Kürzlich schleuderte mir ein ca. 50-jähriger Mann halb provozierend, halb vorwurfsvoll entgegen: „Luther hat die Kirche gespaltet. Er ist doch auch einer von denen, die Menschen getrennt und gegeneinander aufgebracht haben.“ Ungesagt hörte ich den Vorwurf: Und ihr Protestanten feiert das auch noch. Ja, wir feiern am 31. Oktober das Reformationsfest. Aber wir feiern nicht die Spaltung. Vielmehr wollen wir mit diesem Feiertag den Versuch der Reformatoren würdigen, Kirche auf ihren Ursprung, ihr Wesen zurückzuführen. Wenn wir diesen Weg „ad fontes“, also zurück zu den Quellen und Ursprüngen, gehen, können wir entdecken: „Die Kirche gibt es nur im Singular … Die Kirche Christi ist ‚katholisch‘, d.h. allumfassend, und kann daher nicht Nationalreligion werden …“ So hat es der 90-jährige Theologe Jürgen Moltmann in seinem Alterswerk „Politische Theologie der Modernen Welt“ (Gütersloh 2021, S. 158ff) in dankenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht. Reformation bedeutet eben nicht Spaltung, sondern Besinnung auf das, was ursprünglich mit Kirche gemeint war: Die Gemeinschaft von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität, Lebensweise, als Licht der Welt und Salz der Erde zu wirken (Die Bibel: Matthäus 5,13-16). Jetzt schon wollen sie zeichenhaft die Segnungen sichtbar und erfahrbar werden lassen, die durch die biblische Botschaft und durch Jesus Christus der Menschheit am Ende aller Zeiten verheißen sind: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben, Nächsten- und Feindesliebe, Gewaltlosigkeit.
Diesem Auftrag kann sich aber nur eine Kirche glaubwürdig stellen, die
- in ihrem Innenleben ihre Arbeit an der biblischen Botschaft ausrichtet und auf alles verzichtet, was der Botschaft und den wertegebundenen Zielen entgegensteht: Autokratismus, Machtapparate, Gewalt- und Kriegsverherrlichung, Menschenverfeindung, Verhinderung einer offenen, angstfreien und öffentlichen Kommunikation. Das bedeutet: Nach innen hat Kirche darauf zu achten, dass eine Errungenschaft der Reformation, nämlich das „Priestertum aller Gläubigen“, sich in durchlässigen Strukturen, flachen Hierarchien und einem demokratischen Miteinander niederschlägt. Da hat Kirche noch einen erheblichen Nachholbedarf.
- Nach außen hat eine ökumenisch ausgerichtete Kirche zum einen für die Demokratie als die dem christlichen Glauben gemäße Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und für Frieden zwischen den Nationen und Völkern einzutreten – im Wissen darum, dass sich christlicher Glaube und nationalistisch ausgerichtete Religion ausschließen.
Aktuell bedeutet dies: Kirche muss in ihrer Gesamtheit eine deutliche Trennlinie ziehen zu allen Bestrebungen des nationalistischen Autokratismus und seinen schamlosen Vereinnahmungsversuchen christlicher Werte und Vorstellungen. Letzteres geschieht derzeit in allen Autokratien dieser Welt, aber auch durch die vielen rechtsnationalistischen, völkischen Gruppierungen wie AfD, Freies Sachsen, Compact bei uns. Man blicke nur auf Lutherstadt Wittenberg. Dort wollen die Rechtsextremisten am Reformationstag unter dem Motto „Reformation 2.0“ aufmarschieren. Sie bedienen sich dabei der gleichen perfiden Methoden wie einstmals die „Deutschen Christen“ in der Nazizeit. Es ist die sog. Verharmlosungsstrategie. Mit dieser sollen die tatsächlichen Demokratie und Werte zerstörenden Absichten verschleiert werden. Begriffe wie Freiheit, Widerstand, Gerechtigkeit dienen nur dazu, die eigentliche Ziele zu verschweigen: die gewaltsame Zerstörung von Demokratie, Vielfalt, Respekt unterschiedlicher Lebensentwürfe, Kompromissfähigkeit. Dem muss auch Kirche in ihrer Gesamtheit und im Singular klar und unmissverständlich entgegentreten. Dem christlichen Glauben ist völkischer Nationalismus und rassistische Ausgrenzung von Menschen fremd. Schade und leider typisch, dass davon im aktuellen „Hirtenbrief“ des sächsischen Landesbischof Tobias Bilz mit keinem Wort die Rede ist – wo doch gerade in Sachsen der rechtsnationalistische Autokratismus in gefährlicher Weise grassiert und hier Kirche Fraktur zu reden, zu predigen und zu beten hätte.
In gleicher Weise muss Kirche, die sich als allumfassend und ökumenisch versteht, mit einer nationalistisch und militaristisch auftretenden russisch-orthodoxen Kirche eine streitige Auseinandersetzung führen, genauso wie mit den evangelikalen Gruppierungen in Brasilien und den Vereinigten Staaten, die dem dortigen Autokratismus den ideologischen Überbau bieten. Es ist geradezu jämmerlich, wie sich der Ökumenische Rat der Kirchen in seinem Gespräch am 17. Oktober 2022 mit dem Patricharchen der russisch-orthoxen Kirche Kyrill I. von dessen perfider Verhamlosungsstrategie hat einlullen lassen. Wir sollten die Zeichen der Zeit erkennen: Wir befinden uns in einer Phase eines Generalangriffs des Autokratismus auf die freiheitlichen Demokratien. Der Ukraine-Krieg ist Teil dieses Angriffs. Ein anderer Teil ist der systematische Missbrauch und die Umwertung der Werte des christlichen Glaubens durch die Rechtsnationalisten dieser Welt. Ihnen muss widerstanden werden. Am Reformationsfest geht es also nicht um evangelisch oder katholisch, um „Spaltung“. Es geht heute um eine klare Haltung der „Kirche im Singular“ in Sachen nationalistisch-völkischer Autokratismus und weltweit agierende religiöse Rechte.
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Heute bekam ich eine Anfrage, ob ich mir „vorstellen könne, am 31.10.2022 einen Redebeitrag für ‚Leipzig nimmt Platz‘ zu halten? Wir planen eine größere kinderfreundliche Demo mit dem Motto ‚Welcome to HELLoween – Faschist*innen das Fürchten lehren.'“ Ich habe kurz überlegt, da ich das Engagement von „Leipzig nimmt Platz“ sehr schätze, und dann geantwortet: „Ich kann mir viel vorstellen, aber das leider nicht. Der 31. Oktober ist für mich der Reformationstag, ein Tag der Befreiung von klerikaler Bevormundung und religiösem Zauber. Dass nun in der säkularen Welt dieser Tag wieder zu einem mystischen Gruselereignis wird mit religiösen Zügen, kann ich als aufgeklärten Protestant nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Mein Kopf jedenfalls bleibt klar, und den Teufel sollte man bekanntlich nicht mit dem Beezelbub austreiben! Beste Grüße und was mich betrifft: Immer dabei, wenn es darum geht, die braun-tumben Geister auszutreiben …“
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Wie sehr die religiöse Rechte in Deutschland Fuß zu fassen versucht, zeigt auch ein erschreckender Vorgang aus Berlin. Dort will die „Universalkirche vom Reich Gottes“, eine evangelikale Gruppierung aus Brasilien und glühende Anhänger des rechtsnationalistischen Autokraten Jair Bolsonaro, in Berlin-Mitte die Neue Nazarethkirche kaufen. Siehe dazu auch:
6 Antworten
In der heutigen FAZ ist ein interessanter Artikel des Kirchenhistorikers Prof. Dr. Thomas Kaufmann zum September-, und Dezembertestament Luthers enthalten. Es wird auch auf die bedeutenden Leistungen des Leipziger Buchdruckers Melchior Lotter d. J. hingewiesen, der sich nicht nur beim Druck und Vertrieb der Bibel verdienstvoll betätigte, sondern auch bei der inhaltlichen Gestaltung, z. B der Illustration.
https://www.directupload.net/file/d/6720/yhuge9nu_pdf.htm
Ob diese Bolsonaro-Sekte hier viele Anhänger finden wird, darf bezweifelt werden, denn ähnlich wie Scientology geht es wohl hauptsächlich um die finanzielle Abzocke der Mitglieder.
Ich möchte der Autokraten-Definition von Wikipedia jene des „Bots“ hinzufügen:
Unter „Bot“ versteht Wikipedia „ein Computerprogramm, das weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeitet, ohne dabei auf eine Interaktion mit einem menschlichen Benutzer angewiesen zu sein“.
Egal was Christian Wolff schreibt, ein „Bot“ widerspricht automatisch, verunglimpft, beleidigt, arbeitet seine ewig gleichen Aufgaben und Aussagen ab… (ein Leben ohne Bot ist vorstellbar, ja sogar wünschenswert).
Also widerspricht er auch dem aktuellen Reformations-Blog, den ich für sehr bedenkenswert halte, insbesondere weil der 31.10. immer stärker von der Halloween-Banalisierung vereinnahmt wird (siehe auch die Absage von Christian, einen Redebeitrag für „Leipzig nimmt Platz“ unter dem gegebenen Themenrahmen zu übernehmen. Danke dafür, Christian!).
Eine Kirche, die sich klar gegen nationale Autokratie-Bestrebungen, gegen die Spaltung der Gesellschaft und für die Demokratie, für die gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit und für einen fairen sozialen Ausgleich ausspricht, wird Gemeindemitglieder halten und dazugewinnen können!
„Der Ausdruck Autokrat wird umgangssprachlich auch für einen selbstherrlichen Menschen verwendet“. – so beschreibt wikipedia unter dem Stichwort „Autokratismus“ die entsprechenden Top-Menschen in diesem System und man fühlt sich irgendwie sofort an Wolff erinnert. Hier beschreibt er uns eine Kirche – die eine Kirche im Singular –, die nicht genug tut gegen die Rechten; und vergißt bei vielleicht aller Richtigkeit dieser These dabei die Antithese: Daß nämlich diese Kirche – seine Kirche – in ihrer Beliebigkeit und in ihrer allumfassenden Umarmung eines Jeden, egal wie er zu ihr, ihrem Glauben, ihren Grundsätzen steht, egal wie er sich in ihr benimmt, egal wie sehr er auch gegen ihre, und also auch Wolffs, Grundsätze agiert, immer nur lieben muß und soll. Daß Luther, der große Reformer, streitbar war, daß er ausgrenzte, daß er Freiheit und Selbstverantwortung wollte und schaffte – und in der Freiheit liegt immer auch die Zurückweisung dessen, der nicht „zugehörig“ ist (eben deshalb weist ja Wolff die Rechten zurück, eben deshalb war Luther streitbar), wie ebenso in der Selbstverantwortung die Selbstbestimmung im Gegensatz zur ständigen totalen Abhängigkeit vom Staat und seiner Fürsorge liegt –, dies alles wird nicht zur Kenntnis genommen, windelweich umformuliert und zum Grundsatz einer Kirche erhoben, die eben deswegen immer mehr Mitglieder verliert und eben deshalb immer mehr Menschen in die Reihen derjenigen treibt, die Entscheidungen suchen – und sie dann bei den Falschen finden.
Der Reformationstag erinnert uns in Wirklichkeit an „Reformation“, an Umgestaltung, an Erneuerung, an Zupacken, an Wehrhaftigkeit und die von Wolff ansonsten geforderte Klarheit, an Verteidigung des Wahren und Zurückweisung des Beliebigen, an Streit im besten Luther’schen Sinne. Und er erinnert uns an Wahrhaftigkeit, d.h. z B daran, daß man nicht heucheln sollte, wie es unser Kanzler gerade tut, der uns den Widerspruch seiner Äußerungen noch nicht erklärt hat: Der Wiederaufbau UKR sei eine „Generationenaufgabe“ sagt er uns; und zugleich nimmt er durch seine rasante Schuldenpolitik den nachfolgenden Generationen jede Möglichkeit, diese Aufgabe zu erfüllen. Den Menschen im Lande erklärt er, man müsse dem Tyrannen Widerstand entgegensetzen; und zugleich beugt er sich einem anderen Tyrannen gegen die Warnung aller seiner Fachminister. Vor so einem Kanzler – der die Macht hat – graut einem ja eigentlich mehr, als vor den Rechten in diesem Land – die zwar sehr stören, aber eben die Macht nicht haben. Luther würde sich wohl wundern, lieber Herr Wolff, angesichts Ihres Beitrages.
Seien Sie gegrüßt,
Andreas Schwerdtfeger
Das hoffe ich sehr, dass sich Luther wundert!
„Der Patriarch erklärte, dass er nicht glaube, dass irgendeine Kirche oder irgendein Christ, irgendeine Christin Krieg und Töten unterstützen könnten, und dass die Kirchen „…aufgerufen sind, Frieden zu stiften und das Leben zu schützen und zu bewahren“, sagte er. „Krieg kann niemals heilig sein.“
Wenn jemand aber sich selbst und sein Leben verteidigen müsse oder sein Leben zum Schutz des Lebens anderer Menschen geben müsse, sähe es anders aus, erklärte Patriarch Kyrill. „Es gibt in der Geschichte des Christentums sehr viele Beispiele dafür“, sagte er.
https://www.oikoumene.org/de/news/his-holiness-patriarch-kirill-wcc-acting-general-secretary-meet-in-moscow-agreeing-that-war-cannot-be-holy
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Damit rechtfertigt dieser KGB-Pope den Angriffskrieg gegen die Ukraine, denn seine Aussagen beziehen sich eindeutig auf Russen.
Am Dienstag sprach Kyrill wieder Klartext:
Dem „schädlichen“ westlichen Einfluss stellte der Patriarch Russland als positives Beispiel entgegen: „ein moderner Staat mit fortschrittlicher Wissenschaft, Technologie und Bildung, der von einem Präsidenten geleitet wird, der offen seinen Glauben bezeugt“
https://www.katholisch.de/artikel/41687-moskauer-patriarch-kyrill-i-lobt-russland-als-insel-der-freiheit
Ich wage zu bezweifeln, dass sich die ÖRK-Delegation von Kyrill hat „einlullen“ lassen. Nur fand sie leider nicht die notwendigen Worte der Abgrenzung.