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Friedhofssterben, Sterbehilfe, Rassismus – ein Plädoyer für das biblische Menschenbild

Es war am Abend des 11. Juni 2020. Anlässlich des Feiertages Fronleichnam berichtete das heutejournal über den sich in Deutschland dramatisch vollziehenden Niedergang der Friedhofskultur. Immer weniger Menschen werden auf Friedhöfen beerdigt, immer mehr Menschen suchen alternative Grabstätten – in einem sog. Friedwald oder in Urnenfächern in den Räumlichkeiten eines Bestattungsinstitutes. Die Folge: Friedhöfe verwaisen. Der Grund für diesen Trend ist vor allem in der rasant fortschreitenden Säkularisierung und der damit verbundenen Kirchenferne vieler Menschen zu finden. Beides zeitigt weitreichende Folgen – auch im Verständnis von Tod und Leben. Friedhöfe zeigen an, dass der Tod zum Leben gehört. Deswegen waren die Friedhöfe mitten in den Städten rings um die Kirchen angesiedelt. Friedhöfe wurden so auch zum Stadtgedächtnis – ein öffentlicher Ort für die Lebenden, der viel über das Leben und die Geschichte eines Dorfes oder einer Stadt erzählt. Heute wird der Tod zunehmend privatisiert, individualisiert, anonymisiert. Mit dem Tod verschwindet der Mensch nicht nur aus dem Leben, für ihn ist auch kein Platz mehr im öffentlichen Gedächtnis. Die Zahl der anonymen Bestattungen nimmt zu – damit verschwindet mit dem Sterben auch der Name. Doch der Name eines Menschen ist Ausdruck seiner Identität und Individualität. Er soll nicht in der Masse untergehen. Der Mensch ist im Leben und bleibt im Sterben ein Geschöpf Gottes.

In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe – dort belegt man diese mit dem in Deutschland sehr belasteten Begriff „Euthanasie“ – per Gesetz erlaubt. Euthanasiekommissionen kontrollieren, dass die für die Sterbehilfe festgelegten Kriterien eingehalten werden. In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ („Tod wider Willen“, Nr. 25 vom 10. Juni 2020, Seite 16) wird von einem Fall aus dem Jahr 2016 berichtet. Eine Ärztin leistete bei einer 74-jährigen, an Demenz erkrankten Frau – sie lebte in einem Pflegeheim – aktive Sterbehilfe, indem sie diese zunächst in einen Tiefschlaf versetzte und dann das tödliche Mittel spritzte. Die Ärztin berief sich auf die vorliegende Patientenverfügung, in der die 74jährige Frau festgelegt hatte, dass sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen wolle, sollte sie dement werden. Als dieser Zustand eintrat, hat die Frau gegenüber der Ärztin deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie jetzt doch noch nicht sterben wolle. Dennoch verabreichte die Ärztin ihr das Todescocktail. Für die Ärztin wog die Patientenverfügung schwerer als der aktuell zum Ausdruck gebrachte Wille der Frau. Das höchste Gericht der Niederlande hat nun in einem Urteil das Vorgehen der Ärztin in allen Punkten für rechtens erklärt. Abseits der juristischen Frage, ob eine schriftliche Patientenverfügung durch die betroffene Person einfach widerrufen werden kann und welche Aussagekraft einer solchem Widerruf zugemessen werden kann, zeigt der Fall an, wie weit fortgeschritten in Sachen aktiver Sterbehilfe pure Nützlichkeitserwägungen sind und die viel beschworene Selbstbestimmung in den Hintergrund rückt. Doch die Selbstbestimmung eines Menschen endet nicht, wenn sein Leben in welcher Form auch immer geistig oder körperlich beschädigt ist. Die Geschöpflichkeit des Menschen, seine Würde bleibt bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus eine zu achtende und schützende Wirklichkeit – unabhängig von dem Grad der Pflegebedürftigkeit und der Art der körperlichen und geistigen Einschränkungen.

Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd steht er obenan auf der gesellschaftspolitischen Agenda: der alltägliche Rassismus, nicht nur in den USA – also die auf meist gewaltsam vollzogene Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen aus der Menschengemeinschaft aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, religiöser Überzeugung. Schnell wurde in den vergangenen Tagen deutlich, dass der tödliche Polizeiübergriff von Minneapolis ein weltweites Problem offenbart: Wie können Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, weltanschaulicher Überzeugung in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben? Wie können sie, wie können wir dem gerecht werden, dass die Würde des Menschen unteilbar ist? Doch ist das ist seit Jahrhunderten umstritten: dass jedes Menschenleben den gleichen Wert hat – selbst in den christlichen Kirchen. Dabei müssten sie es besser wissen. Schließlich bewahren sie den großen Schatz des biblischen Glaubens, dass jeder Mensch, auch der, der sein Leben verwirkt, der Rechtfertigung durch die Gnade Gottes teilhaftig werden kann und darum auf Erden keine Benachteiligung wie Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben oder Verdammnis wie die Todesstrafe erfahren darf. Immer wieder haben sich auch die Kirchen daran beteiligt, dass Menschen vor allem wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Religion als minderwertig betrachtet wurden und der gewaltsamen Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren. Damit haben sie die Grundwerte des Glaubens mit Füßen getreten. Bis heute ist auch im politischen Bereich Rassismus an der Tagesordnung – etwa wenn rechtsnationalistische AfD-Politiker wie Alice Weidel von „Messermigranten“ sprechen oder Alexander Gauland mal eben feststellt, dass „die Leute … einen Boateng nicht als Nachbarn haben (wollen).“

Nun werden sich etliche fragen, wieso ich drei unterschiedliche Themen auf diese Weise zusammenbinde. Aus meiner Sicht zeigen sie an, wie notwendig für die gesellschaftspolitische Debatte um die Grundwerte unseres Zusammenlebens eine Verankerung des Denkens und Handelns im biblischen Menschenbild ist, um die Orientierung nicht zu verlieren, Grundwerte nicht zu schnell Opportunitätserwägungen zu opfern und sie gegenüber völkischen und rassistischen Bewegungen zu verteidigen. Dieses Menschenbild ist durch drei grundsätzliche Aussagen gekennzeichnet (siehe auch: http://wolff-christian.de/zum-reformationsfest-2015-mein-kleiner-katechismus/):

  • Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ein Stück von Gott in des Wortes doppelter Bedeutung: von Gott gemacht und ein Teil Gottes (so ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu verstehen, vgl. Die Bibel: 1. Mose 1, 27). Er trägt also die Göttlichkeit in sich: „Du hast ihn (den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Die Bibel: Psalm 8,6). Darin liegen die Würde und Achtung des Menschen begründet – unabhängig von seiner Herkunft, seiner körperlichen Beschaffenheit, seines Alters, seiner Überzeugungen. Diese Aussage gilt für jede und jeden, nicht national sondern global.
  • Alles Leben ist endlich. Entscheidend ist nicht die zeitliche Länge des Lebens. Entscheidend ist, dass wir die Zeit, die Gott uns schenkt, sinnvoll und verantwortlich gestalten – in der Hoffnung, dass uns die Fülle des Lebens nach dem Tod bevorsteht. Wir haben keinen Anspruch auf Leben wohl aber allen Grund zur Dankbarkeit für das Leben.
  • Wir Menschen sind fehlbare Wesen. Obwohl wir Menschen trotz aller guten Vorsätze immer wieder an uns selbst scheitern und wissentlich das Falsche tun, begegnet uns Gott als der, der das Böse in Gutes umdenkt und uns durch die Zusage der Vergebung für das so erneuerte Leben wieder in den Dienst nimmt. In diesem Sinn ist Vergebung die Befreiung des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Wer diesen Grundüberzeugungen folgt, kommt nicht umhin, aller militanter Selbstbehauptung des Menschen gegenüber dem Menschen zu widerstehen, der Gleichberechtigung zu dienen und dem demokratisch gestalteten Zusammenleben den Vorzug zu geben. Was aber wird, wenn immer weniger Menschen sich auf einem solchem Fundament bewegen und sich dafür mit einem atemlosen Turboleben einen Überbau schaffen, in dem kein Platz mehr ist für die Endlichkeit,  die Ehrfurcht vor dem Leben und die Würde eines jeden Menschen?

20 Antworten

  1. Auch meinerseits Respekt, Herr Schwerdtfeger, ob Ihres Kommentars!
    Eines ist klar, und dazu wird es ganz sicher unter uns Konsens geben: wir also allesamt als zu respektierende Einzel-Individuen äußern uns zu Sachverhalten (diskurswürdigen), wie sie jeder für sich mit seinen ganz eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen der uns umgebenden, momentaner Realitäten versucht, zu interpretieren bereit und vor allem in der Lage ist.
    Der Spielraum zu einem Sachverhalt, diesen für sich und für andere zu erklären, ist dabei stets tolerant – was ja gut ist und was den Anderen ggf. dazu veranlassen könnte, seine Sichtweise zu überdenken. Das macht – nach meiner Auffassung – eine gute, produktive und respektable Debattenkultur aus.
    Danke!
    Und zu Michael Käfer, der ansichtig Ihres in vielerlei Hinsicht lesens- und vor allem verarbeitungswerten Kommentars die Weiße Flagge hissen möchte, meinerseits die Hoffnung, dass Herr Käfer damit wohl nicht Kapitulation meint, sondern vermutlich seine Kenntnis womöglich darüber ins Feld führt, dass z.B. an Österreichischen Schulen nach Bestehen der Reifeprüfungen (Matura) weiße Flaggen aufgezogen werden.
    Lieber Herr Käfer – auch Sie sind in diesem Blog ein viel zu wichtiger Kommentator, als dass Sie sich „aufgeben“ (bitte auch nicht ergeben) dürfen!
    Zum Thema: Relevanz der Kirchen in unserer Zeit, womit ja neben Vielem auch die von Chr. Wolff thematisierte Friedhofskultur gehört, hätten wir immer wieder ausreichend Gesprächsstoff, zumal dieses Thema zunehmend diskutiert wird und Kirche nach wie vor keine überzeugenden Antworten hat auf drängende Fragen. Daher erscheint es mir immer wieder notwendig, die Stimme u.a. von Chr. Wolff und anderen, auch „Nicht-Kirchlichen“, anzuhören, nachzulesen, dann vor allem miteinander auszutauschen.
    Hinsichtlich dieses Wunsches von mir ist die Haltung Herrn Schwerdtfegers relevant, denn diese zeigt die individuelle Differenziertheit auf, wie man mit einem speziellen, sehr komplexen Thema umgehen kann und dies sachlich-konkret, langwirkend, also perspektivvoll.
    Da ist der Anwurf von J. Müller (Zitat): „Sie (Wolff) lassen als Blogbetreiber einen Militaristen ohne 10 Cente Gefühl für den Nächsten palavern, aber die AFD ist böse, geht so nicht!“ respektlos , unwürdig und ein höchst problematisches „Echo“.
    Mit Gruß – Jo.Flade

  2. Zwei Dinge bewegen mich beim aktuellen Blogeintrag (und einigen früheren) von Christian Wolff besonders:
    • Die drei angesprochenen Themen verdienen eine inhaltliche Diskussion, kommen in den bisherigen Beiträgen aber eher am Rande vor.
    • Eine zunehmende Verrohung, Verunglimpfung, Vereinfachung im Diskurs, sowohl gegenüber Argumenten als auch Personen.

    Ad 1: Einen Niedergang der FRIEDHOFSKULTUR sehe auch ich, führe diesen persönlich aber weniger auf „eine rasant fortschreitende Säkularisierung und der damit verbundenen Kirchenferne“ zurück, als auf sich ändernde Lebenswirklichkeiten. Meine Eltern und Großeltern, auch die meiner Frau, sind auf Friedhöfen in ganz Deutschland beerdigt; wir sind wesentlich häufiger auf dem Südfriedhof in Leipzig unterwegs, als auf einem der Familienfriedhöfe in Baden Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen. Wer aus unserer Familie wo wie lange begraben liegt, daran erinnern uns in schöner Regelmäßigkeit die Grabpflege-Rechnungen aus ganz Deutschland zu Anfang eines jeden Jahres. Präsent in unseren Gedanken, Herzen, öfter auch Gesprächen sind die Verstorbenen dennoch alle nach wie vor. Wir selbst werden aus heutiger Sicht in Leipzig die letzte Ruhestätte finden – mehr als 400 km entfernt von allen Verwandten…
    Mit aktiver STERBEHILFE beschäftigen wir uns seit Jahren immer mal wieder – ohne bislang für uns eine schlüssige/befriedigende/praktikable Lösung gefunden zu haben. Wir glauben, für unseren Hund im letzten Jahr eine verantwortungsvolle Entscheidung getroffen zu haben – aber wer könnte/sollte diese bei entsprechender Notwendigkeit für uns treffen?? Sicher nicht die Ärztin, wie im Artikel in der aktuellen Zeit-Ausgabe geschildert, und auch unseren Kindern möchten wir diese Bürde nicht auferlegen. Wir haben ein erfülltes, glückliches Leben, das wir nach heutigem Erfahrungsstand nicht in Siechtum, Hilflosigkeit oder gar geistiger Umnachtung unbedingt verlängert wissen wollen. Aber gerade der Zeit-Artikel zeigt, dass diese Sicht sich durchaus bei anderen äußeren Umständen verändern kann….
    Auch ich tue mich grundsätzlich schwer mit dem Begriff „RASSE“, habe daher viel Verständnis für die aktuelle Diskussion, im Grundgesetz diesen Begriff zu ersetzen. Dass die Gleichwertigkeit aller Menschen nicht nur in den USA, sondern auch bei uns nicht hinreichend gut umgesetzt ist, steht für mich außerhalb jeden Zweifels. Selbstkritisch muss ich gestehen, oft auch „fremd aussehende Menschen“, denen ich zufällig begegne, zunächst auf Englisch anzusprechen, obwohl sie tatsächlich häufig durch Geburt Deutsche sind! Auch das ist eine Form der Diskriminierung, die ich verstärkt versuchen muss, zu vermeiden! „Racial Profiling“ gibt es tagtäglich in Deutschland – bei der Polizei und vielen anderen Institutionen ebenso wie in der breiten Bevölkerung (Verdachts-unabhängige Kontrollen, Abschluss von Miet- oder Arbeitsverträgen).

    Ad 2: Die unantastbare Würde des Menschen als „Verfassungslyrik“ zu bezeichnen, oder sie einem „hirnlosen Echo“ gar weitgehend abzusprechen, ist infam und nicht bloß „etwas provokant“!
    Argumente oder Meinungen als „dumme Sichtweisen“ oder „Altersstarrsinn“ abzutun, zeugt von zunehmender (Diskussions-) Kulturarmut, die diesem Blog nicht gerecht wird.
    Es werden immer wieder verallgemeinernde Behauptungen als Gegenargumente oder Waffen gegenüber Diskutanten benutzt, die diese so nie geschrieben, geschweige denn gemeint haben: „Sind das alles Nazis?“, „jeder muss in Europa Zuflucht haben“, „Christian Wolff äußert sich als Repräsentant der (ev.) Kirche“ . Nach meinem Kenntnisstand trifft keine dieser Behauptungen zu!

    Ich würde mir wieder mehr Sorgfalt, Aufrichtigkeit und Respekt als Selbstverpflichtung für alle Mitdiskutanten wünschen

    1. @Michael Käfer, leider haben auch Sie mich falsch verstanden, unterstellen mir sogar Infamie. Deshalb nochmal: Von Geburt an besitzt der Mensch eine Würde. Im Gegensatz zur Formulierung des Grundgesetzes ist diese jedoch antastbar. Das Grundgesetz gibt demjenigen, dessen Würde angetastet wurde, einen Rechtsanspruch, den Rechtsverletzer zur Verantwortung zu ziehen, die Würde wieder herzustellen.
      Das Bundesverfassungsgericht hat mehrere Entscheidungen unter Bezugnahme auf Art. 1 GG getroffen, sh. z. B. seine Entscheidung zum Luftsicherungsgesetz, wonach Menschen in einem Flugzeug, das mit einem Sprengsatz auf ein vollbesetztes Fußballstadion zurast, nicht durch Abschuß des Flugzeugs getötet werden dürfen.

      Das ist meine subjektive Meinung. Wer will, findet im Netz zum Inhalt des Art. 1 GG umfangreiche Ausführungen, nicht jedoch zur Kritik an der Formulierung. Es existiert jedoch die Auffassung, dass selbst der größte Verbrecher niemals die Würde eines Menschen antasten könne. Vielleicht haben die Väter des Grundgesetzes es so gesehen.

      1. In diesem Zusammenhang eriinere ich an die Rede des SPD-Abgeordneten Otto Wels vom 23. März 1933 im Deutschen Reichstag anläßlich Hitlers Ermächtigungsgesetz:

        „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

      2. Okay Herr Plätzsch, ich habe also Ihren Satz „die Formulierung ‚ist unantastbar’…ist Verfassungslyrik“ falsch verstanden. Das muss ich hinnehmen, weiss aber nicht, wie ich ihn richtig oder anders hätte verstehen sollen ?!? Auch Ihre Beispiele (Luftsicherungsgesetz, „auch der größte Verbrecher kann niemals die Würde eines Menschen antasten“) helfen mir da nicht weiter.

  3. Drei Themen verbinden Sie, lieber Herr Wolff – Friedhofskultur, aktive Sterbehilfe und alltäglichen Rassismus – und schreiben, man mag sich wundern. Ich kann Ihre Begründung nachvollziehen, wobei sie aber eigentlich nur auf die ersten beiden Stichworte zuzutreffen scheint: Christliche – so meinen Sie es ja wohl – „Orientierung nicht verlieren, Grundwerte nicht Opportunitätserwägungen opfern“. Denn Friedhofskultur und die ganze Frage der Sterbehilfe haben zu tun mit der seit langem anerkannten „Unsterblichkeit“ des Menschen im christlichen Weltbild. Die Frage der Toleranz gegenüber dem und Anerkennung des Menschen in seiner ganzen Vielfalt – ich vermeide hier den, wie mir scheint, völlig überflüssigen Streit um den Begriff „Rasse“ – ist dagegen eine noch unbewältigte Aufgabe der Menschheit ganz unabhängig von ihrer religiösen Einstellung, denn sie betrifft im aufgeklärten Zeitalter Jeden, auch den Nichtchristen, den Nichtgläubigen, den Agnostiker, den Zyniker. Aber vielleicht mache ich hier einen Unterschied, der eher unbedeutend ist.
    Sie ziehen sodann Konsequenzen aus Ihrer Erkenntnis, die alle nachvollziehbar sind und Ihrer christlichen Grundeinstellung einsprechen. Aber Ihre richtigen Erkenntnisse sind natürlich nicht aufs Christliche eingegrenzt – sie sind im Gegenteil in unserem demokratischen Menschenbild auch auf alle Nichtchristen übertragbar, denn sie beschreiben den Menschen der amerikanischen Verfassung, der französischen Revolutionsideale, des deutschen Grundgesetzes – alles Produkte der philosophischen Aufklärung des 17. bis 19. Jahrhunderts. Ich freue mich insofern, daß Sie indirekt anerkennen, was ich neulich in anderem Zusammenhang schrieb, daß nämlich unser Menschenbild – geprägt mehr von der Aufgeklärtheit von Menschen, die dem christlichen Glauben eher fernstanden, als von den Kirchen – von einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen, mit eigener Initiative und eigenem Ehrgeiz begabten und in ihrer Vielfalt auch zu unterschiedlichen, eben vielfältigen Leistungen und Ergebnissen fähigen Persönlichkeit ausgeht und dies ganz unabhängig von ihrer Haltung und Meinung zur Religion. Daß aus diesem Menschenbild dann in logischer Konsequenz hervorgeht, daß bei aller Gleichheit vor dem Gesetz – in ideeller Hinsicht, zB Würde, und in materieller Hinsicht, zB Rechtssicherheit – jedes Individuum entsprechend seinen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Anlagen unterschiedlich weit kommt, ist also systemimmanent und gewollt und darf bei allen Mühungen um sozialen Ausgleich nicht herablassend oder gar anklagend bewertet werden.
    In Ihren Antworten auf verschiedene Einlassungen hier äußern Sie sich dezidiert zum Grundgesetz: Es ist … es sagt … es stellt fest … . Formal ist das alles sicherlich richtig und dennoch: Es bleibt in jeder Formulierung neben ihrer inhaltlichen Aussage ein Interpretationsspielraum – nicht unsonst spricht man häufig von „Inhalt und Geist“ eines Dokuments. Und der demokratische Diskurs wird neben (Ihren) klaren, aber eben persönlichen Äußerungen sicher auch diesen Spielraum akzeptieren. Ein Beispiel: „Das Grundgesetz stellt fest, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass diese deswegen zu achten und zu schützen ist. Das ist kein Anspruch, sondern eine Aufgabe!“, so schreiben Sie richtig, ohne Zweifel! Aber sie vergessen zu erwähnen, daß diese Aufgabe vorrangig (!) beim Individuum liegt, nämlich bei jedem einzelnen Menschen in unserem demokratischen System. Der Staat achtet nach diesem Grundsatz (nur) darauf (keine Kleinigkeit!), daß kein anderer die Würde des einzelnen verletzt – aber NUR der einzelne kann in seiner selbstbestimmten Menschlichkeit darauf achten, daß er selbst nicht seine Würde verletzt (zB durch Verbrechen oder rassistische Hetze – ist das nicht Ihr Hauptargument gegen die AfD?).
    Ich grüße Sie (wie immer übrigens mit Respekt).
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Kompliment, Herr Schwerdtfeger! Ich kann, angesichts Ihres Textes – semantisch und intellektuell – nur die weiße Fahne hissen!

  4. Liebe Christian, wo fordert die lBibel, dass jeder in Europa Zuflucht haben müsse?
    Linksradikale und Ultrarechten laben in einer modernen Demokratie ihren Platz, bitte daran gewöhnen! Sie lassen als Blogbetreiber einen Militaristen ohne 10 Cente Gefühl für den Nächsten palavern, aber die AFD ist böse, geht so nicht!

    1. 1. Die Bibel geht davon aus, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, dem wir weder Achtung noch Würde absprechen dürfen. Außerdem hat Jesus in der Bergpredigt das Gebot der Nächstenliebe um die Feindesliebe ergänzt. Beides ist auf die jeweilige gesellschaftspolitische Situation zu beachten und anzuwenden.
      2. Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass ich in der Kommentarfunktion sehr unterschiedliche Meinungen veröffentliche. Kriterium ist: die Kommentare dürfen nicht anonym und nicht beleidígend sein.
      3. Die AfD ist nicht „böse“. Sie ist eine rassistische, völkische, rechtsnationalistische Partei, die das „System“ der freiheitlichen Demokratie abschaffen will.
      Christian Wolff

  5. Verehrter Herr Plätzsch – das Grundgesetz, und vor allem der Artikel 1 ff. mit verfasster Lyrik zu verwechseln, ja gleichzusetzen und noch noch weiter zu verwischen mit Naturgesetzen…Ich bitte Sie, hier sollten Sie noch einmal ganz unemotional und vor allem im historischen Kontext zur gesellschaftlichen Realität die Sachlichkeit überdenken. Vor allem entgeht mir, wohin Sie mit Ihren aus meiner Sicht teils sehr kurzatmigen Einwürfen wollen. Die Damen und Herren von vor 71 Jahren nach einem verheerenden Weltkrieg mit Millionen Toden und zerbombten Städten als Lyriker zu diffamieren und als „Wunschvorsteller“ zu deklassifizieren, halte ich für höchst fahrlässig und für falsch. Außerdem: nach einem untergegangenen, einst bis 1989 erfahrenen, 40 Jahren andauernden SED-DDR-STASI-Regime, empfinde auch ich das GG als Stabilität für eine freiheitliche Demokratie. Dass man dies und jenes heute gern anders formulieren würde, vielleicht. Allein an der gerade aufbrechenden Debatte, ob man den Terminus Rasse herausnehmen, ändern, weglassen sollte zeigt sich auf, wie problematisch Neufassungen wären…Und nach 71 Jahren wird doch immer wieder neu ziemlich deutlich, wie solide 1949 gedacht und entschieden wurde – Gott sei Dank!
    Die Verfassungsgebende Versammlung damals in die Kategorie Lyriker zu verbannen, sollten Sie noch einmal präzise überdenken und korrigieren.
    Es würde dem Diskurs und dem Selbstverständnis in jeder Hinsicht sehr gut tun.
    Jo.Flade

    1. Okay, Herr Flade, ich gebe Ihnen zu, dass meine Posts etwas provokativ waren. Aber sie bezogen sich nur auf e i n e Formulierung, keineswegs auf das Grundgesetz und seine Schöpfer im Ganzen.

  6. Eine Aufforderung zum Handeln sehe ich in der Formulierung „ist unantastbar“ gerade nicht. Das etwas von einem Naturgesetz an sich, ist Verfassungslyrik.

    1. Artikel 1 GG ist alles andere als ein Naturgesetz und schon gar keine „Verfassungslyrik“. Es ist die Präzisierung der Menschenrechtscharta von 1948 und mit ihr zusammen eine Konsequenz aus den verheerenden politischen Entwicklungen und Verbrechen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte (Rassismus, Holocaust, Sklavenhandel, Euthanasie). Dass diese aber nicht vergangen sind, erleben wir jeden Tag.

  7. Zu den Grundsätzen des irdischen Zusammenlebens, wie von Chr. Wolff nicht nur aus gegenwärtiger Situation heraus konkret, präzise und genau dargelegt, möchte ich – ganz bewusst in diesem Blog – gern hinzufügen, nämlich den Begriff RESPEKT kurz vorzustellen, wie er unlängst an anderer Stelle formuliert wurde:
    Respekt ist das Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, und zugleich die Zentrifuge, die sie auseinandertreibt. Respekt als Begriff ist mehrdeutig, vielschichtig, unpräzise, bisweilen sogar widersprüchlich; Synonym für Angst oder für die Vorsicht vor einer anspruchsvollen, vielleicht gefährlichen Aufgabe. Respekt vor dem Alter, staatlichen Institutionen. Und Respekt vor einer Leistung , die jemand vollbracht hat (z.B. einem Blog oder Kommentar dazu), gern auch vor eigenen Leistungen. Wer Respekt fordert, meint deshalb oft etwas anderes als den Respekt, den er oder sie selbst zu erweisen bereit ist. Wie kann Respekt funktionieren und gelebt werden in einer zunehmend digitalisierten und globalisierten Welt, in der wir uns oft nur noch medial vermitteln, sogar anonym begegnen ?
    Es lohnt sich, zu versuchen, sich diese Fragen selbst zu beantworten.
    Jo.Flade – mit Dank an Chr. Wolff!

  8. Wir befinden uns offensichtlich in einer Zeit des Umbruches in der Begriffe, wie leider auch die „Würde des Menschen“ nach utilitaristischen Grundprinzipien umdefiniert und egoistisch behaftet werden. Dies führt in ein narzisstisches Anspruchsdenken mit materiellen „Göttern“ was ethisch veränderte Auffassungen an die „Würde“ setzt, und nicht nur in Orientierungslosigkeit endet. Die Kirche wäre hier gefragter denn je. Doch selbstredend versagt sie auf ganzer Linie anstatt Farbe zu bekennen, und bw. Antworten zu geben auf Äußerungen von Schäuble und OB Palmer, die extremen Infektionszahlen mit entsprechend hohen Todesraten in Ländern mit sogenannter Herdenimmunitätsstrategie, oder auch Menschengruppen die gegen Koronasicherheitsauflagen demonstrieren.

  9. Dankbarkeit ist, als Vorschlag, auch Wertschätzung für das Leben an sich.
    Das finde ich nachvollziehbar, und wert-voll.

    Davon her dann die Frage: Was ist es, was jedem individuellen Leben einen, seinen, Wert verleiht?

    Wir kennen die Zukunft? Eher nicht. Welches Recht habe ich, oder Sie, auf das Morgen? Wieviel davon, Wieviel davon für mich allein? Wieviel Recht gibt es auf den nächsten Tag?

    „Ehrfurcht vor dem Leben“ an sich ist das Wort von Jemand, der sich dafür persönlich in den afrikanischen Urwald begeben hat. Mündend: in eine Dankbarkeit der Tat.

  10. „Wir haben keinen Anspruch auf Leben wohl aber allen Grund zur Dankbarkeit für das Leben.“
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    Seit der Stunde meiner Geburt habe ich einen (auch gesetzlich fixierten) Anspruch auf mein Leben. Das Grundgesetz geht noch weiter:Danach habe ich sogar den Anspruch, mein Leben in Würde zu führen.Meinen Eltern bin ich dankbar, dass sie mir das Leben schenkten. In der DDR wurde man häufig daran erinnert, dem Staat dafür dankbar zu sein, dass man studieren durfte. Es reicht jetzt mal!

    1. 1. Das Grundgesetz stellt fest, dass die Würde des Menschen unantasbar ist und dass diese deswegen zu achten und zu schützen ist. Das ist kein Anspruch, sondern eine Aufgabe!
      2. Danken hat nichts mit Unterwürdigkeit, sondern mit Denken zu tun. Das Gegenteil von Dankbarkeit ist nicht die Undankbarkeit, sondern die Gedankenlosigkeit.
      Christian Wolff

      1. Die Formulierung des Grundgesetzes, wonach die Würde des Menschen unantastbar sei, ist eine Wunschvorstellung. Denn selbstverständlich wird die Würde auch angetastet. In diesen Fällen kann man sich erfolgreich an Gerichte wenden, um seinen Rechtsanspruch durchzusetzen.

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