Wenn es nach Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gegangen wäre, dann würden wir am 23. Mai den Tag der Deutschen Einheit feiern. Doch das war 1990 politisch nicht durchsetzbar. So harrt dieser bedeutende Tag weiter auf eine angemessene Würdigung. Vor 68 Jahren wurde am 23. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, die Verfassung des geeinten Deutschland. Am gleichen Tag vor 154 Jahren wurde 1863 die älteste Partei Deutschlands in Leipzig gegründet, die SPD – eine Partei, ohne deren immerwährenden Kampf für Gerechtigkeit und Demokratie das Grundgesetz nicht vorstellbar ist. Entscheidend ist: das Grundgesetz ist entstanden als Reaktion auf den Nationalsozialismus. Mit dieser Verfassung sollten Demokratie, Menschenrechte und Deutschland als sozialer Bundestaat fest verankert werden. Darum geht es im Grundgesetz nicht um die „Deutschen“, sondern um die Menschen, die in aller Vielfalt in Deutschland leben, und die Menschen, die mit Deutschland das Leben auf dieser Erde teilen. Darum knüpft das Grundgesetz in den Grundrechtsartikeln vor allem an die Menschenrechte an. In der Präambel heißt es, dass sich das Deutsche Volk das Grundgesetz „in Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ gegeben hat.
Doch nicht nur die Grundrechtsartikel sind von größter Bedeutung. Auch die im Grundgesetz festgeschriebene parlamentarische Demokratie ist eine Errungenschaft, deren Wert im Zusammenhang mit der politischen Gestaltungsaufgabe (Willensbildung) der Parteien nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Präsidialsysteme, die derzeit beides bedienen: autokratische Sehnsüchte zu vieler Bürgerinnen und Bürger sowie den diktatorisch-absolutistischen Machtwillen einzelner, sind sehr viel anfälliger für die Aushöhlung des Rechtsstaates, der Gewaltenteilung und des Pluralismus als die parlamentarische Demokratie. Der Parlamentarismus schafft einen geregelten Ausgleich zwischen Kontinuität und Wechsel, verhindert die Etablierung von Machtgruppen, achtet die Minderheitsrechte und gewährleistet so gesellschaftliche Vielfalt. Wie wichtig das ist, zeigt sich in Österreich: Dort zeichnet sich eine Aushöhlung des Parlamentarismus von oben ab. Dass der bisherige Außenminister Österreichs, der 30-jährige Sebastian Kurz, bald eine führende Rolle in der ÖVP spielen wird, war schon lange absehbar. Dass er aber als Bedingung für seine Ernennung/Wahl als Bundesparteiobmann der ÖVP die Abschaffung der innerparteilichen Demokratie stellt, ist schon abenteuerlich. So soll die Partei zur Bundestagswahl nicht unter ihrem bisherigen Namen antreten, sondern als „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“ um Wählerstimmen werben. Ebenso will Kurz als Person die letzte Entscheidung darüber haben, wer als Kandidat/in für die Wahl aufgestellt wird. Wer innerparteilich so autokratisch beginnt, wird vor Verfassungsänderungen keinen Halt machen, um Macht auf seine Person zuzuschneiden. Das allerdings ist mehr als eine Gefahr – zumal sich die EU derzeit ziemlich zahnlos zeigt gegenüber den antidemokratischen Entwicklungen in Polen und Ungarn.
Gott sei Dank sind solche Entwicklungen in Deutschland so (noch) nicht möglich. Aber das liegt nicht daran, dass es hier nicht genügend Menschen und Gruppen geben würde, die ein Interesse an autokratischen Strukturen haben. Es liegt vor allem daran, dass das Grundgesetz und die daraus entwickelten Gesetze dies nicht zulassen. Denn Kandidat/innen für Stadträte, Parlamente auf Landes, Bundes- und Europaebene können nicht von Parteizentralen oder einzelnen Personen benannt werden. Sie werden von Parteigliederungen in einem öffentlich kontrollierten, demokratischen Verfahren aufgestellt, bevor sie sich dem Wählervotum stellen können. Doch wie alles ist auch dies kein Selbstläufer. Es hängt davon ab, ob sich ausreichend Bürgerinnen und Bürger in Parteien engagieren und den Grundkonsens über die parlamentarische Demokratie tragen und verteidigen. Vor allem sollten wir jetzt schon sehen, in welche Sackgassen Politik, aber auch Gesellschaften geführt werden, die zulassen, dass Macht sich auf eine Person konzentriert bei gleichzeitiger und systematischer Zerstörung aller Kontrollinstanzen. Vulgär-Diktatoren wie Trump, Orbán, Erdoğan sollten uns am Verfassungstag froh und dankbar dafür machen, dass der demokratische Rechtsstaat solch egomanische Machtanmaßungen abwehren will und kann. Schließlich ist das Grundgesetz darauf angewiesen und lebt davon, dass sich die Bürgerinnen und Bürger weiter für Demokratie, Vielfalt und ein gerechtes Miteinander einsetzen und jeder Form von Populismus, also die Verengung des Diskurses auf eine Position unter gleichzeitiger militanter Abwehr aller anderen, widerstehen. Das gilt es am 23. Mai zu feiern. Und so ganz nebenbei: Zu diesem Tag hätte man sich ein wegweisendes Wort des Verfassungsministers gewünscht, anstatt biedere Benimmregeln zur „deutschen Leitkultur“ zu erklären.
- Dienstag, 23. Mai 2017 um 18.00 Uhr, Alte Handelsbörse, Naschmarkt 2, 04109 Leipzig
- Deutschland – in guter Verfassung? austauschen.diskutieren.zuhören
- mit Daniela Kolbe, Jens Katzek und vielen anderen
3 Antworten
1. „Willy Brandt benötigte drei Anläufe, um nach einer Bundestagswahl eine Koalition bilden und Bundeskanzler werden zu können“ – und war nach fünf Jahren wieder weg, weil er es wohl nicht konnte, denn es waren ja seine eigenen Leute, die ihn unterminierten.
2. „Aber warum schweigen Merkel oder de Maizière an einem und zu einem solchen Tag?“ – Und was hat man von Gabriel, Schulz oder Müller (Berlin) gehört? Ihre Trauer darüber teile ich gerne.
3. „Intolerant ist, wenn ich jemanden daran hindere, seine Meinung zu äußern“ – dazu zitiere ich meinen vorherigen Eintrag: … zur Klarstellung wiederhole ich nochmal, daß es hierbei nicht um Ihre berechtigte Meinung geht sondern um die Art und Weise, wie Sie sie äußern und vertreten – hätten Sie schon je über mich oder über Ihre politischen Gegner gesagt, deren Meinung sei „berechtigt“?
4. „Irgendwann werden auch Sie begreifen, dass eine Meinung äußern nichts mit Intoleranz zu tun hat“ – das habe ich schon begriffen; Sie dagegen haben noch nicht begriffen, daß es in einer Demokratie dabei auf das Wie ankommt – und nur das kritisiere ich bei Ihnen.
5. „Das GG ist eben kein „klein-klein-Gesetz“, sondern stellt den Rahmen für unser gesellschaftliches Zusammenleben dar – und ist in diesem Sinn sehr viel mehr als „Leitkultur““. Der erste Teil des Satzes ist richtig – und weil das so ist, ist unser GG genau die Beschreibung unserer Leitkultur – der Kultur nämlich, die uns alle anleiten sollte in unserem demokratischen und verantwortlich-freiheitlichen Verhalten, bei der Wahrnehmung unserer Pflichten wie der Ausübung unserer Rechte, bei der Anerkennung von Fremden und dem Bewahren der eigenen Sitten, im Umgang miteinander sowohl auf der Basis der Gesetze als auch unter Anerkennung der „Bräuche“ (offenes Visier, Handschlag), und insbesondere eben auch im Stil der politischen Auseinandersetzung. Aber wir wissen ja: Menschenwürde und Knigge sind Problemfelder bei Ihnen, weil Sie das eine willkürlich interpretieren und das andere ablehnen.
6. „Martin Schulz gehört zu den Politikern, die leider gar nicht so zahlreich sind, die hoch gebildet, sehr sensibel und mit einem weiten internationalen und kulturellen Horizont gesegnet sind“ – irgendwie hat er das bisher bescheiden verborgen, aber ich werde gerne aufmerksam weiter beobachten. Ja, es ist schon schade, daß die Sozialdemokratie heute nicht mehr solche Größen wie die von mir genannten hervorbringt – aber ich gestehe: Das ist ein Phänomen, unter dem sie nicht alleine leidet!
Mit herzlichem Gruß,
Andreas Schwerdtfeger
Es ist ja eigentlich schade, daß Ihr Gedenken des Verfassungstages in Ihrer Fan-Gemeinde so wenig Resonanz findet, aber vielleicht liegt es eben daran, daß Sie auch bei dieser Gelegenheit wieder Ihre unnötigen und intoleranten Spitzen gegen gewählte Vertreter anderer Staaten ebenso wenig unterlassen können wie die Verunglimpfung der eigenen Politiker, nur weil sie eine andere Meinung haben als Sie. Das Thema hätte doch staatsmännische Überlegenheit anstatt kleinkarierter Beisserei verdient.
Das Grundgesetz ist eine großartige Gesetzesschöpfung eben gerade deswegen, weil es eine Leitkultur festlegt, innerhalb dieser aber Gestaltungsfreiheit und Spielraum erhält, sofern diese in gegenseitigem Respekt und in dem Bewußtsein und der Wahrung der Rechte und Ansprüche aller anderen ausgeübt werden – eine Regel, gegen die Sie ja leider in Ihren blog-Äußerungen fast regelmäßig verstoßen. Und nur zur Klarstellung wiederhole ich nochmal, daß es hierbei nicht um Ihre berechtigte Meinung geht sondern um die Art und Weise, wie Sie sie äußern und vertreten.
Daß das GG eine Reaktion auf die Nazizeit war, ist sicherlich teilweise richtig. Im gleichen Maße jedoch war es auch Reaktion auf das Scheitern der ersten deutschen Demokratie unter der Weimarer Verfassung, in der unsere Volksvertreter – und zwar gerade die der gemäßigten Parteien – untereinander so zerstritten waren, daß sie nicht nur ein erbärmliches Bild boten und dadurch wenig zur Stärkung des den Deutschen noch ungewohnten Systems beitrugen, sondern daß sie sich auch immer mehr in Klein- und Kleinstparteien aufspalteten, sich in der Mitte gegenseitig stärker bekämpften als gemeinsam die Ränder klein zu halten und so selbst erheblich zum moralischen Verfall der Menschen und zum strukturellen Zerfallen des Staates beitrugen. Parallelen zur heutigen Zeit bieten Sie ja selbst, wenn Sie nicht einmal mehr in der Lage sind, einem Wahlsieger zu gratulieren, wenn Sie selbst “nichts dagegen haben, mit der Extrempartei “Die Linke” zu koalieren und damit am populistisch-radikalen linken Rand zu fischen, wenn Sie, der Sie doch einer Partei der Mitte angehören, auf die andere Partei der Mitte mehr draufhauen als auf die Extreme, bzw diese permanent dem einen Extrem gleichsetzen. Das alles ist Mißbrauch des von Ihnen so gepriesenen GG zu dessen und unser aller Schaden.
Und schließlich auch ist das GG geprägt von dem Willen der westlichen Siegermächte, insbesondere Großbritanniens, ein politisch dezentrales Deutschland zu schaffen, was die Kuriosität der “Unantastbarkeit der Bundesländer” (Art 79) erklärt. Daß sich im Grunde die politische Organisation Deutschlands längst überholt hat, weil es nicht genug politische Entscheidungsmasse für VIER Ebenen (Kommunen, Länder, Bund, Brüssel) gibt und daß dann eigentlich nur die Länder-Ebene als tatsächlich überflüssig entfallen könnte, liegt neben dem “regionalen Stolz” der Deutschen an diesem Artikel. Und dieser “regionale Stolz” wiederum ist es, der die Deutschen zwar dem Fremden und den Fremden gegenüber aufgeschlossen erhält, aber dies nur, wenn die Fremden sich einfügen und die Bräuche respektieren.
Das GG ist eine großartige Leistung seiner Autoren aus allen damaligen Parteien. Aber man vergleiche zB nur einen von ihnen, den großen Staatsmann Carlo Schmidt in seiner tiefen Bildung, großartigen Weit- und Weltsicht, internationalen Erfahrung, integeren Contenance mit einem Augenblickspolitiker wie Martin Schulz!
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger
1. „staatsmännische Überlegungen“ überlasse ich gerne denselben. Aber warum schweigen Merkel oder de Maizière an einem und zu einem solchen Tag?
2. Das Grundgesetz schützt gerade das, was Sie immer wieder bemängeln: Kritik, Polemik, eben die freie Meinungsäußerung. Irgendwann werden auch Sie begreifen, dass eine Meinung äußern nichts mit Intoleranz zu tun hat. Intolerant ist, wenn ich jemanden daran hindere, seine Meinung zu äußern.
3. Das ist schon mehr als komisch: eine Koalitionsmöglichkeit, die einem aus politischen Gründen nicht gefällt, als „Missbrauch“ des GG zu bezeichnen. Das GG ist eben kein „klein-klein-Gesetz“, sondern stellt den Rahmen für unser gesellschaftliches Zusammenleben dar – und ist in diesem Sinn sehr viel mehr als „Leitkultur“.
4. Ach ja, es ist immer wieder dasselbe: Die Sozialdemokraten, die nicht mehr leben, sind „die Guten“, die gegenwärtigen aber sind „Augenblickspolitiker“. Nein, Martin Schulz gehört zu den Politikern, die leider gar nicht so zahlreich sind, die hoch gebildet, sehr sensibel und mit einem weiten internationalen und kulturellen Horizont gesegnet sind. Langfristig wird sich das durchsetzen. Willy Brandt benötigte drei Anläufe, um nach einer Bundestagswahl eine Koalition bilden und Bundeskanzler werden zu können.
Beste Grüße Christian Wolff