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Katastrophe und Wahlkampf – über das W(R)ichtige streiten

Man dürfe jetzt die Flut-Katastrophe in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern nicht für den Wahlkampf instrumentalisieren, heißt es fast unisono in vielen Kommentaren. Mit diesem Argument begegnen auch Politiker*innen wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) massiver Kritik z.B. am Katstrophenschutz. Aber wird die Abwehr solcher Debatten noch lange funktionieren? Sicher: Angesichts der über 170 Toten, der horrenden Zerstörungen, des Nichts, vor dem viele Menschen stehen, ist es richtig, Prioritäten zu setzen. Jetzt ist unmittelbare Hilfe vonnöten und seelische Stärkung der von der Katastrophe betroffenen Menschen. Aber dann stehen die Fragen an, die sich jede*r, der/die um einen nahen Menschen trauert oder sich in einer tiefen Lebenskrise befindet, auch stellt: Was ist mein Anteil an einem Unglück, an einer Krankheit, am Sterben? Habe ich etwas versäumt? Läuft nicht schon lange etwas falsch in meinem, unserem Leben? Natürlich kann man das verdrängen. Oft genug wird man von gut meinenden Menschen dazu ermutigt. Aber die Fragen nach der Verantwortung und möglicher Schuld bleiben dennoch.

Darum ist es jetzt angemessen, auf der politischen Ebene und im Vorfeld der Bundestagswahl sehr offen und streitig über die Bedingungen der Flut-Katastrophe zu reden und Verantwortlichkeiten zu benennen. Das steht nicht im Gegensatz zu der dringenden Hilfe und Solidarität, die die von der Flut betroffenen Menschen benötigen. Auch diese werden sich (hoffentlich) an der Bundestagswahl beteiligen. Auch in ihnen werden die o.g. Fragen bei den Aufräumarbeiten tiefe Furchen ziehen. Also reden wir schonungslos über all das, was durch die Fluten und Schlammmassen nicht verschlungen, sondern offenbar wurde: die verheerenden Folgen dessen, was wir euphemistisch „Klimawandel“ nennen. Doch hinter diesem harmlos klingenden Wort verbirgt das kollektive Versagen in der Klimapolitik und die verheerenden Folgen eines exzessiven Lebensstils. Bis zum Weckruf der jungen Menschen von FridaysForFuture vor drei Jahren und der bitteren Bilanz von drei Dürrejahren fand Klimapolitik faktisch nicht statt – bzw. bestand aus der Abwehr von notwendigen Maßnahmen. Man muss ja nur in die Archive gehen, um zu erkennen: Die seit Jahrzehnten vorliegenden Erkenntnisse der Klimaforschung wurden von den politischen Mehrheiten, insbesondere vom Regierungshandeln und hier insbesondere von der CDU, mehr oder weniger ignoriert. Es blieb weitgehend bei Lippenbekenntnissen. Noch im Juni 2018 warnten die beiden CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Armin Laschet in einem gemeinsamen Artikel im „Handelsblatt“ vor einem verfrühten Kohleausstieg und behaupteten: „Aktuelle Studien bestätigen die Erreichbarkeit der Klimaziele ohne beschleunigten Ausstieg aus der Braunkohle.“ (Deutschland darf den Kohleausstieg nicht überstürzen (handelsblatt.com)) Bis Ende 2019 ließ Michael Kretschmer keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, den über 700 Jahre alten Ort Pödelwitz samt Kirche zugunsten der Braunkohle abbaggern zu lassen. Und unmittelbar nachdem das ganze Ausmaß der Flutkatastrophe sichtbar geworden war, sagte Armin Laschet am vergangenen Donnerstag im WDR: „Weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik“ (https://www1.wdr.de/fernsehen/aktuelle-stunde/alle-videos/video-studiogespraech-armin-laschet-cdu-ministerpraesident-nrw-108.html).

Es ist bitter: Weder die Oderflut 1997, noch die Flutkatastrophen 2002, 2005 und 2013 in Sachsen haben zu einem entscheidenden Umdenken geführt. Statt den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen systematisch zu fördern, wurden die Solarindustrie in Deutschland mit ökonomischen Mitteln faktisch zugrunde gerichtet und das Aufstellen von Windkraftanlagen zum Stillstand gebracht. In wenigen Jahren gingen 80.000 Arbeitsplätze verloren, ohne dass es zu einem nationalen „Solarpakt“ gekommen wäre. Wenn man das vergleicht mit dem viel zu spät geplanten und mit 40 Milliarden Euro subventionierten Ausstieg aus der Braunkohle, dann wird deutlich: Das schrille Sirenengeheul, das die Klimakatastrophe sendet, wurde bis vor kurzem systematisch überhört. Diese Verdrängung ist seit vergangenen Mittwoch nicht mehr durchzuhalten (es sei denn, man gehört zu den Trump-Bewunderern und den dummdreisten Klimawandel-Leugnern in der AfD). Denn nun wird überdeutlich: Die angebliche Bedrohung von Wirtschaftskraft und Wohlstand in Deutschland durch die Energiewende und deren angebliche Nichtfinanzierbarkeit war und ist eine ideologische Schimäre. Tatsächlich wird beides durch die verheerenden, auf Dauer kaum zu finanzierenden Folgen der Klimazerstörung bedroht.

Bei der Bundestagswahl und natürlich jetzt im Wahlkampf sollten die politischen Kräfte, die die Hauptverantwortung für die jetzige Lage tragen, in der Debatte gestellt werden – und das sind CDU, CSU und FDP. Um es deutlicher zu sagen: Ja, es gibt viele Gründe, die SPD nicht zu wählen – zumal sie in der Koalition mit CDU und CSU viele Halbherzigkeiten in Sachen Klimaschutz mitgetragen hat. Ja, es gibt gute Gründe, Zweifel an der Kompetenz von Annalena Baerbock zu haben und den GRÜNEN die Stimme zu versagen. Aber: Es gibt nicht einen Grund, bei dieser Bundestagswahl CDU oder FDP zu wählen – vor allem nicht im Blick auf die jetzt notwendigen Weichenstellungen. Gerade das CDU-geführte Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium und das CSU-geführte Verkehrsministerium haben sich in den vergangenen vier Jahren als notorische Bremser in Sachen Klimaschutz hervorgetan.

Doch abseits der Parteipolitik und des Wahlkampfs müssen wir offen darüber reden, wie wir denn zusammenleben wollen, um die Klimaziele zu erreichen und die offene, demokratische Gesellschaft zu wahren. Wir müssen davon ausgehen, dass wir – völlig unabhängig von dem Wahlergebnis am 26. September 2021 – in den nächsten Jahren noch mehr solcher Katastrophen erleben werden wie in der vergangenen Woche. Wann, wo und in welchem Ausmaß kann keiner sagen. Aber an dem „Dass“ besteht leider wenig Zweifel. Darum werden wir uns alle ab sofort darum kümmern müssen, unseren Lebensalltag so auszurichten, dass wir die entfesselten Naturgewalten nicht noch stärken. Die Zeiten des Verdrängens und Beschönigens sind endgültig vorbei. Wir brauchen die Energiewende, neue Mobilitätskonzepte, eine ökologische Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, eine Neuausrichtung der Stadtplanung und des Wohnungsbaus – riesige Herausforderungen nicht nur für die Politik, auch an jeden und jede Bürger*in.

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