Propaganda, eine Unvergleichbarkeit zwischen privaten und Staatsschulden zu behaupten.
Und ich stimme eben nicht zu, daß – auch in der Marktwirtschaft – Verteuerung von Produkten die einzige Lösung für unsere Probleme ist. Es gibt eine Menge anderer Möglichkeiten, das Richtige attraktiv und das weniger Richtige unattraktiv zu machen. Aber – in der Tat – Sozialisten fällt nur ein, daß man den Menschen übers Geld manipulieren muß: Entzug eben oder Verteilung, im Falle von Herrn Heil auch noch ungeprüfte Gießkannenverteilung. Man darf ja zB nicht vergessen, daß der von Ihnen so kritisierte „Erbschaftsreichtum“ eigentlich eher etwas Positives ist, eine „Friedensdividende“ sozusagen. Denn ein solcher Erbschaftsreichtum entwickelt sich nun mal zum Glück in einer kriegsfreien Zone: Daß wir heute unseren Kindern und Enkeln Häuser und Vermögen vererben können, ist unmittelbare Folge der 70 Friedensjahre, die wir der NATO und der EU verdanken (und der sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur sozialistischen Wirtschaft). Und daß man diese positive Entwicklung auch zum „Ausgleich“ einsetzen kann, soll ja nicht bestritten werden, nur darf man zwei Dinge nicht tun: erstens so tun, als sei eine solche Erbschaft etwas Unmoralisches und Schlimmes; und zweitens glauben, daß deren Umverteilung nach unten auch nur annähernd ausreichen würde, um sozialistische Gleichheitsphantasien zu befriedigen.
Und nochmal: Das Klimaproblem ist kein ausschließlich deutsches Problem – weder in der Entstehung noch in der Bekämpfung. Wir können nur beitragen und dies überwiegend in internationalen Bemühungen des Antreibens, des Helfens, der Innovation. Unser Beitrag in der Sache ist minimal und kann es auch nur sein. Die Balance zwischen wie sehr wir einerseits uns selbst unfähig zu diesen Beiträgen machen, indem wir unsere Wirtschaft übermäßig belasten, und andererseits wie sehr wir mit starken Hilfen und Entwicklungen globalen Einfluß ausüben können, muß zumindest berücksichtigt werden. Aber die Deutschen neigen stark zur auschließlichen Binnenbetrachtung.
Und schließlich: Sie haben offensichtlich Herrn Rezo recht unkritisch zugehört und freuen sich über seine flockige Lockerheit. Es ist aber deshalb keineswegs „Hetze“, wenn man seine Methode mit anderen Methoden vergleicht und zu dem Schluß kommt, daß sie vergleichbar sind. Rezo verkürzt und läßt weg; er argumentiert mit einem seiner politischen Zielsetzung untergeordneten Faktenkatalog; er ist in seiner Logik nicht konsequent (und hierzu habe ich ein konkretes Beispiel gebracht); er betrachtet in seinen Themenfeldern nur die Aspekte, die ihm ins Konzept passen, nicht die Gesamtproblemtaik.Er ist also ein Spiegelbild von Trump bezüglich seiner argumentativen Taktik. Das ist nicht Hetze sondern schlicht Fakt.
Seine Sie gegrüßt,
Abdreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Schwerdtfeger,
vielleicht kann ich etwas gegen Ihre Obsession tun, hinter jeder Ecke das Gespenst des Sozialismus zu vermuten.
Doch erst einmal zu einem Missverständnis. Ich bin natürlich nicht der Meinung, dass Deutschland durch aktive Klimapolitik die Welt retten könne. Mit meinem Beispiel, dass die Einsparung der CO2-Emission durch Beendigung der Braunkohleverstromung in Deutschland lediglich dem jährlichen Zuwachs an der Nutzung fossiler Brennstoffe in China entspricht, wollte ich das untermauern. Ich hatte mich schon gesorgt, als Defätist dazustehen. Ich wollte nur betonen, wie grundsätzlich und umfangreich die zu lösenden Probleme sind und dass mit ein paar flotten Wahlkampfparolen niemandem gedient ist. Selbstverständlich sollte Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass eine Energiewende technisch und sozial verträglich machbar ist.
Als bekennender Marktwirtschaftler stimmen Sie doch sicherlich zu, dass man ein Produkt nur erheblich verteuern bräuchte, wenn es keine Kunden mehr finden soll. Das hat selbstverständlich für fossile Brennstoffe zu gelten, wenn man der Radikalität des Klimaproblems Rechnung tragen will. Die Verteuerung muss allerdings global und zuverlässig sein (über der globalen Inflationsrate), damit sie das Konsumverhalten der Menschen nachhaltig beeinflusst (Flassbeck, http://www.makroskop.eu, 06.05.2019). Ein staatlicher Eingriff in das Preisgefüge ist dabei unumgänglich. Übrigens, die Diskussion über eine CO2-Steuer ist etwas seltsam, da mit dem Preis für den Brennstoff bereits die CO2-Emission bezahlt sein sollte.
Wie Sie richtig erkannt haben, ergibt sich daraus zwingend ein Umverteilungsproblem, denn die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala werden durch die Verteuerung fossiler Brennstoffe erheblich stärker belastet, z. B. durch höhere Treibstoff- und Lebensmittelpreise (Und der Oma wird der kostengünstige Mallorca-Flug verübelt, wie FDP-Politiker mit sozialem Gewissen unlängst bemerkt haben). Wenn man das Umverteilungsproblem nicht richtig würdigt, erlebt man eine Gelbwestenbewegung oder eben die AfD.
Seit ewigen Zeiten wird gegen Umverteilung Propaganda gemacht, indem man die Leute mit den „starken Schultern“ und die mit den „schwachen Schultern“ gegeneinander ausspielt. Es geht nicht um höhere Besteuerung der sogenannten Leistungsträger (Gewerbetreibende, Ärzte, Handwerker, Facharbeiter, Ingenieure etc.), wie immer versucht wird zu unterstellen. Haben Sie seinerzeit die Piketty-Debatte verfolgt? Sie hätten es tun sollen! Piketty, ganz und gar kein Sozialist, nicht einmal ein Keynesianer, weist akribisch nach, in welchem Ausmaß heutzutage wieder Einkommen leistungslos erworben wird, und zwar allein durch Besitz von Privatvermögen. Es geht also um das Anzapfen dieser großen Vermögen.
Auch auf die Gefahr hin, Sie jetzt zu überfordern: Eine erhöhte Staatsverschuldung wäre eine weitere Möglichkeit, sozialen Ausgleich zu finanzieren. Das durchzusetzen, ist wegen der jahrelangen marktliberalen Gehirnwäsche ein Problem. Einer der am wenigsten klugen Sprüche (ich bin ein höflicher Mensch!) unserer derzeitigen Bundeskanzlerin, war der von der „schwäbischen Hausfrau“. Es ist wahrscheinlich ganz schwer, wieder aus den Köpfen herauszubekommen, dass Staatsschulden mit privaten Schulden eben nicht vergleichbar sind. Ich denke schon, dass an dieser Stelle der polemische Begriff der Gehirnwäsche angebracht ist. Gibt es doch gute Sachargumente, die nichts, aber auch gar nichts mit Ideologie zu tun haben, dass im Prinzip, wenn Obacht auf Inflation gegeben wird, Staatsschulden kein Problem sind, wenn ein Land souverän über seine Währung bestimmt. Verfolgen Sie doch mal die z. Z. in den USA mächtig an Fahrt gewinnende Diskussion über die ‚Modern Monetary Theory‘! Das mit irgendeinem Sozialismus in Verbindung bringen zu wollen, ist m. E. ziemlich großer Quatsch.
Sie haben Angst, dass unser Wirtschaftssystem zusammenbricht? Wird nicht durch Umlenkung von Finanz- und damit von Kaufkraft in sozial schwache Schichten die Wirtschaft wegen der zu erwartenden erhöhten Nachfrage eher stabilisiert? Wie kommen ernsthafte Menschen dazu, über Helikoptergeld nachzudenken, also Geld einfach unter den Leuten verteilen, anstatt zu versuchen, eine Verschuldung der Wirtschaft und damit deren Investitionsverhalten über massive Geldspritzen der Zentralbank an die Privatbanken anzuregen? Ökonomik ist schon ein weites Feld, Herr Schwerdtfeger. Mit dem Sozialismus-Hammer sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Über eine qualifizierte Ökonomie-Diskussion würde ich mich allerdings immer sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Lerchner
PS: Ich wollte eigentlich noch etwas zu Ihren sachlich falschen und m. E. hetzerischen (betr. Trump-Vergleich) Einlassungen zum Rezo-Video schreiben. Ich belasse es bei zwei Links den Klimateil des Videos betreffend: https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/das-rezo-video-im-faktencheck/; https://www.volker-quaschning.de/artikel/2019-05_Stellungnahme-CDU/index.php.
Herrn Dr Lerchner muß und kann man nur ernstlich widersprechen:
– ebenso wie Rezo unterstellt er, daß Deutschland durch aktive Klimapolitik die Welt retten könne und also staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft und erhebliche Umverteilung gerechtfertigt seien. Und wer gegen solche Maßnahmen ist, der wird eben als ideologisch gesteuert und von kurzfristigen Profitinteressen motiviert abserviert;
– ebenso müsse auch im Verhältnis zwischen den reichen und armen Staaten umverteilt werden, um Gerechtigkeit herzustellen;
– und schließlich: wer anders denkt, unterliege halt einer marktradikalen Gehirnwäsche.
In Wirklichkeit – mal wieder – ist die Lage völlig anders:
1. Deutschland ist an der Klimaproblematik in allen ihren verschiedenen Aspekten nur zu einem äußerst geringen Prozentanteil beteiligt. Das heißt nicht, man müsse oder könne hierzulande nichts tun. Es heißt aber sehr wohl, daß Deutschands Beitrag zur Klimaverbesserung nur zu einem geringen Anteil aus Binnenmaßnahmen bestehen und zu einem erheblich größeren in seinen internationalen und multilateralen Bemühungen liegen muß. Dies ist in der deutschen Politik erkennbar.
2. Umverteilung bedeutet, daß es etwas umzuverteilen gibt – sowohl in der Binnenpolitik als auch in der Außenpolitik. Die sogenannte marktwirtschaftliche Radikalität, die Herr Lerchner beklagt, hat ohne Zweifel ihre Auswüchse, die es zu begrenzen gilt. Sie durch Umverteilung – nichts anderes als Kostensteigerung und dann Ausgleich durch Belastung der sogenannten „starken Schultern“ – bekämpfen und aus diesem vermeintlich unerschöpflichen Topf dann alles zu bezahlen, was Ideologen so einfällt, ist eine unglaublich naive Vorstellung. In Wirklichkeit verdanken wir in Deutschland und die armen Länder der Welt schon die bisherige Umverteilung eben diesen starken Schultern, sowohl individuell als auch systemimmanent. Das System durch sozialistische Ideologie so lange zu belasten, bis es zusammenbricht, ist eine größere und realistischere Gefahr, als die jetzt existierende, die darin besteht, daß einige wenige mit dem System nicht zurechtkommen und abgehängt werden.
Die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der politischen Diskussion gebietet, daß man auf alle seine Argumente die gleiche Logik anwendet. Rezo zB beklagt in seinem Klimakapitel vehement, daß die CDU und SPD ihre gegebenen Versprechen nicht einhalte; es gehe doch schließlich nicht um gute Vorsätze à la Jahresanfang, sondern um seriöse Versprechen und Verpflichtungen, die man eingegangen sei. Ich freue mich also, eine Übereinstimmung mit Rezo festzustellen, denn seine Logik macht ihn zu einem glühenden Befürworter des 2%-Ziels in der Verteidigung – ein Versprechen, das die Regierung Schröder/Fischer 2003 in Prag gemacht hat. (Es gibt im Rezo-Vortrag noch viele andere solche Widersprüche).
Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft ist kein sozialistisches Versprechen der Umverteilung; es ist schon gar keine Gehirnwäsche. Es ist entsprechend dem Geiste useres Grundgesetzes ein Versprechen, das an Bedingungen gebunden ist – an die Bedingung zB, daß man selbst in erster Linie seines Glückes Schmied ist. Was sozialistische Politik bewirkt, zeigt das Beispiel Bremen (seit 70 Jaren links regiert), wo die Kinderarmut (lt DLF heute) doppelt so hoch ist wie in Sachsen.
Jetzt kommt also die Klimasteuer. Fest steht, bevor sie kommt: Sie wird keinen Deut zur Klimaverbesserung beitragen; sie wird Energie und Mobilität weiter verteuern und damit bestimmte Menschen in die Bredouille bringen; und sie wird dann in der Tat eine neue Runde der Umverteilung begründen, die die staatlichen und damit gesellschaftlichen Kassen belastet und Mittel anderen wirklich wichtigen Investiv-Zielen zugunsten der konsumptiven Verbrennung entzieht.
Also, lieber Herr Lerchner – lassen Sie sich lieber was Konstruktives einfallen.
Macht aber alles nichts: Heute reisen 70 000 Menschen (diesmal wohl überwiegend Engländer, in anders gelagerten Fällen wären es Deutsche) zum Fußball nach Madrid. Klima? Unwichtig!
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger
Wer hat, wenn er die augenblickliche politische Diskussion verfolgt, das Rezo-Video nicht gesehen?
Und wen würde Rezo nicht überzeugen, der sowieso, wie Sie, lieber Herr Wolff, schon so denkt?
Das Positive vorweg:
* Rezo ist engagiert und informiert. Daß er sich in einer auch von Ihnen eher als geschmacklos empfundenen Sprache ausdrückt, ist weitgehend generationstypisch und zeigt, daß die Menschenwürde zwar von außen – durch andere Menschen oder den Staat – unantastbar ist, daß aber ein Mensch selbst seine eigene Würde schon beschädigen kann, wie es ja auch die vielen Christopher-Street-Paraden und ähnliche Events verdeutlichen.
* Rezo hat am Ende seines Videos im „Fazit“ einen eindringlichen Appell an seine Generation geäußert, das Gespräch mit den „Alten“ – Eltern und Großeltern – zu suchen und ihnen zu verdeutlichen, daß es sich um ihre Welt, ihre Zukunft handelt und man sie deshalb inhaltlich ernst nehmen sollte. Dies ist ein Appell, den man nur unterstützen kann.
Ansonsten aber ist das Video, nüchtern betrachtet (und das sollte man in der Politik wohl tun), absolut nichts Neues. Rezo beschreibt in seinen sechs Themenkreisen die bekannten Probleme; wer einigermaßen informiert ist, erkennt keinen einzigen neuen Fakt, er erkennt auch keine wirklich neue Argumentationslinie und schon gar keine Ansätze zu disziplinübergreifenden Lösungen. Er erkennt aber auch, daß Rezo ein meisterhafter Manipulator ist – insofern ist die politisch sicherlich ungeschickte Reaktion von AKK sachlich völligt gerechtfertigt –, dessen Taktik darin besteht,
– überall nur die Fakten zu erwähnen, die seine Thesen stützen und alles andere wegzulassen,
– Zitate so zu verkürzen und aus Zusammenhängen zu reissen, daß die Zitierten eher dumm dastehen,
– seinen einseitig ausgewählten Fakten die gängige, populistische Interpretation der Öffentlichkeit anzuhängen, die einfach aber gerade deshalb eben auch falsch ist (dies trifft auf Teile seines Klimakapitels, auf grosse Teile seines Kriegskapitels und auf Teile seines Wirtschaftskapitels zu).
Insgesamt fällt besonders auf: Rezo und Trump unterscheiden sich stark bezüglich ihrer Meinungen; bezüglich ihrer Argumentationstaktik ähneln sie sich wie Zwillinge. Und diese Erkenntnis gipfelt dann in Rezos ebenso selbstbewussten wie entlarvenden Statement am Schluß, daß es eben nur „EINE legitime Einstellung“ gebe – seine! Wer in der Demokratie eine solche Haltung vertritt zeigt, wes Geistes Kind er ist. Denn die Demokratie lebt von der allseits akzeptierten „Pluralität der Wahrheiten“ (Stefan Weinfurter).
Inhaltlich also ist Rezo nichts wirklich wichtiges. Das Video zeigt allerdings die Möglichkeit zur Beeinflussung und Manipulation ganzer Bevölkerungs- und Medienschichten sowie den Opportunismus einiger Politiker, die es für sich ausschlachten wollen (ohne zu bedenken, daß es das nächste Mal ja sie selbst betreffen könnte). Mit großen Bedenken stellt man fest, wie aktiv die AfD im Netz und in den social media ist – und kritisiert das zu Recht. Rezo und seine youtube-Kollegen tun das gleiche – es erschließt sich nicht, warum es da anders sein sollte. Die Freiheit der eigenen Meinung und auch deren Verbreitung ist ein unveräußerliches Recht, das auch in seinen Grenzbereichen kaum definierbar und juristisch greifbar sein darf. Um so wichtiger ist es, daß die Menschen die Manipulation, die Einseitigkeit, den Mix aus Teilfakten und populistischer Meinungsmache erkennen – und sich auch darüber ein Urteil bilden.
Mit freundlichem Gruß,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Wolff,
angeregt durch Ihren Beitrag habe auch ich mir das mittlerweile berühmte Rezo-Video angeschaut, obwohl ich es eigentlich nicht vorhatte. Es ist tatsächlich bemerkenswert. Da schafft es doch dieser junge Mann, locker, flockig und aber auch kompetent Fakten unter ein Millionenpublikum zu bringen, die man sich ansonsten mehr oder weniger mühevoll auf Internetseiten wie Makroskop, Telepolis, Rubikon oder den Nachdenkseiten zusammensammeln muss. Dass sich so einfach die von BILD, ZEIT und FAZ errichtete Propagandamauer durchbrechen lässt, scheint aber manche zu beunruhigen, wie die Spontanreaktion von Frau Kramp-Karrenbauer gezeigt hat.
Sicherlich ist es gut, dass das Engagement junger Youtuber oder das von FridaysForFuture den Druck auf die politischen Akteure verstärkt. Die Gefahr, dass lediglich emotionale Betroffenheit übrigbleibt, ist allerdings groß, wenn die politische Diskussion über die erforderlichen Änderungen in der Klima-, Sozial- und Sicherheitspolitik nicht erheblich an Tiefgang gewinnt. Insofern tun sich mit den genannten Aktivitäten noch keine politischen Alternativen auf, wie Sie schreiben, noch halte ich es für realistisch, von dem derzeit verfügbaren politischen Personal aktuell Regierungsentscheidungen zu erwarten, die der Komplexität der Probleme gerecht werden.
Bleiben wir bei der Klimapolitik. Selbst der mühevoll ausgehandelte Kohleausstieg bleibt Augenwischerei und Symbolpolitik, wenn es nicht gelingt, global die Preise für fossile Brennstoffe massiv zu erhöhen (Dem in Folge des Kohleausstiegs zu kompensierenden 200 Terrawattstunden (TWh) Stromerzeugung steht allein in China ein jährlicher Anstieg der auf fossilen Brennstoffen beruhenden Stromproduktion von mehr als 300 TWh gegenüber). Nur bei einer stetigen, die globale Inflationsrate deutlich übersteigenden Verteuerung der fossilen Brennstoffe ist eine langfristige, klimakompatible Änderung unserer Lebensgewohnheiten vorstellbar. Dass das nur mit starken staatlichen Eingriffen in die Marktwirtschaft einhergehen kann, ist klar und wird von manchen aus ideologischen Gründen oder wegen kurzfristiger Profitinteressen nicht so leicht zu akzeptieren sein (siehe z. B. den Widerstand der Wirtschaftslobbyisten in CDU und FDP gegen eine CO2-Steuer). Da die unteren Einkommensschichten einen Großteil der Anpassungslast zu tragen haben und wir in einer Demokratie leben, bedarf es einer umfangreichen staatlichen Umverteilungspolitik, die ohne Heranziehung der großen Vermögen finanziell kaum machbar sein wird. Eine Umverteilung in großem Maßstab ist auch gegenüber den Entwicklungsländern ist nötig, wenn man deren heutiger Jugend Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Und das soll mit Scholz, Schulz, Maas, Kahrs und Nahles machbar sein? Es ist sicherlich nicht der mangelnde gute Wille oder die Farblosigkeit der genannten Akteure. Jahrzehntelange marktradikale Gehirnwäsche hat das intellektuelle Potential der SPD zusammenschrumpfen lassen und zur politischen Verzwergung dieser Partei geführt. Nicht zuletzt die niveaulos geführte Kühnert-Debatte über Wirtschaftsdemokratie (Wer solche grundlegenden Diskussionen anzettelt, sollte aus der SPD entfernt werden, meinte Herr Kahrs) hat gezeigt, dass es mit Blick auf die SPD für Optimismus keinen Grund gibt. Leider!
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Lerchner
Lieber Herr Lerchner, vielen Dank für die Ergänzungen. Was die SPD angeht, ist es mE noch dramatischer: es fehlen nicht nur die Personen, die eine gute Politik verkörpern, es fehlt vor allem die zündende, Menschen begeisternde Vision oder Grundidee, in die ich konkrete sozialpolitische Vorhaben einbetten kann. Beste Grüße Christian Wolff
@ Dr. Martin Schubert
„Die Antwort, die die SPD damit auf die drängenden Zukunftsfragen der jungen Generation gibt, ist eindeutig: „Uns doch egal!““
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Diese Haltung wird von der SPD nicht konsequent genug vertreten. Das macht die AfD und findet deshalb im Osten so viel Zuspruch. Immerhin verbesserten die Grünen auch im Osten ihre Wahlergebnisse erheblich. Sie profitieren von ihrer Oppositionsrolle. Wären sie eione Jamaica-Koalition eingegangen, hätten auch sie viele Kompromisse machen müssen, was Wählerstimmen gekostet hätte.
Auch ich habe das Video komplett gesehen und möchte Ihnen daher beipflichten. Wirft man einen Blick in die Medien, stellt man fest, dass Viele lieber die Unionsantworten kolportieren, statt sich selbst ein Bild zu machen.
Bei den Umweltministern gehe ich nur halb mit. Hendricks und Schulze haben eine gute Arbeit gemacht. Nein – wollten eine gute Arbeit machen, wurden/werden aber brutal ausgebremst. Vom Koalitionspartner wie von der eigenen Partei.
Solange die Arbeitnehmer in Automobilindustrie und Kohleverstromung (via Gewerkschaften) die Umweltpolitik der SPD (und der Gewerkschaften) bestimmen, wird die SPD weiter niedergehen. Sollen Sie sich doch gleich auf die Plakate schreiben: „Wir wollen lieber Arbeiten statt Atmen!“. So zögert die SPD einen Strukturwandel in die Länge, der am Ende schmerzlicher (weil schneller) sein wird.
Die Antwort, die die SPD damit auf die drängenden Zukunftsfragen der jungen Generation gibt, ist eindeutig: „Uns doch egal!“.
Wie soll die alte Dame bloß aus diesem Dilemma kommen?