Der 23. Mai 2019 ist ein Feiertag der besonderen Art: Vor 70 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Leider war in den vergangenen Jahrzehnten der Geburtstag unserer Verfassung kaum einer Erwähnung wert, geschweige denn, dass das Ereignis von den Bürgerinnen und Bürgern gefeiert wurde. Zwar hat sich das in diesem Jahr geändert. Doch selbst die SPD, am gleichen Tag vor 156 Jahren in Leipzig gegründet, hat es bis jetzt nicht vermocht, die beiden bedeutenden Ereignisse miteinander zu verbinden. Leider ist der frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und ehemalige Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006) 1990 mit der Initiative gescheitert, den 23. Mai zum Tag der Deutschen Einheit zu erklären. „Dummerweise“ ist dies auch der Gründungstag der SPD. Dabei ist das Grundgesetz ohne die Geschichte der Sozialdemokratie und ihren Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit nicht vorstellbar – ausgehend von der 1848er Revolution über die Weimarer Verfassung 1919 bis zu den Entwürfen für einen sozialen Rechtsstaat, die Sozialdemokraten während der Nazizeit im Exil entwickelten. Auf Carlo Schmid geht die Präambel und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3) zurück, Elisabeth Selbert setzte mit Art. 3 Abs. 2 GG die Gleichberechtigung von Mann und Frau durch. Mit dem Grundgesetz sollten Demokratie, Menschenrechte und Deutschland als sozialer Bundestaat fest verankert werden. Im Grundgesetz geht es nicht nur um das deutsche Volk, sondern um die Menschen, die in aller Vielfalt in Deutschland leben und die mit Deutschland das Leben auf dieser Erde teilen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so Artikel 1. In der Präambel heißt es, dass sich das deutsche Volk das Grundgesetz „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ gegeben hat. Europa ist eben nicht ein beliebiges politisches Ziel, das wir auch sein lassen können – wie die Rechtsnationalisten von AfD es propagieren. Das vereinte Europa ist Verfassungsziel! Die Bestrebungen der Rechtsnationalisten, das EU-Parlament aufzulösen und den Dexit zu betreiben, sind verfassungswidrig.
In Westdeutschland wurde durch die ‘68er Bewegung die gerade 20 Jahre alte Demokratie einem notwendigen Erneuerungsprozess unterzogen. Der damalige Bundesjustizminister und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) hielt wenige Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 14. April 1968 eine unvergessene Fernsehansprache: „Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum ersten Mal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen volle Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt.“ Das gilt auch im vereinten Deutschland. Die Demokratie lebt von Beteiligung jedes Einzelnen, vom Wechselspiel der Kontroverse, des Streites und der Notwendigkeit des Kompromisses. Demgegenüber ist die Diktatur die rechtlose Willkürherrschaft derer, die kulturelle, religiöse, politische Vielfalt mit Gewalt ausschalten und jeden Einspruch als Bedrohung unterdrücken wollen. Beteiligung beschränkt sich in der Demokratie nicht auf Wahlen. Sie beinhaltet gerechte Teilhabe an Bildung, Arbeit, Einkommen. Doch kann Demokratie nicht automatisch soziale Gerechtigkeit erzeugen. Aber ohne demokratische Entscheidungsprozesse wird es sie nicht geben. Alle Versuche, den Menschen jenseits von Freiheit und Demokratie bessere soziale Lebensbedingungen und Sicherheit zu versprechen (wie das rechtsnationalistische Parteien zu tun pflegen) erweisen sich als gefährliche Täuschung. Wer Freiheit der Sicherheit opfert (und damit beginnt jede autoritäre Herrschaft), spielt mit dem Feuer. Zwar benötigt die Freiheit ein gewisses Maß an Sicherheit, aber Sicherheit kommt – wie die Geschichte und Gegenwart schmerzhaft lehren – ohne Freiheit aus.
Auch darum ist die im Grundgesetz festgeschriebene parlamentarische Demokratie eine Errungenschaft, deren Wert im Zusammenhang mit der politischen Gestaltungsaufgabe (Willensbildung) der demokratischen Parteien nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Präsidialsysteme bedienen beides: autokratische Sehnsüchte zu vieler Bürger/innen sowie den diktatorisch-absolutistischen Machtwillen einzelner. Sie höhlen auf Dauer den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, den Pluralismus aus. Der Parlamentarismus im Verein mit föderalen Strukturen schafft einen geregelten Ausgleich zwischen Kontinuität und Wechsel, verhindert die Etablierung von Machtgruppen, achtet die Minderheitsrechte und gewährleistet gesellschaftliche Vielfalt. Darüber hinaus ist das Grundgesetz darauf angewiesen und lebt davon, dass sich die Bürger/innen für Demokratie, Vielfalt und ein gerechtes Miteinander einsetzen und sich diese immer neu aneignen. Wie 1968 ist Letzteres jetzt unsere Aufgabe – gerade in Ostdeutschland. Das gilt es am 23. Mai zu bedenken und zu feiern – für Sozialdemokraten ein doppeltes Fest.
Leicht überarbeitete Fassung eines Artikels, der im Vorwärts 2/2019 unter der Überschrift „Der vergessene Feiertag“ erschienen ist (S. 25)
2 Antworten
Danke, lieber Christian Wolff ,die Fähigkeit etwas „auf den Punkt“ zu bekommen, ist Ihre Begabung
Wunderbar, lieber Herr Wolff, wie Sie das Grundgesetz zum Produkt sozialdemokratischen Geistes machen und selbst an einem Tag, der eigentlich einer der Gemeinsamkeit, des Zusammenführens sein sollte und könnte, Ihre Parteienideologie nicht lassen können. Richtig ist aber wohl, daß das GG eine großartige Gemeinschaftsleistung gewesen ist.
Heute ist Verfassungstag, der 70. Geburtstag des Grundgesetzes. Zeloten wie Sie nehmen das Grundgesetz sofort als Leistung der SPD in Anspruch und vereinnahmen es zu ihrer Interpretation unserer Demokratie und deren „Verfassungsaufträge“. Das ist eigentlich dieses großartigen Anfangs unserer Republik unwürdig. Das Grundgesetz ist der große Glücksfall der Deutschen in ihrer gesamten Geschichte und es ist die Grundlage für das außerordentlich glückliche Leben, das unsere Generation hierzulande führen durfte. Es bleibt seine Tragik, daß es aufgrund der Nachkriegsentwicklung in Deutschland den Menschen in der ehemaligen „DDR“ erst vierzig Jahre später zugute kommen konnte.
Als es geschrieben wurde, standen seine Autoren unter dem Eindruck des Krieges, der Niederlage, des Verbrechens, der unglücklichen Erfahrung des Verspielens eines ersten Demokratieversuchs in Deutschland durch Uneinigkeit, durch Rechthaberei und Kompromißlosigkeit, durch Aufsplitterung und Radikalismus, durch Populismus und Egoismus, schließlich auch durch Bereitschaft zur Gewalt. Die Aufsplitterung der Traditionspartei SPD und die dadurch verursachte Machtlosigkeit dieser Partei ist hierfür ein Zeichen, auch wenn sie die mutigste war im Widerstand gegen das Verbrechen.
Diese Erfahrung spiegelt sich wider in einigen Bestimmungen, insbesondere im Katalog der Rechte gleich im ersten Abschnitt, aber auch in Artikeln wie der Sperrklausel bei Wahlen, die eben einen „undemokratischen Sockel“ zugunsten grösserer Einigkeit in der Mitte und zur Erschwernis des Zugangs zur Macht für Extreme oder Randgruppen festlegt. Das Grundgesetz hat uns über siebzig Jahre den inneren Frieden und die soziale Stabilität gebracht, die Deutschland vorher noch nie in seiner Geschichte hatte und die es uns ermöglicht hat, wieder ein Teil der internationalen Gemeinschaft zu werden.
Es ist natürlich klar, daß andere Faktoren diesen Erfolg des GG befördert haben: Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, das den unvergleichlichen wirtschaftlichen Aufschwung unseres Landes ermöglichte; die Gründung der NATO, der Deutschland zwar erst 1955 beitrat, deren Schutz aber von Anfang an auch uns umfaßte – denn auch die NATO feierte ja in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag; die Einigung über die Montanunion, die über die Zeit zur EU führte. Es ist müßig zu spekulieren, ob diese Entwicklungen ohne GG oder der Erfolg des GG ohne diese anderen Faktoren möglich gewesen wäre. Fest steht, daß unser Grundgesetz ein Glücksfall ist.
Gerade deshalb muß man sich heute solche Sorgen machen. Denn unsere Gesellschaft und ihre führenden Repräsentanten wagen es kaum noch, den „Vertrag“, den es darstellt, auch in seinen BEIDEN Seiten zu beschreiben und einzufordern: Alles redet von den Rechten, jeder interpretiert diese zunehmend als Individualrecht ohne Schranken, jeder vor allem interpretiert sie ausschließlich in dem Sinne, der ihm persönlich ein Maximum an Vorteilen bringt. Daß der Vertrag des Grundgesetzes in seinem Geiste Rechte UND deren Begrenzung da enthält, wo eben die Rechte der anderen betroffen sind, wo die Wahrnehmung eines Rechtes durch einen das Recht des anderen einschränkt – das weiß jeder, aber man setzt sich all zu oft darüber hinweg. Einzig die ausdrückliche Einschränkung eines Rechts im Artikel 14 (2) GG – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – wird gerne und häufig zitiert und dient den zahlreichen Sozialisten als Knüppel gegen „die Reichen“.
Unser Grundgesetz verdient es, verteidigt zu werden. Dazu dürfen unsere Politiker, Medien, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeber und sonstige Eliten eben nicht nur seinen Freiheits- und Rechtekatalog unqualifiziert loben und betonen, so lobenswert er auch ist, sondern sie müssen die Menschen immer wieder darauf hinweisen, daß dieses Gesetz bei aller Verteidigung der Individualität der Menschen doch vor allem den Rahmen bieten soll und bietet dafür, daß die Menschen (Plural) in Frieden und gegenseitiger Achtung, in eigenen Entwicklungsmöglichkeiten bei gleichzeitigem und gleichrangigem Freiraum für alle anderen, in der Erwartung der Achtung durch Staat und andere Menschen ebenso wie in der eigenen Achtung anderer Menschen und auch des Staates und seiner Repräsentanten leben können. Die einseitige Betonung und Wahrnehmung der garantierten Rechte bei gleichzeitiger Mißachtung der Pflichten ist Aushöhlung des Grundgesetzes und derzeit die größte Gefahr für unseren Staat und seine Gesellschaft.
Mit herzlichem Gruß,
Andreas Schwerdtfeger