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Offener Angriff auf die Menschenrechte – und das am 23. Mai

Eigentlich hätte aufgrund der Erosion der Grundwerte unserer Verfassung in der politischen Diskussion und durch das Agieren der international vernetzten Rechtnationalisten der heutige 23. Mai – vor 76 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft – zu einem klaren Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie und zum Rechtsstaatsprinzip durch alle gesellschaftlichen und demokratischen Institutionen, Verbände, Vereine genutzt werden müssen. Doch stattdessen warten pünktlich zum Verfassungstag in Deutschland neun Länder der Europäischen Union mit einem „Offenen Brief“ auf – initiiert von den beiden Ministerpräsidentinnen Italiens und Dänemarks, Giorgia Meloni und Mette Frederiksen. In diesem wird „eine neue und offene Diskussion über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention“ gefordert. Offensichtlich waren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Auslöser für den „Offenen Brief“, dem sich Polen, Tschechien, Belgien, Österreich, Litauen, Lettland, Estland angeschlossen haben. So fordern die neun EU-Staaten, „einen Blick darauf zu werfen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt hat“. Die Kritik geht so weit, dass dem EuGH für Menschenrechte vorgeworfen wird, in einigen Fällen die Fähigkeit der Länder einzuschränken, „politische Entscheidungen in unseren eigenen Demokratien zu treffen“.

Man reibt sich verwundert die Augen: Folgen die Regierungschef:innen mit ihrer Einlassung nicht genau dem rechtsnationalistischen Narrativ, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung der politischen Opportunität zu unterwerfen? Oder wie der Vizepräsident der USA JD Vance es unverblümt zum Ausdruck gebracht hat: „Die Richter dürfen die legitime Macht der Exekutive nicht kontrollieren“, schrieb er im Februar 2025 auf X. Damit hat er die Gewaltenteilung und das Rechtsstaatsprinzip der amerikanischen Verfassung nicht nur infrage gestellt, sondern faktisch für beendet erklärt. Ist das beabsichtigt mit der Intervention von neuen Ländern? Möchten sich die neun EU-Länder der Mahnungen und Einsprüche unabhängiger Gerichte entledigen und damit die Menschenrechte der jeweiligen Opportunität unterwerfen?

Ja, Gerichtsentscheidungen können unangenehm sein. Man kann sie auch kritisieren und für falsch halten. Jede:r Bürger:in kann gegen Urteile in Revision gehen. Aber wenn höchstrichterliche Entscheidungen durch die Exekutive nicht mehr anerkannt werden, dann ist der Willkür und dem Recht des Stärkeren Tür und Tor geöffnet. Das gilt insbesondere dann, wenn es um die Menschenrechte, um Grundrechte eines Bürgers, einer Bürgerin geht. Von diesen Rechten darf kein Mensch, und sei es ein Straftäter oder ein Geflüchteter, ausgeschlossen werden. Es ist absehbar, was geschieht, wenn die Grundeinstellung, die in dem „Offenen Brief“ zum Ausdruck kommt, im politischen Alltag beherrschend wird. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis die Gültigkeit von Artikel 1 des Grundgesetzes und die sich darauf berufende Rechtsprechung angezweifelt werden. Ob sich heute noch der neue Verfassungsminister Alexander Dobrindt, ob sich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier oder Bundeskanzler Friedrich Merz zu Wort melden? Nötig wäre es, aber leider nicht erwartbar – und das an einem Tag, der eigentlich für uns alle Anlass zum Feiern ist.

23 Antworten

  1. Gern gebe ich meine Haltung zu einem DLF-Interview weiter, betreffs Israel/Gaza, gerichtet an Herrn D. Müller des DLF:

    Sehr geehrter Herr D. Müller –

    Gern wiederhole ich mein dauerhaftes Kompliment an den DLF – ein Medium, ohne dass diese unsere Gesellschaft mit zunehmender Demokratie-Gefährdung kaum seriös, kompetent, sympathisch, komplex und unbeirrt wohl kaum umfassend informiert wäre!
    Das war der Introitus, jetzt zum Konkreten:
    Ihr Interview von heute Morgen mit dem Historiker M. Wolffsohn, was Sie in erstaunlicher Gefasstheit und trotz der unsäglichen Fragebeantwortungen durch Wolffsohn mit Ihrerseits gezügelt spürbarer Emotion – aufgrund des Gesagten (Wolffsohn) – souverän und kenntnisreichen Nachfragen führten.
    Nicht nur ich war erschüttert von den grundlegenden Haltungen des Interviewten. Und zudem es war erschreckend, dass er den Krieg per se bejahte, ja eben auch den des von den Hamas geführten gegen das Palästinenservolk, und er mit rhetorischer Akrobatik Ihren klaren Fragestellungen nicht sehr geschickt und partiell ziemlich arrogant Ihnen gegenüber höchst Fragwürdiges entgegenhielt und letztlich den Krieg als Lösung von Konflikten ohne Not befürwortete.
    Ich hörte mir Ihr Interview noch einmal an und die Fassungslosigkeit zu dieser Haltung eines Historikers, der arrogant vorgab, besser informiert zu sein als Sie (…) und das Sterben ziviler Bevölkerung (Palästinenser) als „normal“ und kriegsimmanent bezeichnete, wurde nicht gemildert, im Gegenteil.

    Kritik an der Regierung Netanyahus, ja unbedingt, aber (so Wolffsohn) das palästinensische Volk im Gazastreifen sei doch selbst schuld, wenn es sich nicht gegen Hamas wehrt…
    Mein Kopfschütteln und Entsetzen war kaum zu bremsen.
    Und Sie blieben erstaunlich gefasst – dies zeugte von journalistischer Kompetenz und Anstand!

    Brevi manu:
    Einerseits war dieses Ihr Interview mutig, denn Sie mussten ja wissen, wen Sie sich da als Interview-„Partner“ in die Sendung des DLF holten.
    Andererseits war es vielleicht nicht ohne Hintergrund, Herrn Wolffsohn zu Wort kommen zu lassen.
    Das brennende Thema: Israel / Gaza / Westjordan / Nahost / Staatenlösungen / Krieg / Frieden kann nicht oft genug thematisiert werden (das tut der DLF!).
    Und es müssen auch konträre Haltungen zu den Fakten möglich sein.
    Was Herr Wolffsohn heute lieferte – eine Katastrophe. Und vermutlich sind solche Denkvorgänge nicht solitär.
    Darf ich davon ausgehen, dass Sie mit Ihrem DLF-Team auch dieses Interview nachträglich reflektierten, mit Ihrem DLF-Team?
    Weder die Hamas noch Netanyahu und seine rechtsextremistischen Fundamentalisten sind an einer Friedenslösung interessiert. Und Netanyahu, seinem amerikanischen Förderer Trump folgend in der Ziellösung, Gaza zu Gunsten Israels zu okkupieren. Er lässt Leben vernichten, um sein politisches Überleben zu sichern – unfassbar!
    Übrigens nahm ich nachfolgend zur Kenntnis, dass viele Hörer dieses Interviews nicht weniger entsetzt waren!

    Dies musste ich Ihnen einfach mal schreiben und wünsche Ihnen weiterhin Beharrlichkeit und Engagement mit Ihrem und dem DLF-Journalismus.
    Bleiben Sie allesamt wohlauf! ADIEU – Jo.Flade/Elbhang

    Und an Herrn K. Hoellger: Auch ich kann Ihrem letzten Kommentar-Absatz (s.a. Wolff) voll zustimmen!

  2. 1. Es fällt auf, dass die deutschen Medien es zunehmend fertig bringen, bei Berichten über Israel/Gaza das Wort „Geiseln“ gar nicht mehr zu erwähnen, so zB „Bericht aus Berlin“ und „Berlin direkt“ am letzten Sonntag.
    2. Ich beglückwünsche Hoellger zu seiner Kenntnis über Rekrutenausbildung. Da hat er mir was voraus. Allerdings geht es hier auch nicht um Rekrutenausbildung, sondern um die politische Beendigung von Kriegen (und zwar nicht „bis zum nächsten Krieg“, sondern für Israel um endgültigen Frieden.
    3. Es ist gesichertes Wissen (nicht Annahme) in der Welt der mit Krieg befassten Wissenschaft, dass „Die Neuen Kriege“ (Herfried Münkler) insofern völkerrechtswidrig ablaufen, als Terroristen Schutzzonen missbrauchen, Zivilisten als Schutzschilde nehmen, humanitäre Hilfe zu sich selbst umleiten und die Medien erfolgreich für ihre eigene Propaganda einspannen (was diese leider auch zulassen und fördern). Der Gaza-Krieg ist keine Ausnahme.
    4. Man kann sicherlich über strafrechtliche Verfolgung von Diktatoren durch Gerichte diskutieren. Es ist mE jedoch nicht sinnvoll, internationale politische Friedensbemühungen zu blockieren, indem man durch solche Haftbefehle WÄHREND des Konfliktes diplomatische Lösungen unmöglich macht – insbesondere in einer Welt, in der ein solcher Haftbefehl teilweise unwirksam ist (für Putin zB in China, für Netanjahu in den USA).
    5. Und was die Wegnahme von Land angeht – Ihre Frage, Herr Hoellger, ist mehr als berechtigt. Aber lassen Sie uns doch nicht über die Beschreibung des Ist-Zustandes diskutieren, der in der Tat bedrückend ist, sondern – mein Schwerpunkt – über mögliche Lösungen:
    a. Jerusalem: Ich glaube nicht, dass der Staat Israel je wieder eine Teilung der Stadt hinnehmen wird. Die Forderung der Araber (und einer parteilichen UNO) ist unrealistisch.
    b. Westbank: Hier gibt es unter der 2-Staaten-Lösung drei Szenarien:
    – Israel räumt die Westbank und übergibt/zerstört die Siedlungen (ähnlich Gaza 2005).
    – Die Westbank wird Teil eines palästinensischen Staates und die Siedlungen (und deren Zugänge/Verbindungen untereinander) bleiben autonom bestehen.
    – Die Westbank wird palästinensisch und die Siedlungen werden Teil dieses Staates.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine dieser Lösung auch nur den Hauch einer Chance auf politische Realisierung hat.
    c. Gaza: Seit 2005 wird dieser Landstreifen von der UNO mit täglich Unmengen von Lkw versorgt; das Leben dort funktioniert nur, weil die UNO Schulen, Krankenhäuser und Versorgung sicherstellt. Dieser Zustand kann nicht ewig anhalten und er verletzt eigentlich auch die Menschenwürde der dort Lebenden, bietet ihnen keine Perspektive und perpetuirt sich also von selbst. Ihn wiederherzustellen erscheint wenig sinnvoll. Zudem ist ein zweigeteilter palästinensischer Staat eigentlich weder wirtschaftlich noch politisch existenzfähig und hinge weiterhin am UNO-Tropf.
    Die 2-Staaten-Lösung, deren strategisches Ziel ja die Entflechtung der Bevölkerungen und damit Kriegsgefahrminderung war, kann dieses Ziel nicht mehr sicherstellen. Es kommt hinzu, dass selbst eine solche geographische Entflechtung im Zeitalter des technischen Luftkrieges mit Billigraketen und Drohnen sowie mit Selbstmordattentätern den Terrorismus nicht verhindern würde.
    Das Wort „Vertreibung“ ist eine Totschlagvokabel. Ich bleibe dabei, dass das Angebot einer FREIWILLIGEN, durch Anreize unterstützten Umsiedlung der Bevölkerung des Gazastreifens (und der Westbank) zumindest eine Möglichkeit wäre, den Konflikt zu lösen, zu mindern, weniger gewalttätig zu machen. Böte man den Palästinensern den Umzug in eine Vielzahl von Ländern an, wo sie Unterkunft, Bildung, Arbeit und ein neues Leben bekämen – die Kosten wären wahrscheinlich nicht höher als der ewig erneute Wiederaufbau und die ewig andauernde Unterstützung – so wäre dies ein Ausweg, der jedenfalls den noch im Arbeitsalter befindlichen Menschen, vor allem aber der Jugend Perspektiven aufzeigten, die den Verlust des Landes und des Lebens in Gaza möglicherweise ausglichen. Und angesichts der gerade bei uns in DEU ja immer wieder betonten Menschlichkeit gegenüber Flüchtlingen, würde doch DEU gerne ein bestimmtes Kontingent anbieten wollen.
    Glauben Sie mir, Herr Hoellger, ich suche keinen Streit; ich will auch nicht Recht haben; mir geht es nicht um akademische Fragen (deren Sinn und Wert ich nicht bestreite) bezüglich des Rechtes und der internationalen Gerichtsbarkeit. Ich halte es aber nicht für ausreichend, die Lage nur zu beschreiben und mit mehr oder weniger Aggressivität („Schleimspur“, „ach so vernunftgesteuert“) zu beklagen, sondern suche nach Gestaltung der Zukunft auf der Basis des realpolitisch Möglichen in einer sehr unvollkommenen Welt.
    Dass ich dabei vielleicht – wie ich es meinen Gegnern vorwerfe –selbst auch im Wolkenkuckucksheim lebe, mag sein. Das ist ja auch so bei meinen Vorstellungen zur Europäischen Union oder zur dringend notwendigen Reform des internationalen Rechtes angesichts der Umwälzungen der Lage in den letzten Jahrzehnten. Aber es ist doch wenigstens der Versuch, auf der Basis der Realität Zukunft in größerem Frieden zu ermöglichen.
    Andreas Schwerdtfeger

    1. „Böte man den Palästinensern den Umzug in eine Vielzahl von Ländern an, wo sie Unterkunft, Bildung, Arbeit und ein neues Leben bekämen“
      ___________________________________________________________________________________________
      Welche Länder sollten das sein?

      „Rund die Hälfte der jordanischen Bevölkerung dürfte palästinensische Wurzeln haben.

      Generell, so sagen die Flüchtlinge aus Gaza, werden sie in Jordanien schlechter behandelt als diejenigen, die aus dem Westjordanland kommen.“ © DLF 14. 08. 2018 https://ogy.de/75we

    2. 1. Die bedauernswerten Geiseln spielen keine Rolle für die israelische Kriegsführung – das ist das Problem.
      2. Es geht nicht um die Kenntnis der Rekrutenausbildung, sondern um die Lerninhalte, die in einer dem Kriegsvölkerrecht verpflichteten Armee vermittelt werden. Die besagen, dass Zivilbevölkerung nicht zum Ziel von Kampfhandlungen gemacht werden darf. Diese Kenntnis ist es, die offenbar Wolffsohn, möglicherweise auch Sie, Herr Schwerdtfeger, gerade mal vergessen haben.
      3. Der Umstand, dass asymmetrische Kriege oder Elemente asymmetrischer Kriegsführung vorkommen (Guerilla, Partisanen), kann nicht der Rechtfertigung einer eigenen von vornherein asymmetrischen Kriegsführung dienen, wie es aber die IDF praktizieren mit Ausrichtung ihrer Kriegsführung an der Dahiya-Doktrin – der befohlenen Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Gegners und der Zufügung von Leid der Zivilbevölkerung mit, wörtlich, „unverhältnismäßiger Gewalt“.
      4. Zum richtigen Zeitpunkt der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechern: Die Nürnberg-Variante – Kapitulationsurkunden im Namen der Wehrmacht unterzeichnen zu lassen durch Jodl und Keitel, und dann diese „Vertragspartner“ aufhängen zu lassen – das überzeugt auch nicht.
      5. Wenn es nach Ihrer Ansicht (nicht allein nach Ihrer, Herr Schwerdtfeger,) einen palästinensischen Staat (Zweistaatenlösung) nicht geben kann, dann muss es einen Staat für Juden und Araber geben – aber ohne die Diskriminierung der Araber, wie im israelischen Nationalstaatsgesetz 2018. Zwangsläufig bedeutete das das Ende des „Staats der Juden“, der „Lebensversicherung“ für Juden in aller Welt. Deshalb wird an der Zweistaatenlösung festgehalten.
      Die dritte Möglichkeit, die die rechtsextremen Israelis anstreben, bedeutet Vertreibung der arabischen Palästinenser, was sonst? Stattdessen, schlagen Sie vor, Herr Schwerdtfeger, könnten Unterkunft, Ausbildung, Arbeit angeboten werden zum freiwilligen Weggang. In Israel, Gaza und der Westbank betrifft das über 6 Mill. Menschen. 6 Millionen – da war mal was . . . Wo, in welcher „Vielzahl von Ländern“, zerstreut in neuen Ghettos? Haben Sie schon an Dobrindt geschrieben? Europa zieht die Zugbrücken gerade hoch. Wo ist die Basis Ihres realpolitisch Möglichen? Eher liegen Sie richtig mit „Wolkenkuckucksheim“. Aber da Sie sind nicht der Einzige.
      Juden und Araber könnten friedlich zusammenleben an Ort und Stelle, in einem Staat, oder in zwei – wenn nicht die Saboteure auf beiden Seiten das verhinderten, seit 30 Jahren, seit der Ermordung Jitzchak Rabins ganz besonders die immer mehr werdenden Rechtsaußen-Israelis, an deren Seite das offizielle Deutschland bis vor kurzem in bedingungsloser Solidarität stand. Das geht uns an, da müssen wir ansetzen mit unserer Verantwortung für Israel.

      1. Vielen Dank, lieber Kurt Hoellger, für diese überzeugende Replik. Insbesondere der letzte Absatz findet meine volle Zustimmung – markiert er doch den Knack- und Ausgangspunkt einer sinnvollen und auf Zukunft ausgerichteten Politik im Nahen Osten.

  3. Täter-Opfer-Umkehr ist ein probates Mittel in diesem Blog bei unseren Ideologen, die sich die Welt zurecht biegen: Im Ukraine-Krieg zB sagt man (richtig!), Russland könne den Krieg sofort beenden, indem es sich aus der Ukraine zurückziehe – eine eher unwahrscheinliche Lösung. Aber richtig ist auch, dass Hamas den Krieg gegen seine eigene Bevölkerung sofort beenden könnte, wenn sie ohne Bedingungen die völkerrechtswidrig entführten und teilweise getöteten Geiseln sofort zurückgeben würden. Aber was nützt eine offensichtlich richtige und sachliche Argumentation – wie sie Wolffsohn also führt -, wenn man wie unser Pfarrer die offensichtlichen Fakten und von allen Beobachtern bestätigten Erkenntnisse einfach bezweifelt und sich die Welt im Sinne der eigenen Vorstellung und im Stile der augenblicklichen amerikanischen Administration schönredet: Was nicht ins Konzept passt, ist eben nicht.
    Dass Hamas – wie übrigens ALLE Terrororganisationen – sich hinter Zivilisten versteckt, ja sie bewusst als Schutzschilde missbraucht, dass Hamas humanitäre Hilfe zu den eigenen „Kämpfern“ umleitet (um sie bei der Stange zu halten), dass Hamas internationale Schutzzonen wie Krankenhäuser und Schulen zu Führungs- und Angriffszentralen „umwidmet“, dass schließlich Hamas Bilder vom Leide der eigenen Bevölkerung geradezu braucht und also provoziert, um weltweit genau die Propaganda führen zu können, auf die Wolff nur zu gerne hereinfällt, ist nicht nur offensichtlich, sondern bekannte und weltweite immer wieder bestätigte Strategie von Terrororganisationen. Wolffsohn und Steinberg waren sich neulich über diese Fakten in Phoenix-Unter-den-Linden darüber völlig einig – und da sprachen Experten -, wie auch Botschafter Prosor mit Recht auf die Zwangslage Israels immer wieder hinweist.
    Das Argument der Verhältnismäßigkeit ist gravierend; die Einordnung der israelischen Regierung als wenig kompromissbereit und rechtslastig ist nachvollziehbar; über die Westbank-Politik dieser Regierung lässt sich trefflich streiten (obwohl eben die Zwei-Staaten-Lösung längst tot ist und die Welt hier, wie auch in der Ukraine, das Problem verlängert, solange sie die Lageentwicklung nicht erkennt/akzeptiert und nur phantasielos den toten Esel prügelt. Aber trotz aller dieser Einschränkungen ist anzuerkennen, dass die israelische Regierung eigentlich keine Alternativen zur augenblicklichen Politik hat und dass es die umliegenden Terroristenorganisationen, insbesondere Hamas, sind, die für die Opfer verantwortlich sind. Verhältnismäßigkeit schließlich gilt auch für Hamas und man fragt sich, wie viele Palästinenser sie noch opfern will, um ihre Macht und ihr eigenes Überleben zu sichern.
    Zurück zum ISTGH: Es handelt sich hier um ein eminent politisches Gericht in dem Sinne, dass es „Politik“ unter rechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten hat und dabei auch über Politik in Nichtmitgliedstaaten und nach schwer definierbaren Kategorien entscheidet: Was ist und wann besteht „Genozid“? Wie sind Provokationen wie der 7. Oktober zu bewerten und langfristig als Kriegsgrund anzuerkennen? Welche Spielräume hat Politik, wenn einer der beiden Kontrahenten den anderen überhaupt nicht anerkennt und selbst NUR eine militärische Lösung, noch dazu aus der Zivilbevölkerung heraus, verfolgt? Die Liste lässt sich verlängern. Fest steht, dass die Verhängung von Haftbefehlen gegen Politiker, die man zur Herbeiführung eines Friedens braucht, stark politisiert ist und offensichtlich Lösungen erheblich erschwert – also kontraproduktiv ist. Ich halte dagegen, dass ein solches Gericht – ähnlich wie die UNO als Gesamtorganisation – derart auf der Grenze zwischen Recht und Politik angesiedelt ist, dass seine Entscheidungen sehr wohl dann angezweifelt werden dürfen, wenn diese politische Lösungen andauernder Konflikte erheblich erschweren und blockieren. Wie Wolff stelle ich also fest: „Genau diese Argumentation (nämlich, dass man den ISTGH nicht kritisieren darf) möchte ich sehr in Zweifel ziehen.“
    Und Herrn Plätzsch sage ich: Wie Israel „militärischen Nutzen“ definiert angesichts jahrzehntelangen Terrorismus‘ durch die Hamas und ihre Verbündeten, sollte man vielleicht Israel überlassen. Deutsche Arroganz und Moral sind hier vielleicht nicht angebracht. Da gefällt mir eine Formulierung, wie Merz sie gebraucht hat, besser.
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Darüber, dass die Hamas eine Terrororganisation ist und bei der Aggression gegen Israel die Taktik des Guerillakriegs anwendet, müssen wir nicht streiten. Was allerdings offensichtlich ist: dass in der Politik der Netanjahu-Regierung nicht zu erkennen ist, dass Israel an einer dauerhaften Friedensordnung im Nahen Osten inzeressiert ist. In dieser muss auch Platz sein für das palästinensiche Volk. Doch mangelt es der Netanjahu-Regierung nicht nur an jeder Perspektive – außer einer rein nationalistischen der rechtsradikalen Koalitionspartner. Die Netanjahu-Regierung lässt sich ihr Handeln von der Hamas diktieren. Jedenfalls ist das die These von Wolffsohn. Damit macht sie die Hamas stark. Mit einer wertebasierten Politik hat dies alles nichts zu tun, mit Moral schon gar nicht. Von daher schüttelt es mich, wenn ich die ach so „Vernunft gesteuerten“ Ausführungen des Herrn Schwerdtfeger lese.

    2. Art 51 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte:
      Verboten ist „…ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.“
      Dieser Völkerrechtsvorschrift ist Israel allerdings nicht beigetreten. In einem heutigen DLF-Interview beharrt Prof. Wolffsohn darauf, dass die Angriffe Israels im Gazastreifen auch die vielen zivilen Opfer rechtfertigen:
      „Im Krieg gibt es keine Relationen. Das ist eine naive Vorstellung.“
      https://ogy.de/bspb – ab Minute 7

    3. 1. Wolffsohn und Steinberg in „Unter den Linden“ am 19. Mai: Zusammen mit der Moderatorin Michaela Kolster waren es drei Technokraten, die es beim Thema „Fokus Israel – Neuordnung des Nahen Ostens“ fertig brachten, das Wort „Kriegsverbrechen“ 45 Minuten lang nicht in den Mund zu nehmen.
      2. Wolffsohn in der NZZ, 5. Mai: „Krieg und Verhältnismäßigkeit schließen sich strukturell aus.“ Im Dlf-Interview (siehe Plätzsch) heute behauptete Wolffsohn, er verstehe – anders als der Bundeskanzler – etwas von Kriegsführung. Der Meinung scheinen auch Sie, Herr Schwerdtfeger, zu sein – Israel wisse es besser. Jedoch kämen Sie mit Ihren Ansichten zum Kriegsvölkerrecht bei keinem Rekruten-Ausbilder der Bundeswehr durch.
      3. Schutzschild-Erzählung
      3.1 Die israelische Armee begründet ihre Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, Krankenhäuser, zivile Hilfskräfte zwar immer damit, dass sich Hamas-Kämpfer dort aufgehalten hätten – belegt es aber nicht. Folglich handelt es sich um Kriegsverbrechen.
      3.2 Associated Press am 24. Mai:
      „Ayman Abu Hamadan erklärte, er sei in Uniform und mit einer Kamera auf dem Kopf in Häuser in Gaza gezwungen worden, um nach Bomben und Bewaffneten zu suchen. Als eine israelische Einheit mit ihm fertig war, wurde er an eine andere übergeben. Sie schlugen mich und sagten mir: ‚Du hast keine andere Wahl; tu dies oder wir töten dich‘, beschrieb der 36-Jährige die zweieinhalb Wochen, in denen er letzten Sommer vom israelischen Militär im nördlichen Gazastreifen festgehalten wurde. Ein israelischer Offizier, der aus Angst vor Konsequenzen anonym sprach, erklärte, dass die Befehle oft von höherer Stelle kämen und dass viele Truppen Palästinenser zur Räumung von neuen Gebieten einsetzten. Danach sollen die israelischen Truppen im Gazastreifen routinemäßig Palästinenser als menschliche Schutzschilde nutzen und sie in Gebäude und Tunnel zwingen, um nach Sprengstoff oder Kämpfern zu suchen. Israel wies die Vorwürfe zurück und erklärte, dass es den Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde strikt verbiete und derzeit mehrere gemeldete Fälle untersuche.“
      Regelmäßig bleibt es aber nur bei der Ankündigung einer Untersuchung.
      4. In die „Zwangslage“ hat Israel sich selbst gebracht, und bringt es sich weiter – auch in der Westbank. Oder glauben Sie ernsthaft, Herr Schwerdtfeger, dass der Widerstand eines Volkes einfach aufhört, wenn man ihm sein Land wegnimmt?
      5. Netanjahu-Haftbefehl des IStGH: Alles, was angeblich gegen diesen Haftbefehl spricht, lässt sich auch gegen den IStGH-Haftbefehl gegen Putin anführen. Soll also ganz verzichtet werden auf die internationale strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern?

  4. Lieber Herr Wolff, liebe Mitdiskutierende,

    zunächst scheint es mir hilfreich, den Originaltext der neun Regierungschefs zur Kenntnis zu nehmen, den sie in Form eines offenen Briefes veröffentlicht haben. Für mich ist dieser Brief Ausdruck tiefer Sorge und Verantwortung gegenüber allen Menschen, die nach einer fairen Lösung eines bestehenden Problems suchen. Natürlich verfolgen die Verfasser ein politisches Ziel. Das ist legitim.

    Ich teile die Auffassung von Herrn Wolff, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht zur Disposition stehen darf und zu befolgen ist. Es gibt für mich keinen Anlass anzunehmen, dass die Verfasser des offenen Briefes die Missachtung von Gerichtsentscheidungen fordern. Vielmehr suchen sie nach Lösungen und fordern diese ein.

    Die Akzeptanz richterlicher Entscheidungen muss grundsätzlich gelten, uneingeschränkt z, B, auch für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag gelten – insbesondere hinsichtlich des Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu. Die Haltung von Friedrich Merz und anderen, einen „Ausweg“ aus dieser Verpflichtung zu suchen, ist aus meiner Sicht vollkommen inakzeptabel. Gleiches gilt für die despektierlichen Äußerungen von Professor Wolffsohn über den IStGH, die allein dem Zweck dienen, das Gericht zu delegitimieren, weil dessen Entscheidungen nicht den eigenen Interessen entsprechen.

    Aber auch bei Gerichten gibt es ggf. Verbesserungsbedarf. Wir sollten uns bewusst sein, dass der EGMR ein Spezialgericht des Europarats ist. Die Richterinnen und Richter werden von den derzeit 46 Mitgliedsstaaten benannt – auch von Staaten, die nicht zur EU gehören und zum Teil selbst kaum vom Thema Migration betroffen sind (etwa Russland bis 2022, Ukraine, Georgien, Vatikanstadt, Aserbaidschan u. a.). Auch die Türkei zählt dazu.

    Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Rechtsprechung, wie auch Alter und Dienstjahre (für 9 Jahre gewählt). Der EGMR schützt sowohl den Kernbereich der Menschenrechte als auch staatliche Sicherheitsinteressen – er wägt also durchaus ab. Ob ein Gericht nahe genug „am Ball“ ist, um praxistaugliche Vorschläge zu unterbreiten und Prinzipien zu fixieren , sollte man erhoffen. Vielleicht gibt es Verbesserungspotential. Die Aufgabe ist nicht banal, wenn man z. B. an Urteile im Zusammenhang mit Frontex denkt.

    Was genau aus Sicht der „neun Aufmüpfigen“ der Knackpunkt nun ist, bleibt bisher unklar. Dafür interessiert sich offenbar auch keiner. Die NGO´s gehen nur auf die Palme…

    Dabei ist Sachlichkeit gefragt.

    Für mich ist es wohl vor allem Aufgabe der Europäischen Kommission, einen rechtlich tragfähigen Weg zu finden, wie sich Menschenrechte und Sicherheitsinteressen in Einklang bringen lassen – ohne dabei die europäischen Institutionen zu zerstören oder deren Akzeptanz zu untergraben. Hoffen wir auf Unterstützung der Länder die ähnliche Probleme haben.

    Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ändern. Es scheint, dass die Kommission mit der angestrebten Externalisierung von Asylverfahren genau diesen Weg einschlägt:FAZ-Artikel zur Auslagerung von Asylverfahren:

    Diesen Weg halte ich für grundsätzlich sinnvoll und verfolgenswert.

    Zur Begründung: Betrachtet man etwa die Asylentscheidungen in Deutschland im Jahr 2024, erkennt man, dass von rund 300.000 Entscheidungen lediglich 12,5 % zu einer Anerkennung als Flüchtling führten (etwa 37.700 Fälle), davon wiederum nur rund 1.900 mit Asylstatus nach Artikel 16a GG. Knapp 260.000 Personen erhielten lediglich subsidiären Schutz oder wurden abgelehnt.
    (Von diesen Zahlen sind Geflüchtete aus der Ukraine ausgenommen.)

    Vor diesem Hintergrund halte ich es für legitim, die Frage zu stellen, ob die Durchführung der Asylverfahren in den jeweiligen europäischen Staaten – mit allen bekannten Konsequenzen – noch sinnvoll ist.

    Selbstverständlich kann man argumentieren, dass christliche Werte einer Externalisierung entgegenstehen und sich Fragen des Asyls nicht allein in Zahlen fassen lassen. Die EKD wie auch die Katholische Kirche vertreten einen universalistischen Ansatz und betonen, die Aufnahme von Schutzsuchenden in Europa sei alternativlos.

    Ich denke jedoch, dass die ethische Abwägung komplexer ist und durchaus zu anderen Ergebnissen führen kann. In diesem Zusammenhang sei auf Julian Nida-Rümelin verwiesen, der in seinem Werk „Über Grenzen denken – Eine Ethik der Migration“ weiterführende Argumente liefert.

    1. „Gleiches gilt für die despektierlichen Äußerungen von Professor Wolffsohn über den IStGH, die allein dem Zweck dienen, das Gericht zu delegitimieren, weil dessen Entscheidungen nicht den eigenen Interessen entsprechen.“
      _____________________________________________________________________________________
      Hier der Link zum „Focus“-Kommentar Wolffsohns unter der Überschrift „Heuchel-Orgie“: https://ogy.de/euw4

      1. Wolfssohn schreibt: „Richtig ist, dass zu viele palästinensische Zivilisten in diesem Krieg von, ja, Israel getötet wurden und werden. Richtig ist aber auch, dass eben diese Tatsache von der Hamas zu verantworten ist, denn: Die Hamas-Kämpfer sind völkerrechtwidrig (!) äußerlich nicht als Partisanen erkennbar. Scheinbar, also nicht wirklich, sind sie Zivilisten „wie du und ich“. Sie kämpfen aus zivilen Einrichtungen wie Krankenhäuser, Moscheen, Schulen und Kindergärten – und ziehen sich dorthin wieder zurück.“ Genau diese Argumentation möchte ich sehr in Zweifel ziehen. Israel als letztlich ferngesteuert durch die Hamas zu bezeichnen – das ist mehr als verwegen. Nein: die jetzige Kriegführung der Netanjahu-Regierung ist nur zu erklären aufgrund des einen Ziels dieser Regierung: keine Zwei-Staaten-Lösung, dafür Vertreibung der Palästinenser zunächst aus dem Gaza (mit tatkräftiger Unterstützung Trumps) und schrittweise Einnahme des Westjordanlandes durch die Siedlungspolitik. Dies festzustellen, hat nichts mit „Heuchel-Orgie“ und schon gar nichts mit einer Relativierung der Hamas-Verbrechen zu tun, sondern mit nüchterner Zurkenntnisnahme dessen, was die rechtsradikalen Regierungsmitglieder äußern.

        1. 50.000 Tote und die totale Zerstörung des Gazastreifens stehen in keinem Verhältnis zum militärischen Nutzen. Eine Zweistaatenlösung will auch die liberale Opposition in Israel nicht. Bundeskanzler Merz hat die Frage gestellt, was die eigentlichen Kriegsziele Israels sind.

  5. Kein falscher Frieden. Gedächtniskultur und die neue Diktatur Russlands
    Paulinerforum Leipzig mit Friedensnobelpreisträgerin Dr. Irina Scherbakowa und dem Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel – 04. Jun 202517:00 Uhr Paulinum
    © EV Akademie Sachsen https://ogy.de/1gnf

  6. Der Politikwissenschaftler Philip Manow hält fest, dass seit den 1990er Jahren in den westlichen Demokratien eine zunehmende Verrechtlichung zu konstatieren sei, „welche die Politik immer stärker einenge und demokratischer Teilhabe Grenzen setze“. Dabei werde das Recht „durch die Konstitutionalisierung vor der Politik geschützt und gegen demokratische Gestaltung immunisiert. […] Auf allgemeiner Ebene lässt sich konstatieren, dass eine Aufwertung der Gerichte mit Kontrollfunktionen gegenüber parlamentarischen Mehrheiten mit einer Abwertung dieser Parlamente einhergeht, damit mit einer Abwertung der demokratischen Wahl und damit mit einer Abwertung der Wähler, was schließlich auch an der allgemeinen Verschiebung der politischen Diskurse ins juridische abzulesen ist.“ Der Politikwissenschaftler Manfred Welan sprach in diesem Zusammenhang bereits 1982 vom VfGH als „Oberhaus des österreichischen Regierungssystems“, obwohl die Grundrechtsjudikatur damals erst im Kommen war. Und die Europarechtlerin Claire Moulin-Doos erhebt die Frage: „Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?“ Und im Sinne Welans könnte man diesen Gedanken fortspinnen: Wer schützt die Demokratie vor den Gerichten?

    1. Weder müssen Gerichte vor der Demokratie noch die Demokratie vor Gerichten geschützt werden, solange die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative gewahrt und erhalten bleibt. Gefährlich wird es in dem Moment, in dem die Unabhängigkeit der Gerichte bestritten und grundsätzlich die Exekutive der Kontrolle des Rechts entzogen wird. Genau das ist die Strategie in allen autokratischen Systemen. Und das spielt sich derzeit in den USA ab. Dessen ungeachtet ist es normal, dass es immer wieder zwischen den staatlichen Gewalten zu Konflikten kommt.

  7. Der Beitrag beruht auf zwei Prämissen, die ich für falsch halte:
    Erstens sieht er die Welt als statisch an und berücksichtigt nicht, dass in Wirklichkeit alles im Fluss ist – auch die Bewertung humanitärer Standards – und dass deshalb eine Weiterentwicklung des Rechts geradezu zwingend ist (wir hatten dieses Thema ja schon mal im Hinblick auf internationales (Kriegs-)Völkerrecht). Es ist völlig legitim, in regelmäßigen Abständen alle Rechtsregeln zu prüfen – und die Forderung nach Prüfung bedeutet weder, dass man sich bis zur Änderung nicht an geltendes Recht hält, noch dass man politisch gegen die Urteile agiert. Es kommt hinzu, dass Interpretationen der juristischen Regelungen (Gesetze, Konventionen, etc) auch unter Fachleuten unterschiedlich sind und insofern nichts in Stein gemeißelt ist. Interessant am Rande: Bei Fragen wie Straßenklebereien, Haus- und Landfriedensbruch, Gewalt aus Demonstrationen heraus und ähnlichen Gesetzesbrüchen sind die Verfechter der Absolutheit des Rechtes und der individuellen Menschenwürde (zB von Polizeibeamten) plötzlich eher abgetaucht.
    Zweitens: Die Unabhängigkeit der Judikative ist zu beachten, natürlich. Dies aber macht Kritik an Urteilen nicht unzulässig – und es ist das gute Recht der Exekutive zu prüfen, ob ihre Handlungsfreiheit ungebührlich eingeschränkt ist. Wie Sie richtig feststellen, Herr Wolff, geht das über Gerichtsverfahren – also über die „Nichtanerkennung“ von Urteilen (sonst würde man ja nicht klagen). Eine Diskussion zu fordern, ist offensichtlich völlig legitim. Es ist zu beachten, dass in unseren Zeiten der Missbrauch internationaler und nationaler Regeln zeitweise zum Standard geworden ist – sehr gefördert durch alle möglichen Gesetzesbrecher wie Schlepper, Drogendealer, Querdenker und gewaltbereite Rechthaber – und dass allein hierdurch Anpassungen der Gesetzeslage zwingend sind.
    Es geht in dem Brief, wie Sie richtig feststellen, um die Frage der AUSLEGUNG einer Konvention. Was sollte schlimm daran sein, dass man eine solche Diskussion fordert, die im Gegenteil eine Selbstverständlichkeit ist?
    Lassen Sie mich noch kurz zurück kommen auf das Rententhema neulich, wo Wolff uns Dänemark als vorbildlich anpries. Nun erhöht die dänische Regierung gerade das Eintrittsalter auf 70 Jahre. Man sieht: Die Mathematik lässt sich nicht durch Ideologie korrigieren ebenso wenig wie kein demokratischer Diskurs sich führen lässt, wenn man andere Meinung als „Belästigung“ zu unterdrücken androht und ihren Träger permanent beleidigen lässt und selbst beleidigt.
    Andreas Schwerdtfeger

  8. Die Tagesnachrichten sehe ich gewöhnlich am PC. Doch vor einiger Zeit verordnete ich mir Abstinenz, die Selbstdarstellungen eines Dealmakers ist schwer zu ertragen. Nicht anders ist es mit Politikern, die Gesetze auf die Probe stellen wollen. Um den Staatsbesuch von Israels Premier Netanjahu zu ermöglichen, will Bundeskanzler Merz den Haftbefehl des IstGh ignorieren.
    Aber meine Enthaltsamkeit war bereits mit der Übertragung vom Petersplatz in Rom zu Ende, die Wahl von Leo XIV interessierten mich. Allein die Frage bleibt: Wie viel Last kann einem Menschen auf die Schulter gelegt werden? Sie werden antworten: „Mit Gottes Hilfe wir er es tragen.“

  9. Ich habe hier eine gegensätzliche Position gefunden. Diese komplexe Materie müsste man gründlich untersuchen, um sich eine fundierte Meinung bilden zu können.
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    „Es geht damit los, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihre 16 Zusatzprotokolle überhaupt kein Asylrecht oder Asylgrundrecht enthalten. Um sich trotzem einzumischen z.B. in Fällen von Push-backs oder Abschiebungen, beruft sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf das „Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“ (Art. 3 EMRK) und auf das Verbot von „Kollektivausweisungen ausländischer Personen“ (Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK).

    Nach Verständnis der EGMR kann dabei als „unmenschliche Behandlung“ schon der Pushback oder die Abschiebung in ein Land gelten, in dem extreme Armut oder unzureichende hygienische Verhältnisse drohen. Edit: z.B. in Flüchtlingslagern in Somalia (EGMR Urteil vom 28.06.2011 – Sufi and Elmi vs UK – Nr. 8319/07).

    Aus diesem Grund untersagte der EGMR auch teilweise (vorrübergehend?) Abschiebungen nach Griechenland, weil die Zustände in den dortigen Flüchtlingslagern so schlecht seien (EGMR Urteil 21.01.2011 – M.S.S. vs. Belgium and Greece – Nr. 30696/09).

    Im Ergebnis hat der EGMR dadurch ein Einwanderungsrecht für alle geschaffen, die vor „unmenschlichen oder erniedrigenden“ Lebensbedingungen fliehen. Mit politischem Asyl hat das kaum noch etwas zu tun. Und mit dem Text der EMRK auch nicht wirklich.
    Ich finde es deshalb richtig und wichtig, den EGMR in seine Schranken zu weisen und im Zweifel die EMRK zu ändern oder sogar auszutreten. “
    © reddit.com – https://ogy.de/v7dl

    1. Die Rechtsprechung des EGMR könnte ja vielleicht daran liegen, dass das Gericht der Politik verwehrt, Menschenrechte selektiv und opportunistisch anzuwenden. Aber genau das ist ja die Aufgabe eines Gerichtes für die Menschenrechte, diese unabhängig von der Person anzuwenden. Auch einem Geflüchteten sind nach den Kriterien der Menschenrechte „erniedrigende Lebensbedingungen“ nicht zumutbar. Wenn wir das nicht mehr gelten lassen, dann ist es vorbei mit den „unveräußerlichen Menschenrechten“.

    2. Zur zitierten Gegenposition. Gegen eine Prüfung und Diskussion der Rechtslage und Rechtspraxis kann man wohl kaum etwas einwenden. Der Unterton dieser Gegenposition befremdet mich jedoch. Etwa wenn es heißt, der EGMR beziehe sich auf bestimmte Artikel der EMRK, „um sich trotzdem einzumischen“. Hier wird das Bild eines Gerichtshofes gezeichnet, der sich von sich aus in nationale Angelegenheiten „einmischt“, also legitime Grenzen überschreitet. Das scheint mir kaum den Sachverhalt zu treffen. Der EGMR urteilt doch nur dann, wenn er von juristischen Personen aus den Mitgliedsländern angerufen wird . Ein dann ergehendes Urteil als „Einmischung“ zu bezeichnen finde ich befremdlich und tendenziös. Außerdem gehe ich davon aus, dass der Gerichtshof seinen Urteilen eine kohärente Auslegung der Artikel der EMRK zu Grunde legt, und dadurch zu seinen Urteilen gelangt. Dann müsste man in eine juristische Diskussion eintreten, ob diese Auslegung richtig ist und diese gegebenenfalls widerlegen. Eine solche Argumentation finde ich in der Gegenposition nicht. Tendenziös finde ich vollends den letzten Satz. Es sei ggf. richtig, den Gerichtshof „in seine Schranken zu weisen“. Was soll das bedeuten? Wenn der Gerichtshof die juristische Hoheit hat, dann ist dies kaum möglich, bedeutet vielmehr ggf. Rechtsbeugung. Auch die Drohung mit dem Austritt finde ich in diesem Zusammenhang bedenklich. Hier wird keine Diskussion eröffnet, hier wird schon darauf hin gearbeitet, die Autorität des Gerichtshofs zu untergraben. Das Urteil scheint für den Verfasser der Gegenposition jedenfalls schon fest zu stehen.
      Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass eine rein juristische Befassung mit dem Thema Migration, Asyl und Abschiebung für mich als Christ niemals ausreichend sein kann. Es geht hier auch um vor-juristische Werte der Humanität, die allen juristischen Manifestation vorgelagert sind. Diese zur Geltung zu bringen, scheint mir die primäre Aufgabe der Kirchen zu sein.

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