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Erneuerung sieht anders aus – zum ZEIT-Interview mit Kevin Kühnert

Ein Interview mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 19 vom 2. Mai 2019, Seite 8) sorgt für Furore. Weniger, weil das Interview auf hohen Niveau geführt wird oder programmatisch besonders inhaltsreich ist. Es sind die Reizworte, die fallen und auf die sich eine mediale und politische Meute gierig stürzt: Sozialismus, Kollektivierung, Eigentumsbeschränkung – eben Kapitalismuskritik pur. Als ob man auf die Brocken aus dem Mund eines Sozialdemokraten gewartet hätte, wird sofort polemisch geunkt: „Wie viel DDR steckt in der SPD?“ (BILD Zeitung). AKK beeilt sich, für die anstehenden Europawahlen den alten Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ wieder aufleben zu lassen. Die aufgeblasene Aufgeregtheit der Scheuers und Kahrs ist mehr als aufgesetzt. Da scheinen etliche Koalitionäre froh darüber zu sein, um Papiertiger streiten zu können, anstatt über anstehende Entscheidungen in Sachen Klimaschutz zu diskutieren. Denn nach der Kühnertschen Steilvorlage können sich SPD und CDU in den nächsten Wochen an Worthülsen abarbeiten. Statt über die anstehende CO² Steuer debattieren wir jetzt darüber, ob BMW enteignet, vergesellschaftet, kollektiviert werden, und wer in Zukunft über die notwendige Mobilitätswende das Sagen haben soll. Etwa die Beschäftigten bei BMW, Mercedes oder VW? Sollen die Arbeitnehmer/innen in den Rüstungsbetrieben entscheiden, was produziert werden, und wie Rüstungskonversion aussehen soll? Und wie steht es um den Kohleausstieg? Soll dieser nun in die Hände der Beschäftigten von RWE, LEAG, MIBRAG gelegt werden? Wie soll das Verhältnis zwischen den Kollektiven und den Entscheidungen auf der politischen Ebene, also in den demokratischen Gremien, aussehen? Allein diese Fragen zeigen, wie oberflächlich die Antworten sind, die Kevin Kühnert auf Fragen gibt, die sich in der gleichen Oberflächlichkeit bewegen: „Wenn Sie eine Million erben würden, würden Sie dann … die Million spenden?“ Diese Frage bewegt sich auf dem Niveau früherer Verhandlungen über Kriegsdienstverweigerung, wo man den Pazifisten mit der Notwehr-Frage in die Ecke zu drängen versuchte: Was machen Sie, wenn Ihre Freundin mit dem Messer bedroht wird?

Doch das, was uns derzeit vor allem bewegen müsste, wie wir die Klimaschutzmaßnahmen politisch, ökonomisch, sozial gestalten und in einer kurzen Frist beschließen und umsetzen können, das kommt in dem Interview mit keinem Wort vor – weder bei den Fragestellern noch bei Kevin Kühnert. Doch wer heute über Sozialismus redet und den Kapitalismus kritisiert, ohne auch nur mit einem Satz die ökologischen Herausforderungen in der Energiepolitik, in der Mobilität, beim Wohnungsbau zu benennen oder sie wenigstens zu streifen, der diskutiert nicht nur an der Wirklichkeit, sondern vor allem an der Zukunft vorbei. Letztlich setzt Kühnert den fatalen Fehler der Sozialdemokratie fort, die Ökologie den sozialen Erfordernissen unterzuordnen. Das war schon Ende 70er Jahre der große Trugschluss der SPD. Diesen Grundfehler hat Sigmar Gabriel kürzlich wiederholt, als er meinte, „Umwelt- und Klimapolitik waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt von Industriearbeitsplätzen.“ Es ist diese Haltung, die eine Umweltministerin Svenja Schulze hilflos agieren und vereinsamen, aber vor allem die Sozialdemokratie alt aussehen lässt. Dabei wäre es Sache der SPD und eines demokratischen Sozialisten, genau auf diese Fragen Antworten zu geben. Das aber geschieht nicht. So erinnert mich das ZEIT-Interview an Kevin Kühnerts Einlassungen zum Karfreitag. Da war für ihn besonders wichtig, die Aufhebung des Tanzverbotes zu fordern – ein wahrhaft fundamental sozialdemokratisches Anliegen. Dafür kein Wort dazu, dass auch am diesjährigen Karfreitag „FridaysForFuture“ sich dafür eingesetzt hat, den Tanz auf dem Vulkan des Klimawandels zu beenden.

So löst das ZEIT-Interview bei mir ein mulmiges Gefühl aus. Selbst diejenigen, die die Erneuerung der SPD verkörpern wollen, bleiben in alten Denkmustern gefangen und gehen viel zu wenig auf das ein, was jetzt dran ist: die dringend erforderliche Beseitigung von sozialen Verwerfungen in unserer Gesellschaft in Gang zu setzen, durch Gesetze den Raubcharakter kapitalistischer Umtriebe einzudämmen, den städtischen Wohnungsbau zu verbinden mit Mobilitätsinitiativen abseits des Autos und Klimaschutzmaßnahmen zu beschließen, die die beiden ersten Erfordernisse befördern. Ob das dann noch Sozialismus heißt, ist unerheblich. Wichtig ist, dass wir die Rahmenbedingungen, die die Verfassung der Politik ermöglicht, ausnutzen, um die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt, also die gerechte Teilhabe an Arbeit, Einkommen, Bildung, Wohnen, zu stärken.

Nachtrag: Auf die erste Interviewfrage, was er denn unter einem „Sozialisten“ verstehen würde, antwortet Kühnert: „Das ist erst einmal ein Nichteinverständnis mit der Wirtschafts- und teilweise auch mit der Gesellschaftsordnung.“ Merkwürdig, dass Kühnert hier nicht sofort darauf insistiert, dass für Sozialdemokraten Sozialismus nur als demokratischer verstanden werden kann – also als eine Möglichkeit, die die Gesellschaftsordnung, deren Rahmenbedingungen durch die Grundwerte der Verfassung markiert sind, zulässt. Insofern steht der demokratische Sozialismus nicht im Gegensatz zur Gesellschaftsordnung, sondern kann sich immer auf das Grundgesetz berufen. „Demokratischen Sozialismus verstehen wir als die dauernde Aufgabe, Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. Dies und die Solidarität sind der geistig, politische Boden, auf dem allein die Sozialdemokratie gedeihen kann.“ (Willy Brandt)

8 Antworten

  1. Dank der „neuen Medien“ lässt sich jeder „Gedankenfurz“ zu einem riesigen Luftballon aufblasen. Das zeigt wo u.a. anderem „der Hund begraben liegt“. In einer unzureichenden Ausbildung im Umgang mit Smartphone und Co. Da fällt mir der Witz von Radio Eriwan ein, der die Frage beinhaltete: Warum stehen Computer in geschlossenen Räumen? Die Antwort lautete treffend und eindeutig: Weil Glücksspiel im Freien untersagt ist. Dazu fällt mir auch ein: Herr schmeiß Hirn herab; aber bitte fein püriert, damit die Hohlköpfe keine „Dellen“ bekommen. Ironie-off!

  2. Mit diesen Reaktionen, wie dargestellt hier und in den seriösen Medien nicht minder kritisiert, offenbart sich erschreckend die Würdelosigkeit der Kühnert-Gegner, auch aus den Reihen der SPD. Beschimpfungen und niveaulose Angriffe deuten unüberhörbar auf bedenkliche Argumentationsschwäche und Alternativlosigkeit in der Sache hin. Bevor man losbrüllt, sollte man nachdenken.
    Bereits in div. Brandt-Reden findet sich der Terminus „demokratischer Sozialismus“ und damit eine grundsätzliche Kapitalismuskritik. Und es erhebt sich mehr und mehr die Frage, ob Demokratie und Kapitalismus überhaupt das Modell sei, was uns vorwärts bringt. Die zunehmend aufbrechenden Gesellschaftsdebatten und vor allem die aufbrüllenden Tendenzen, diese schon sehr gefährdete „soziale Marktwirtschaft…“ auszuheben mit dumpfen Sprüchen zeigen auf, dass es durchaus höchste Zeit wäre, mit Vernunft (Ratio) und Würde die unleugbar angehäuften Probleme endlich, endlich mal anzugehen. Mit Diffamierungen, elendig verkommenen Anwürfen und kurzatmigen, allein derzeitigen Wahlschlachten dienenden trumpartigen Reflexen ist wahrlich kein Staat zu machen. Und es zeigt erneut auf, wie ohnmächtig einige im Politapparat nicht etwa agieren (was dringend wäre!), sondern nur noch heftig abreagieren. An diesem aktuellen Beispiel politischer Unwürdigkeit wird trefflich aufgezeigt, wie ganz anders, intelligent und sympathisch die nachfolgende Generation freitags ihre Ansichten zu den Gegenwärtigkeiten artikulieren. In diesem Sinne einen guten Sonntag – Jo.Flade

    1. Das zeugt nicht gerade von politischem Tiefgang, die Wahlentscheidung von der Meinungsäußerung eines SPD-Mitgliedes abhängig zu machen. Die Betriebsräte müssen sich eher fragen lassen, was sie dazu beitragen, dass die sozialen Schieflagen in unserer Gesellschaft überwunden werden, Klimaschutz endlich tatkräftig angegangen und die Mobilitätswende eingeleitet wird. Doch noch viel Wichtiger ist, dass Betriebsräte und Gewerkschaften den Mangel an politischer Bildung und in seiner Folge das Erstarken des Rechtsnationalismus als Herausforderung annehmen und hier sehr viel aktiver werden als in der Vergangenheit. Beste Grüße Christian Wolff

    2. Oh je, die anderen können sie aber auch nicht wählen! Von 2010 bis 2016 sind 100.000 Arbeitsplätze in der Photovoltaik aufgrund schwarz-gelber Politik gestrichen worden. Erneuerbare kommen halt nicht als goldglänzendes Kalb daher, weshalb sie sich leichter schlachten lassen.

    3. Die beiden genannten „Medien“ sind nicht gerade für seriösen Journalismus bekannt. Das grenzt schon eher an intressen- geleitete Indoktrination.Schon in meiner Jugendzeit wurde davon abgeraten, die Bildzeitung senkrecht zu halten, damit das Blut nicht heraus laufen kann. Verantwortungsvolle Betriebsräte sollten das eigentlich wissen.

  3. Die Aussagen Kühnerts teile ich auch nicht und finde Vieles des von ihm Gesagten grundfalsch. Aber ich bin entsetzt und genervt von der Heftigkeit der Reaktionen: „Trump-Methoden“, „DDR-Verharmloser“ etc. Die nicht enden willende Heftigkeit der Reaktionen hinterlässt bei mir den Eindruck einer altersbedingten Überheblichkeit. Den Vogel hat Hans-Peter Friedrich abgeschossen, immerhin Vizepräsident des Bundestages: „Warum regen sich alle auf? Wenn einer nichts gelernt hat, nichts kann und nichts arbeiten will, dann muss er doch für Enteignung sein, wenn er zu etwas kommen will.“
    Kann man Kühnert nicht einfach mit Argumenten widerlegen statt dermaßen blind auf ihn einzudreschen?

    1. Hm. Ausgerechnet Hans-Peter Friedrich. Ich finde in seiner Vita nichts, was irgendwie auf Arbeit in marktwirtschaftlichen Unternehmen hinweist. Mehrfach studiert – man meint fast, er hätte sich nicht aus der Uni getraut -, bevor er dann direkt in den Beamtenstatus wechselt. Das ist ja alles nicht verwerflich, aber es mag ihm jemand sagen, dass er seine Karriere ausschließlich und durchgängig den Steuerzahlungen der Allgemeinheit verdankt – also dem Eigentum und der Arbeit anderer.

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