Man erinnere sich: Zu Beginn der 80er Jahre konnte die Friedensbewegung in Westdeutschland in Reaktion auf den damaligen NATO-Doppelbeschluss Hunderttausende Menschen mobilisieren, um gegen die Aufstellung von atomar bestückten Pershing II Raketen zu protestieren und Abrüstungsverhandlungen einzufordern: „Frieden schaffen ohne Waffen“. Schon damals wurde der Friedensbewegung unterstellt, sie sei von Moskau gesteuert und von Kommunisten unterwandert. Persönlich habe ich mir oft genug auf dem Mannheimer Paradeplatz anhören müssen: „Geh doch nach drüben!“ Tatsache war aber, dass die unzähligen, vor allem auch kirchlichen Friedensgruppen in ihrer erdrückenden Mehrheit weder fremdgesteuert noch unterwandert waren. Sie folgten dem biblischen Friedensauftrag und dem Vorrang für nichtmilitärische Konfliktlösungen. Hinzu kam, dass die von der DDR aus unterstützte DKP (Deutsche Kommunistische Partei) in Westdeutschland immer eine Splitterpartei blieb. Vor diesen falschen Freunden musste sich niemand fürchten.
Unter schwierigen Umständen arbeiteten Teile der westdeutschen Friedensbewegung mit den kirchlichen Friedensgruppen in der DDR zusammen. Beiden ging es um ein Ende der atomaren Aufrüstung in Ost und West. Dem dienten die jährliche Friedensdekade und der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, der in den 80er Jahren zu einer weltweiten ökumenischen Bewegung wurde. Nun standen aber die kirchlichen Friedensgruppen in der DDR in Opposition zum SED-Regime. Denn dieses reklamierte für sich, alleinige „Friedensmacht“ zu sein. Wer für den Frieden eintreten wollte, musste sich der SED-Ideologie unterordnen. So trat der „Friedensrat der DDR“ „für den Weltfrieden, Entspannung, für friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, für Abrüstung, Freiheit, nationale Unabhängigkeit und für die Abschaffung von Neokolonialismus sowie Rassismus und für antiimperialistische Solidarität“ ein, hatte aber mit der Militarisierung des Alltags, mit Wehrkundeunterricht und der Aufrüstung der Sowjetunion keine Probleme. Kein Wunder, dass da der biblische Slogan der kirchlichen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ zur ideologischen Bedrohung wurde, zumal die kirchlichen Friedensgruppen auch Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit forderten. Mit Macht versuchte die SED durchzusetzen, dass alles, was sich in der DDR auf Geheiß der SED vollzog, dem Frieden diente. Wer dem nicht folgen wollte, war per Definition gegen den Frieden. Er wurde verdächtigt, im Dienste des amerikanischen Imperialismus und des westdeutschen Revanchismus zu stehen.
Über 40 Jahre später und 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution stehen sich Europa und Russland erneut feindlich gegenüber. Russland versucht seit Jahren, seinen Machtbereich durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu erweitern. Damit will Russland die Eigenständigkeit des Staates Ukraine verhindern, so wie Russland den Diktator Alexander Lukashenko 2020/21 massiv unterstützt hat, als er die Demokratiebewegung in Belarus zerschlug. Die Ukraine wird in dem seit dem 24. Februar 2022 andauernden Krieg mit Waffen aus den USA und Europa, insbesondere auch aus Deutschland unterstützt. Jetzt sollen in Deutschland wieder Mittelstreckenraketen der USA stationiert werden. Zwar ist nach dem 24.02.2022 keine Friedensbewegung entstanden. Aber gerade in Ostdeutschland werden die militärische Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und die vorgesehene Stationierung der Mittelstreckenraketen von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung abgelehnt. Davon profitieren im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zwei Parteien: die rechtsradikale AfD und das BSW, also die ein-Person-Bewegung Sahra Wagenknecht.* Beide Parteien plakatieren: „Frieden ist alles“ (mit deutscher und russischer Fahne unterlegt), „Krieg oder Frieden – Sie haben jetzt die Wahl“, „Diplomatie statt Kriegstreiberei“.
Auffällig ist, dass AfD wie BSW im Blick auf den Ukrainekrieg immer davon ausgehen, dass Wladimir Putin keine andere Wahl gehabt hätte, den Krieg gegen die Ukraine zu führen: Putin, ein Opfer der NATO-Expansionsgelüste. Jetzt müsse mit ihm gesprochen werden, damit der Krieg durch Verhandlungen und Diplomatie so schnell wie möglich beendet wird. Wie das zu geschehen hat, erfährt man weder von der AfD noch vom BSW. Allerdings setzen beide große Hoffnungen auf Autokraten wie Donald Trump und Viktor Orbán. So wünscht sich die AfD Trump als nächsten Präsidenten der USA, der ja behauptet, den Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden. Sahra Wagenknecht lobt Viktor Orbán für seine „Friedensmission“ bei Putin. Was weiter auffällt: Die Ukraine als souveräner Staat, also die Bevölkerung der Ukraine, spielt bei AfD wie BSW keine Rolle. Insofern war es konsequent, dass sowohl die Bundestagsabgeordneten der AfD wie des BSW bei der Rede des Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj den Bundestag verließen. Sie haben damit gezeigt, dass sie mit diesem frei gewählten Präsidenten und damit mit der Bevölkerung der Ukraine nichts am Hut haben. Mehr noch: AfD wie BSW haben nicht begriffen (können es aufgrund ihrer Programmatik auch nicht), dass es in der Auseinandersetzung um die Ukraine und in einer zukünftigen europäischen Friedensordnung ganz wesentlich darum geht, wie sich Freiheit und Demokratie in den Gesellschaften weiterentwickeln, und ob es gelingt, den voranschreitenden Autokratismus zurückzudrängen.
Auch wenn ich aus meiner pazifistischen Grundhaltung nichtmilitärischen Konfliktlösungen den Vorzug gebe, auch wenn ich die Kritik an der Bundesregierung teile, dass derzeit viel zu wenig um die zukünftige europäische Friedensordnung gerungen wird, auch wenn ich den einsam gefassten Beschluss zur Aufstellung von Mittelstreckenraketen ohne Abrüstungsperspektive für fatal halte – mit falschen Freunden sollte man niemals gemeinsame Sache machen. Viel zu durchsichtig ist das rein taktische Verhalten von AfD und BSW in der Friedensfrage. Viel zu plump bedienen sie sich eines Friedensbewusstseins in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, das sich nach wie vor speist aus den hohlen Friedensphrasen der DDR-Zeit und gleichzeitig verdrängt, dass „Schwerter zu Pflugscharen“ und Demokratieverachtung nicht zusammengehen.** Dass dazu noch die Parolen aus der kirchlichen Friedensbewegung und der Friedlichen Revolution missbraucht werden, gehört zu den Unappetitlichkeiten, die beide Parteien den Bürger:innen schamlos zubereiten. Bleibt nur noch die Unverschämtheit, die SPD als „Kriegspartei“ oder „Kriegstreiber“ zu verunglimpfen – und das durch Leute, die an den Grenzen Schusswaffen gegen Geflüchtete einsetzen wollen und mit autokratischen Kriegsherren paktieren.
Darum kann es für mich und hoffentlich viele andere bei der Landtagswahl am 1. September 2024 nur heißen: Ich wähle nach wie vor die Partei, die aufgrund ihrer Geschichte wie ihrer tatsächlichen Politik bewiesen hat, dass sie das Friedensprojekt Europa weiter fördern wird und deswegen ihre Politik an dem Grundsatz Willy Brandts ausrichtet „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Darum geht meine Stimme an die SPD.
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* Zusammen mit ihrem Mann Oskar Lafontaine hat Sahra Wagenknecht zwei Parteien zu zerlegen versucht (die SPD und DIE LINKE); sie hat ein 2018 großspurig inszeniertes Bündnis „Aufstehen“ in den Sand gesetzt; schließlich erwies sich auch die am 24.02.2023 ausgerufene „Friedensbewegung“ als Rohrkrepierer. Mal sehen, was vom BSW 2026 übrig geblieben ist …
** In den Diskussionen, die ich derzeit mit vielen Bürger:innen auf der Straße führe, höre ich fast stereotyp: Die SPD ist Kriegspartei … Das, was sich in der Ukraine seit 2014 abspielt, ist von den USA gesteuert … Selenskyj ist eine Marionette des Weißen Hauses … die Ukraine wird von Oligarchen geführt … Russland musste sich gegen die Übermacht der NATO wehren … Europa muss sich von der Hegemonialmacht USA befreien … Die Überlegung, dass es in der Auseinandersetzung auch um die Demokratie in der Ukraine geht, spielt so gut wie keine Rolle bzw. wird mit der Bemerkung beiseitegeschoben „die haben wir hier ja auch nicht“.
17 Antworten
In der Phoenix-Runde zum Thema „75 Jahre GG –wie steht es um die Menschenrechte“ heute (Sonntag mittag) gab es neben einem sehr berechtigten Hinweis des Philosophen Wolfram Eilenberger auf das manchmal etwas lächerliche – und jedenfalls häufig heuchlerische – Harmoniebedürfnis der Deutschen (gelegentlich als Anstandsgebot getarnt) – wir haben ja hier im Blog zwei Vertreter dieser Kategorie Mensch – den schönen Satz des Kabarettisten Florian Schroeder: „Wir profitieren ja auch vom Schwachsinn“, als es um bestimmte Meinungen ging. In diesem Sinne also muss ich Moldt danken für sein Sammelsurium an Geschichtsverfälschung, Verschwörungstheorien und an politisch-strategischer Unkenntnis bezogen auf die von ihm akribisch erwähnten Vorkommnisse, das mich zunächst erschüttert hat. Und ich muss leider auch Lerchner danken, der ja zwar viel Richtiges schreibt, aber eben als Wagenknecht-Fan auch an Realitätsmangel leidet. Und schließlich, lieber Herr Wolff, wie immer, in diesem Sinne auch Ihnen meinen Dank, der Sie sich vermeintlich doch so für die ukrainische Bevölkerung einsetzen. Die Mitglieder der Bundesregierung jedoch haben einen Eid geschworen, Schaden vom DEUTSCHEN Volk abzuwenden – nicht vom ukrainischen – und deshalb gilt wohl meine These doch, dass Deutschland und der Westen die eigenen Interessen definieren und verfolgen sollten (und dabei so weit wie möglich auch gerne die ukrainischen berücksichtigen, insbesondere weil, wie dargestellt, diese sich gar nicht widersprechen müssen).
Politik ist Interessenvertretung. Natürlich werden auch Fehler gemacht. Diese lassen sich immer besonders gut im Nachhinein feststellen. Die amerikanische Politik ist interessengeleitet – und die Sicherheit und Freiheit Europas stellt glücklicherweise ein amerikanisches Interesse dar – und dies ist normal. Die deutsche Politik nach dem 2. Weltkrieg war – und ist bis heute – auch interessengeleitet, aber unter dem Motto des Abbauens von Schuld für die Verbrechen der Nazizeit; und eine solche Politik wird von unseren Alliierten drei Generationen später zu Recht immer mehr als anachronistisch und als Alibi empfunden. Und wir Deutsche selbst, die wir uns unserer Friedensfähigkeit rühmen, haben unter dem Friedenskanzler Brandt jährlich rund 5% des BIP für Verteidigung ausgegeben. Dies enthielt allerdings die Stationierungskosten, sodass wir mindestens teilweise in typischer Selbstreinwaschung sagen können: Die Waffen haben andere bezahlt, wir haben ja nur ihre Kasernen unterhalten.
Sich mit Moldt auseinanderzusetzen, lohnt nicht. Ihnen, lieber Herr Wolff, sei aber gesagt, dass Sie in zwei Punkten irren:
1. Die grössten Verbrechen der Nazis wurden, wenn man das überhaupt „aufrechnen“ kann, in Polen verübt, nicht in der Ukraine. Diese dagegen hat leider in vielen Fällen „mitgemacht“
2. Jaruszelski war kein angenehmer Präsident Polens. Aber seine Ausrufung des Notstandes, die ihm in der Tat diktatorische Vollmachten gab, hat Polen vor einem sowjetischen Einmarsch bewahrt, wie sich die Historiker heute weitgehend einig sind.
Andreas Schwerdtfeger
Ich müsste wohl an Alzheimer leiden (was mir hoffentlich erspart bleibt), um zu meinen, Neues erfahren zu haben.
So bleibt es (wie schon mehrfach gesagt) halt nur langweilig, wenn einem mal wieder das „manchmal lächerliche – jedenfalls häufig heuchlerische – Harmoniebedürfnis (gelegentlich als Anstandsgebot getarnt)“ und die Erkenntnis „ wir profitieren ja auch vom Schwachsinn“ vorgehalten wird.
Damit ist eigentlich auch schon viel zu viel zu der aktuellen Lautsprecheransage gesagt…
Die aktuelle Politik der SPD in Kontinuität mit der Brandt’schen Entspannungspolitik zu sehen, ist ein Witz. Man schaue sich nur den Beschluss des SPD-Präsidiums vom 12.08.2024 an („Wir organisieren Sicherheit für Deutschland und Europa“, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Parteispitze/PV_2024/20240812_Beschluss_PS_Sicherheit.pdf). Dieser Beschluss ist ein einzigartiges Dokument der Unfähigkeit, die militär-strategische Lage in Europa realistisch darzustellen, geschweige denn, eine sinnvolle Politik zum Erhalt von Sicherheit und Frieden zu entwickeln. Deshalb ist die Vorstellung absurd, vor „falschen Freunden“ einer nicht existierenden, herbeiphantasierten SPD-Friedenspolitik warnen zu müssen. Es geht m. E. vielmehr darum, die Opposition gegen die derzeitige friedensfeindliche Politik der SPD und der mit ihr verbündeten Parteien zu stärken. Meine Kritik am besagten Präsidiumsbeschluss ist die folgende:
– Auch die SPD will der Bevölkerung weismachen, dass der jüngste Beschluss zur Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sei. Dass es sich jedoch um eine Maßnahme der Amerikaner handelt, die bereits vor Ausbruch des Ukrainekrieges beschlossene Sache war (13. April 2021), und Bestandteil einer langfristigen Strategie zur Wahrung der nuklearen Vorherrschaft („military primacy“) ist, wird verschwiegen. Warum wohl?
– Die SPD übernehme die „Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder einen Krieg erleben muss“, ist eine hohle Phrase. Die Raketen unterstehen der Kommandogewalt der USA.
– Durch die Raketenstationierung nimmt die Bedrohung von Sicherheit und Frieden in Deutschland und Europa nicht ab. Im Gegenteil. Es wird ein neuer Rüstungswettlauf entfacht, Rüstungskontrollvereinbarungen werden behindert und wegen verkürzter Vorwarnzeiten erhöht sich die Gefahr von Kurzschlussreaktionen (Siehe die jüngste Debatte hier in diesem Blog).
– Im SPD-Papier wird die Mär von einer angeblich „systematischen Aushöhlung und Aufkündigung von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen“ durch Russland zum wiederholten Male aufgewärmt. Dass diese auf einer unverschämten Verdrehung von Tatsachen beruht, wurde hier auch schon mehrfach belegt (Der Verweis auf das neue Verheugen/Erler-Buch ist sehr gut. Der aktuelle Stand der Erkenntnisse ist darin sachkundig zusammengefasst).
– Die SPD will „auch weiterhin den Weg der Diplomatie konsequent vorantreiben“, steht im Papier. Wenn mit den „laufenden Friedensgesprächen“ Veranstaltungen wie auf dem Schweizer Bürgenstock gemeint sein sollen, ist das der blanke Hohn. Bei der von Selenski initiierten Veranstaltung sollte es um Ultimaten an die Adresse Russlands gehen. Das konnte nur erfolglos enden.
Am letzten Freitag (16.08.2024) hatte im Leipziger Haus des Buches eine gut besuchte Veranstaltung mit Michael von der Schulenburg (MdEP) stattgefunden, einer der herausragenden Persönlichkeiten, die Frau Wagenknecht für die Mitarbeit im BSW gewinnen konnte. Michael von der Schulenburg war lange Zeit als Sonderbeauftragter der UN im Iran, im Irak und in Syrien unterwegs und hatte die weltweit die erste integrierte Peacebuilding-Mission in Sierra Leone geleitet. Er hat in der stattgefundenen Diskussion wiederholt klargemacht, dass es bei der friedlichen Beilegung tiefreichender internationaler Konflikte um das Herausarbeiten und Erkennen der essentiellen Interessen aller beteiligten Konfliktparteien geht und dass, will man erfolgreich sein, jegliches Moralisieren beiseitegeschoben werden muss. Offenbar mangelt es gerade daran bei deutschen Politikern. Beim Ukraine-Kriege sollte es gar nicht mehr so schwierig sein, meinte er, habe es doch die Istanbuler Verhandlungen gegeben.
Dass Sie sich als braver Parteisoldat bemüßigt fühlen, immer wieder mit den gleiche albernen Unterstellungen und Verdrehungen auf AfD und neuerdings insbesondere auf den BSW einzuschlagen, sei geschenkt. Wahlkampf geht eben leider so. Es wird nicht viel bringen. Bei der Bundestagswahl am 19. November 1972 konnte die SPD vor allem dank der Brandt’schen Entspannungspolitik 45,8 Prozent der Stimmen erringen. Bei den Wahlen im kommenden September steuert Ihre Partei wahrscheinlich auf ein neues Desaster zu. Und das ist gut so.
Lieber Herr Lerchner, Ihre Triumpfgefühle kann ich subjektiv nachvollziehen. Allerdings sollten Sie darauf achten, dass darüber nicht verlorengeht, wer im Ukrainekrieg Täter und Opfer ist. Auch finde ich es inzwischen sehr auffällig, mit welcher Hingabe bei allen mit viel Querverweisen vorgebrachten Argumenten konsequent die Interessen der Ukraine als souveräner Staat und ihrer Bevölkerung ausgeklammert werden. Wahrscheinlich ist Ihnen gar nicht bewusst, wie sie damit dem Putin-Narrativ folgen, wonach die Ukraine irgendwie aufgeteilt werden muss, aber ein Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung natürlich nicht infrage kommt.
In der ZEIT 33/2024 wurde ein Gespräch mit Klaus von Dohnanyi geschildert. Da heißt es: „Darf man Stabilität in Europa auf Kosten der Unfreiheit anderer Völker anstreben? »Wenn es einen Weltkrieg verhindert, dann darf man das selbstverständlich«, ruft Dohnanyi aus und richtet sich in seinem Stuhl jetzt erstaunlich schnell auf, die Augen weit aufgerissen. Niemand bei uns, so erläutert er dann, wieder ruhiger und zurückgelehnt, sei mit dem politischen System in Russland einverstanden. Aber: »Wenn man Frieden für Deutschland will, Sicherheit für unsere Kinder und Enkel – dann kommt es nicht darauf an, wie Russland regiert wird. Dann kommt es darauf an, wie ich als deutscher Politiker verhindern kann, dass hier wieder Bomben abgeworfen werden – das ist das Entscheidende.« Da sei er ganz bei Helmut Schmidt, der einmal gesagt habe: »Wir haben kein Interesse daran, als zerstörtes Land erneut befreit zu werden.«
Es gibt ein berühmtes Zitat von Egon Bahr, dem Architekten der Ostpolitik, aus dem Dezember 1981. Die polnische Regierung hatte damals das Kriegsrecht verhängt, um landesweite Arbeiterproteste zu zerschlagen. Brutal und mit aller Entschiedenheit. Bahr merkte dazu lapidar an, der Frieden sei wichtiger als Polen. Deine Unfreiheit sichert meinen Frieden – diese Denktradition ist mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine wieder populärer geworden. Und im Fall des Bündnisses Sahra Wagenknecht sogar Partei.“
Das ist eine Position, die ich noch nie teilen konnte und auch nicht teilen will: weder im Blick auf die imperialistischen Auswüchse der USA (z.B. Chile 1973) noch im Blick auf die UdSSR oder Russland. Sie ist anmaßend ergoistisch. Gerne können Sie das als „Witz“, „albern“ oder „moralisierend“ bezeichnen. Darum wird auch meine kritische Haltung zur Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland 2026 nichts daran ändern, dass ich die jetzige Haltung von AfD und BSW zum Ukraine-Krieg für verwerflich halte (und es ist ja offensichtlich, dass derzeit das BSW keine Stimmen von der AfD auf sich ziehen kann – warum auch, wenn es diese Kongruenz in den Haltungen gibt). Beste Grüße, Christian Wolff
P.S. Etwas putzig mutet es an, wenn Leute, die sich ach so rational in Sachen Krieg und Frieden geben und mit viel Verständnis einem Killer-Autokraten begegnen, mich als „braven Parteisoldaten“ bezeichnen, der offensichtlich nur noch in der Lage ist, das ihm Vorgebene gehorsam wiederzukäuen. Könnte es sein, dass da nur eigene innere Momente auf andere projiziert werden?
Der „brave Parteisoldat“ Wolff hat vor einigen Jahren den sächischen SPD-Minister Dulig als „Schwiegermuttertyp“ verspottet. Das nur ein kleines Beispiel.
Grüße aus der Ev. Akademie Tutzing am Starnberger See.
„Dass es sich jedoch um eine Maßnahme der Amerikaner handelt, die bereits vor Ausbruch des Ukrainekrieges beschlossene Sache war (13. April 2021), und Bestandteil einer langfristigen Strategie zur Wahrung der nuklearen Vorherrschaft („military primacy“) ist, wird verschwiegen.“
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Wäre es zur Sicherung der „amerikanischen nuklearen Vorherrschaft“ nicht sinnvoller, Atomraketen statt konventioneller in Deutschland zu stationieren? Rußland hat im 260 km von Warschau entfernten Kaliningrad ca. 100 Atomsprengköpfe stationiert. Beachtenswert auch die Stationierung russischer Kernwaffen in Belarus.
Selbstverständlich sollte man stets bedenken, mit wem man sich gemein macht, wen man zitiert, wen man verhöhnt, oder gar verspottet.
Bei vielen Blog-Beiträgen der vergangenen Wochen, ging mir durch den Kopf:
Es stimmt, verschiedene Regierungen der USA haben gravierende Fehler gemacht, Menschenrechte verletzt, demokratische Spielregeln mit Füßen getreten. Auch auf Regierungen in Israel trifft das zu (insbesondere auf Netanjahu).
Mir ist aber nicht erinnerlich, dass Christian Wolff oder andere in diesem Blog jemals Gegenteiliges behautet hätten!
Warum dann der ganze Furor, gepaart mit massiver Apologetik in Richtung Putin? Er ist (auch) Aggressor und Menschenrechtsverletzer; persönlich kann ich mir keine Friedenslösung in der Ukraine mit ihm vorstellen, aber da mag ich falsch liegen.
Die NATO als Aggressor und (einseitiger) Vertragsbrüchiger – das mag man so sehen, aber hat sie z.B. Schweden und Finnland mit unlauteren Mitteln in eine Mitgliedschaft gezwungen?
Unser Wohlstand, unsere Demokratie, demnächst 80 Jahre Frieden in Deutschland, die Wiedervereinigung, das alles verdanken wir beileibe nicht (nur) uns selbst, sondern ganz wesentlich den USA und der NATO, aber auch den Tschechen, Ungarn, Polen, Frankreich, der EU, natürlich auch der Sowjetunion (und der Zuwanderung von Arbeitskräften seit Beginn der 60er Jahre).
Große Sorgen bereitet mir das Wieder-Erstarken des Nazi-Gedankengutes (AfD und verwandte Rechtsextremisten) und neuerdings die Erfolge in Umfragen der, in meinen Augen ziemlich inhaltsleeren und populistischen Personenkult-Bewegung BSW.
Stabile Regierungen, die wir zur Lösung unserer drängenden Herausforderungen (Klimakrise, neuer sozialer Konsens, Digitalisierung, marode Infrastruktur, erodierende Werte, weltweit zunehmende Migrationsströme) eigentlich dringender denn je bräuchten, sind dadurch aber nur sehr schwer erreich- und vorstellbar.
Auch ich war damals, 1981-1983, nicht fremdgesteuert von der DDR, aber ich wusste, dass sehr viel von der Organisation der Friedensbewegung in den Händen von DKP, SDAJ und VVN lag, und dass diese Leute von der DDR Geld bekamen. Trotzdem war ich bei den Demos dabei, und ich war auch bei Leipziger Pro-Flüchtlings-Demos nach 2015 dabei, wo irre Slogans wie „No Countries, No Borders“ gebrüllt wurden. Im Nachhinein sehe ich letzteres durchaus kritisch, denn die Flüchtlingspolitik wurde von vielen (auch von Angela Merkel) zu einem identitätspolitischen Machtinstrument ausgebaut. Dabei ging es dann nicht mehr um die Geflüchteten (für die Merkel die Grenzen im März 2020 ebenso gnadenlos schloss wie für die Touristen), sondern um unsere Befindlichkeiten. – Der Grund, warum Friedensemonstrationen in den 1980ern richtig waren (trotz Unterwanderung) ist derselbe, warum wir auch heute echte Friedenspolitik brauchen (à la BSW): Die Gefahr eines Nuklearkriegs ist riesig, und alles andere ist weniger wichtig. Außerdem hat Putin Angst vor einem Friedensangebot aus dem Westen, weil vor allem der Krieg seine Macht zementiert. Zurückdrängung der Autokratie funktioniert nur mit Frieden. Wenn wir im Westen damals nicht so vehement Frieden eingefprdert hätten, dann hätte sich das SED-Regime sicher noch viel länger gehalten.
Lieber Herr Wolff,
Ihren Blog habe ich gelesen. Sie äußern darin Ihre Meinung zur politischen Situation im
Allgemeinen und zum Ukrainekrieg im Besonderen.
In vielen Punkten teile ich nicht Ihre Meinung.
Es gibt in der westlichen Welt eine stark ausgeprägte antirussische Haltung. Unseren Urgroßeltern,
unsere Großeltern und unsere Eltern wurde diese ständig offeriert, ja eingebrannt. Unbemerkt hat sich diese Sichtweise bei den meisten Menschen festgesetzt. Die Folge: 1. und 2. Weltkrieg mit über 70 000 000 toten Menschen, verantwortet von Deutschland!
Da der 2.Weltkrieg auf beiden Seiten Deutschlands nie richtig aufgearbeitet wurde („die
Ostdeutschen waren ja alle Antifaschisten“ und in Westdeutschland wurde er verdrängt und totgeschwiegen), kam es nie dazu, dass wir unsere Schuld wirklich anerkannten (eine Ausnahme: Willi Brandt hatte den Mut, sich zur Schuld zu bekennen und 1972 vor dem Ehrenmal in Warschau niederzuknien). Damit blieb alles beim Alten: Der Russe blieb der Erzfeind bis heute!
Auf dieser Basis erfolgt auch die Beurteilung des derzeitigen Krieges. Für mich ist er ein
Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland. Die Amerikaner tun alles, um Russland klein zu halten (Russland ist ja nur eine Tankstelle usw.). Die Angst ist groß, dass Europa sich friedlich einigt, Russland Teil der europäischen Länder und damit die Allmacht der USA in der Welt verringert wird. Ein weiterer Aspekt zur Beurteilung der Friedensanstrengung beider Seiten zeigt, dass die USA derzeit 51 Kriege und Konflikte in der Welt austragen, addieren wir die Kriege von Russland….!. Auch die Geschichte zeigt, wie die USA ihre Machtposition in den Jahren seit dem 2. Weltkrieg genutzt hat und meist keine friedlichen Absichten hegte:
Die ersten beiden Atombomben wurden 1945 durch die USA abgeworfen, ohne dass dies militärisch erforderlich gewesen wäre (der Krieg war entschieden!). Die Folgen sind bekannt.
Im Iran wurde 1951 die britische Besatzung beendet. Es fand eine freie Wahl statt, Mohammad Mossadegh wurde als Regierungschef gewählt. Da er die Oelindustrie verstaatlichen wollte, wurde mithilfe britischer und amerikanischer Geheimdienste gestürzt und die alte Clique um Reza Schah Pahlewi wieder installiert. Die Ordnung, also der alte Besitz an der Oelindustrie durch den Westen, wurde wieder hergestellt. Die Auswirkungen auf die Situation im Iran bis heute nimmt kaum jemand zur Kenntnis^.
Der Koreakrieg, der von 1950 bis 1953 stattfand und von den USA ausgelöst wurde, war ein reiner Stellvertreterkrieg, der fast 4 Mio. Menschen das Leben gekostet hat.
Analog verhält es sich mit dem Vietnamkrieg, der ebenfalls ca.4 Mio. Menschenleben gekostet hat, insbesondere durch den Einsatz von Napalmbomben der USA.
Es wären noch viele Beispiele aufzuführen, bei denen die Einordnung der Führungsmacht des Westens in die Kategorie der „Guten“ schwerfällt, z.B.
der Einmarsch der USA im Irak mit einer Lüge – und mit dem Ergebnis eines total zerstörten Landes, die Einflussnahme auf die Entwicklung im Nahen Osten,
ebenso auf dem Balkan. Plötzlich wurden die verhassten muslimischen Völker unterstützt,
Hauptsache es gelingt, russlandfreundlichen Völkern (hier Serbien) zu schaden, die Unterstützung Israels bei eindeutig völkerrechtswidrigen Handlungen, die Stationierung von amerikanischen Raketen 1959 in der Türkei, was die Kubakrise 1962 zur
Folge hatte (In den Köpfen der Menschen ist allgemein nur die Kubakrise bekannt. So werden Ursache und Folgen verdreht!.
Welche Werte vertritt ein Land, dessen Präsident seine Anhänger aufruft, das Capitol zu stürmen, eine freie Wahl nicht anzuerkennen, der dem Gericht droht, „…wenn ihr mich jagt, werde ich euch jagen…?“
Die Geschichte der USA nach dem 2. Weltkrieg ist geprägt von Durchsetzung eigener Kapital- und Machtinteressen in der ganzen Welt. Insofern ist Skepsis angesagt, ob die USA nach dem bisher Geschilderten berechtigt sind, als moralische Führungsmacht zu agieren.
Nach dem Aufstand in der DDR 1989 und dem glücklichen Umstand, dass Gorbatschow als Partner des Westens für eine Beendigung des Kalten Krieges zur Verfügung stand, kam es zur Wiedervereinigung. Es war eine große Hoffnung. Wir hatten den Glauben, dass nun der Kalte Krieg zu Ende ist, die beiden Blöcke aufgelöst werden und es vielleicht zu einem langfristigen Frieden kommt: leider ein Irrtum! Gorbatschow war nur ein Mittel zum Zweck! Der Warschauer Pakt wurde
aufgelöst, die Nato weiter ausgebaut. Das Versprechen, die Nato nicht gen Osten zu erweitern, wurde gebrochen (wer das leugnet, lügt. Es gibt Filmdokumente, in denen dies von den Verhandlern bestätigt wird). Heute ist Russland komplett von Anatolien bis Finnland von der Nato eingekreist. Man sollte sich das umgedreht vorstellen: die „Bösen“ stationieren um die USA herum in Mexiko und Kanada ihre Raketen! Unvorstellbar, das geht nur umgekehrt!
Denken wir auch daran, dass Putin 1992 im Bundestag gesprochen hat, doch den Kalten Krieg zu beenden, ein geeintes und friedliches Europa aufzubauen und zusammen zu arbeiten. Er bekam stehende Ovationen. Sein Vorschlag war zum Scheitern verurteilt, die USA hätten ein mit Russland vereintes Europa nie akzeptiert!
Der Krieg in der Ukraine ist nicht der Anfang des Konfliktes. Er beginnt in oben Gesagtem und setzt sich fort in den Abkommen Minsk 1 und 2.
Diese Vereinbarungen wurden sowohl von der OSZE, Russland und der Ukraine getroffen. Sie beinhalten neben einigen anderen Regeln vor allem die Bildung eines Sonderstatus‘ für die vorwiegend von ethnischen Russen bewohnten östlichen ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk. Notwendig wurde das Abkommen, weil diese Gebiete von zum Teil rechtsnationalen, aber auch offiziellen ukrainischen Kräften bekämpft und tlw. ihrer Rechte beraubt wurden. Trotz einer Wahl in den beiden o.g Gebieten, die auch von Beobachtern des Westens als Wahl anerkannt wurde
und bei der sich die Bevölkerung mit großer Mehrheit für den Anschluss an Russland
ausgesprochen hatten, wurden die militärischen Aktionen seitens der Ukraine und separatistischen
Formationen fortgesetzt. Der Westen stellte sich an die Seite der Ukraine.
Eine Lösung wäre z.B. gewesen, die Ukraine als neutralen Puffer zwischen Nato und Russland zu etablieren, wie es u.a. der ehemalige amerikanische Außenminister Kissinger und viele andere Außenpolitiker vorgeschlagen haben.
Verhandlungen wurden seitens der Ukraine kategorisch abgelehnt, sie hatte ja mit dem Westen einen starken Partner an der Seite.
Damit meine kritischen Gedanken nicht nur mit meiner Person in Verbindung gebracht werden, möchte ich noch einige Andere zu Wort kommen lassen, die nicht als Kommunisten- oder Russlandfreunde bekannt sind:
Carlo Masala (Professor für Internatioale Politik an der Universität
der Bundeswehr mit dem Fachgebiet Sicherheits- und Militärpolitik)
„Der Versuch, andere Länder zu verwestlichen, den Menschen anderer Kulturen ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit zu verhelfen, ist gescheitert. Die Demokratie, in Deutschland erwachsen und erblüht, ist nicht verpflanzbar.
Die Konsequenz, zu der sich die westlichen Mächte ehrlich bekennen sollten, ist Nichteinmischung.
Falsch ist die europäische Tendenz, den Krieg als Gut gegen Böse zu beschreiben. Falsch ist auch die amerikanische Neigung, Russland in eine militärische und politische Niederlage zu treiben. Ich finde, da wird die Ukraine letztlich für westliche Machtpolitik missbraucht“
Peter Sloderdijk (Philosoph)
„Man hört kaum noch Gegenstimmen. Man denke daran, wie in unfairer Weise man versucht hat,
die Initiatoren des Offenen Briefes von Alice Schwarzer zu diskreditieren“
Angela Merkel (Bundeskanzlerin a.D.)
„Wir sind oft sehr schwarz-weiß ausgerichtet, wie z.B. jetzt in der Debatte über Russland und
Ukraine“.
Harald Welzer (Soziologe)
„Wir erleben auf der Seite der „Guten“ Vereindeutigungen, wie wir sie vor 3 Monaten noch für unmöglich gehalten hätten. Wir liefern schwere Waffen, weil die Ukraine sie braucht, das ist eine reine Tautologie. Eindeutiger geht es nicht! Diese sich täglich steigernde Aufrüstung finde ich sehr gefährlich…..Wir haben keine Außenperspektive mehr für unser Handeln.“
Lieber Herr Wolff,
ich glaube, dass der Krieg in der Ukraine schon längst beendet wäre, wenn der Wille dagewesen wäre. Ein Krieg ist so komplex, dass sicher keiner „ die Wahrheit“ kennt, wir aber gemeinsam um die Annäherung an die Wahrheit ringen und mehr hinterfragen müssen. Die derzeitige Haltung derzeitige Bundesregierung geht nach meiner Einschätzung mehr in Richtung Aufrüstung als Verhandlungen.
Ich denke, es ist unser aller Aufgabe, zur Beendigung des Krieges auf allen Ebenen beizutragen und gegen den Kreislauf von Machtmissbrauch, Großmachtstreben, Lügen und Aufwertung des Eigenen durch Abwertung der Anderen unsere Stimme zu erheben. Gerade wir Deutschen haben nach dem Verbrechen der beiden Weltkriege und der mangelnden Aufarbeitung des Geschehenen danach eine große Verantwortung.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Moldt
P.S.: Ich lese gerade das Buch von Günter Verheugen und Petra Erler
„Der lange Weg zum Krieg“
Günter Verheugen brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen. Petra Erler war Mitglied
der ersten demokratisch gewählten Regierung im Osten, promovierte über
Internationale Beziehungen und war in verschiedenen Positionen für internationale
Arbeit tätig.
In diesem Buch stellen Beide Ihre annähernd gleichen Ansichten zum Ukrainekrieg
vor, die ich völlig teile. Da Günter Verheugen ja sicher nicht zu den Russland-
freunden zählt, ist er unverdächtig, was ja bei den Diskussionen um den Krieg
ein wichtiges Gut ist!
Vielen Dank, lieber Herr Moldt, für Ihre ausführlichen und kritischen Anmerkungen. Ich kann nicht auf alle eingehen. Nur so viel:
1. Ja, die Vereinigten Staaten haben viel Schuld auf sich geladen gerade durch den Korea-, den Vietnam- und auch die beiden Golfkriege. Die kriegerischen Interventionen haben gerade im Nahen Osten verbrannte Erde hinterlassen.
2. Das Putin-Russland ist nicht zu vergleichen mit der Sowjetunion. Putin ist in meinen Augen ein brutaler Killer-Typ. Als Geheimdienstagent hat er nichts anderes gelernt, als Menschen auszuschalten. Jetzt agiert er als Kriegsverbrecher und unnachsichtiger Autokrat und verfolgt nationalistische Ziele mit imperialem Anspruch. Darum gehen Überlegungen, sie Sie sie bezüglich der Ukraine anstellen, mE ins Leere.
3. Sie schreiben „ich glaube, dass der Krieg in der Ukraine schon längst beendet wäre, wenn der Wille dagewesen wäre.“ Zunächst war der Wille Putins zum Krieg da. Ich kann derzeit nicht erkennen, dass bei ihm ein Wille vorhanden ist, den Krieg zu beenden. Ich kann derzeit auch nicht sehen, was Putin veranlassen könnte, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Derzeit kenne ich keinen Vorschlag, wie ein Waffenstillstand zu erreichen ist.
4. Ja, Deutschland trägt aufgrund der Kriegsverbrechen in der Nazi-Zeit eine besondere Verantwortung. Aber hier sollten wir auch bedenken, dass die größten Verbrechen der Nazis und der deutschen Wehrmacht auf dem Gebiet der Ukraine verübt wurden.
5. Als im August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschierten, um den „Prager Frühling“ zu beenden, hatte ich gerade mein Studium an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal begonnen. Es wurde ein Vollversammlung der Studierenden einberufen. Da diskutierten wir, ob wir uns an einer Demo vor der Botschaft in der UdSSSR in Bonn beteiligen. Viele Sudierende waren der Meinung, dass man nicht demonstrieren könne, da ja Westdeutschland und die USA versucht hätten, Einfluss zu nehmen auf die Politik der CSSR. Schon damals hieß es, dass die NATO versuche, die Sowjetunion zu destabilisieren und so den Frieden zu gefährden. Die UdSSR sei bewusst provoziert worden. Ich selbst gehörte zu denen, die im demokratischen Sozialismus eines Alexander Dubček eine Zukunfts- und Hoffnungsperspektive für Europa sahen.Für mich war klar: Für den Gewaltakt der Warschauer Pakttruppen gab es keine politische Rechtfertigung. Dagegen musste man demonstrieren. Also fuhr ich nach Bonn.
@ Peter Moldt, lesen Sie die „Welt“ vom 12. 9. 07 https://ogy.de/6nsw und Wikipedia https://ogy.de/c93m über diesen miesen Typ Verheugen und die DDR-Karrieristin Petra Erler.
Bettgeschichten und Rosenkrieg sollten in der politischen Debatte keinerlei Bedeutung haben!
Doch! Bei sog. Promis interessiert mich das nicht, aber bei Politikern, die Verantwortung für das Gemeinwohl tragen, schon.
Lieber Herr Moldt,
vielen Dank für Ihre Ausführungen. Manchen Punkten kann ich zustimmen. Die Aufteilung der Welt in die Guten und die Bösen ist sicher ein Grundübel. Ganz bestimmt ist die Politik der USA nicht einfach „gut“ und die Russlands einfach „böse“. Politik unter so einem moralischen Blick zu betreiben, stellt ganz bestimmt eine große Gefahr dar.
An anderen Stellen möchte ich Ihnen aber doch widersprechen. Sie schreiben: „Da der 2.Weltkrieg auf beiden Seiten Deutschlands nie richtig aufgearbeitet wurde …, kam es nie dazu, dass wir unsere Schuld wirklich anerkannten … Damit blieb alles beim Alten: Der Russe blieb der Erzfeind bis heute!“
Das stimmt so einfach nicht! Sie haben recht, es gibt im Westen eine lange unselige Tradition des Antikommunismus, der mit einem negativen Blick auf Russland verknüpft war und ist. Was Sie nicht wahrnehmen, ist dass es in Westdeutschland seit Anfang der siebziger Jahre eine breit angelegte Auseinandersetzung mit dieser Tradition gegeben hat. Unter dem Motto „Frieden mit den Völkern Sowjetrusslands“ wurde die Tradition des Antikommunismus und der Russlandfeindschaft kritisch aufgearbeitet. Die Rolle der Wehrmacht z.B. erhielt in der Geschichtsschreibung eine kritische Neubewertung. Es ist auch falsch, wenn Sie das allein mit der Person Willy Brandt in Verbindung bringen. Schon die 68er haben die antikommunistische, russlandfeindliche Ideologie der Adenauerzeit hinter sich gelassen. Die gesamte Ostpolitik der sozialliberalen Ära war dann ein großer – und zum großen Teil auch erfolgreicher – Versuch, die alte pauschale Feindschaft zu überwinden und zu einer friedlichen Koexistenz zu gelangen. Ich selber habe in der Gorbatschow-Zeit im Zuge dieser Politik eine Versöhnungsreise nach Minsk mitgemacht, die unter dem Motto „Versöhnung mit den Völkern Sowjetrusslands“ stand. Da kam es zu bewegenden Begegnungen, die auf beiden Seiten von der Hoffnung getragen waren, den alten Gegensatz zu überwinden. Wenn Sie schreiben: „Der Russe blieb der Erzfeind bis heute“, dann übersehen Sie, dass sich der Blick auf Russland im Westen – nicht bei allen aber bei einem sehr großen Teil der Bevölkerung – tatsächlich tiefgreifend zum Positiven verändert hat. So wurde der dann mit den Begriffen Glasnost und Perestroika bezeichnete Demokratisierungsprozess in der Sowjetunion von Anfang an in Deutschland (West und Ost!) mit allergrößter Sympathie wahrgenommen und begleitet. In der Nachrüstungsdebatte wurde die Politik der eigenen westlichen Seite äußerst kritisch infrage gestellt. Da gab es keine blockartige Wahrnehmung Russlands. Übrigens haben auch die nachfolgenden CDU-geführten Regierungen die Errungenschaften der sozialdemokratischen Ostpolitik nie mehr infrage gestellt, sondern auf diese aufgebaut. Dem wird die Schwarzweißzeichnung, die sie bringen, einfach nicht gerecht.
Auch einer weiteren Argumentationsstruktur möchte ich entschieden widersprechen. Ihren gesamten Beitrag durchzieht eine Gleichsetzung der USA und Sowjetrusslands. Das wird den geschichtlichen Tatsachen nicht gerecht. Es ist eben so, dass die USA während der ganzen Zeit, um die es geht, eine Demokratie waren, während in Sowjetrusslands eine Diktatur herrschte (Stalinismus). Ich lese zur Zeit das äußerst lesenswerter Buch „Das gespaltene Haus“ von Manfred Berg, eine Geschichte der USA seit den fünfziger Jahren bis heute, die nach den Gründen für die gegenwärtige Spaltung in den USA fragt. In dem Buch wird der äußerst vitale und lebendige Diskurs nacherzählt, der seit den 50er Jahren bis in die Gegenwart die US-amerikanische Politik geprägt hat. Es gab dort in der Tat in der gesamten Zeit einen lebendigen demokratischen Diskurs mit Alternativen und gegensätzlichen Vorstellungen zwischen liberal und konservativ. Es gab Zeiten in denen mal die eine, mal die andere Position die Politik bestimmt hat. Das bedeutet nicht, dass die Politik der USA in dieser Zeit „gut“ gewesen wäre! Aber die Politik war unzweifelhaft mit dem öffentlichen Diskurs verbunden, wurde durch diesen motiviert und korrigiert. Es gab zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg Demonstrationen, an denen Millionen teilnahmen. Parallel dazu erscheint Sowjetrussland in dieser Zeit wie ein Grab, auf das einfach ein Deckel gelegt wurde. Es gab keinen öffentlichen Diskurs, keine Demonstrationen. Eine kleine Führungsgruppe bestimmte den gesamten politischen Kurs und strangulierte ihr Volk. Das ist dann eben doch etwas ganz anderes, was man nicht mit den USA gleichsetzen kann und darf.
Auch wie sie die Entwicklung der Ukraine-Politik nachzeichnen, ließe sich infrage stellen. Besonders bedenklich finde ich, wenn Sie schreiben: „Eine Lösung wäre z.B. gewesen, die Ukraine als neutralen Puffer zwischen Nato und Russland zu etablieren.“ Das ist doch gerade die hegemoniale Art von Weltpolitik, die Sie eigentlich kritisieren. Andere Staaten „etablieren“ die ukrainische Bevölkerung als „Puffer“. Die gesamte Bevölkerung eines Landes unter dem Begriff Puffer zu subsumieren, das finde ich schon einen Tiefpunkt Ihres Beitrages. Dabei ist es völlig unbestreitbar, dass die Erweiterung der NATO z.B. von der polnischen Bevölkerung und der Bevölkerung der baltischen Staaten so gewollt wurde. Das war nicht einfach ein machtpolitischer Akt der USA oder der NATO. Vielmehr war es der nachdrückliche Wunsch der osteuropäischen Staaten und ihrer Bevölkerung, der aus einer langen Geschichte der Unterdrückung und Fremdherrschaft hervorging.
In dem sie diese geschichtlichen Fakten übersehen, verbauen Sie sich leider auch einen realistischen Blick auf die gegenwärtigen Optionen.
Mit freundlichen Grüßen
Rolf Fersterra
Sehr guter Beitrag, Herr Fersterra. Ergänzend dazu: Die Sowjetunion war (mit Ausnahmen, z. B. Afghanistan) eine Status-Quo-Macht mit einem kollektiven Führungsorgan, dem Politbüro der KPdSU. Der Generalsekretär konnte abgesetzt werden (Chrustschow). Heute haben wir es mit Rußland mit einer aggressiven imperialen Macht zu tun, an deren Spitze ein einzelner Diktator steht. Wer seine engsten Berater sind, bleibt im Dunkeln.
Toll wie Sie sich mittels Hufeisentheorie plakativ am BSW, gleichstellend mit der AfD abarbeiten, und für uns (dumme) Ostdeutsche nebenbei die „Spätfolgen“ der Friedensbewegung in der DDR erklären. Leute, die 1983 bei „Schwerter zu Pflugscharen“ in Wittenberg dabei waren wie Bischof Kramer, haben da eine differenziertere Meinung. Was würde der leider für immer verstummte große Friedrich Schorlemmer heute sagen? Am 28.3.2014 nahm er noch folgendermaßen Stellung: „Die Ukraine wird zwangsläufig zum Zankapfel zwischen Ost und West. Dabei sollte das Land als ein Brückenland respektiert werden.“ Er hält das schlimmste Szenario für möglich, wenn keine friedliche Einigung zwischen der Ukraine und Russland erfolgt: „Wenn Russland mit China, Syrien und dem Iran eine Liaison eingeht, dann teilt sich die Welt.“ Der Theologe appelliert an die Politiker, jetzt die Notbremse zu ziehen: „Der Feind, auf den sich alle geeinigt haben, sind die Russen. Dieses Verhalten ist nicht korrekt. Ich bin strikt gegen die politische Isolierung Russlands.“ Keiner in der SPD-Sekte in Sachsen hat auch nur die jüngsten Stellungnahmen des Brandt- und Eppler-Kreises zu Kenntnis genommen, dabei wäre eine Diskussion dieser, meist westdeutschen SPD-Stimmen eine Chance, bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten mit den Leuten ins Gespräch zu kommen.
Dass der Kanzler die Stationierung der konventionellen US-Mittelstreckenraketen in Deutschland MItte Juli in Washington so en passant verküdet hat, fällt ihm jetzt auf die Füße. Vertreter des linken SPD-Flügels um den Fraktionschef im Bundestag Mützenich kritisieren dies offen. Offenkundig wird sich Scholz nicht mehr ändern, und wir müssen ihn weiterhin ertragen. Ich erinnere mich an ein Statement von FDP-Boss Lindner am Ende der Koalitionsgespräche, in dem er sich überschwenglich über die positiven Eigenschaften Scholz‘ äußerte. Ich hatte dafür nur Verachtung übrig, denn Lindner kannte das Peter-Prinzip genau:
„In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter-Prinzip