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Die Dummheit als Prinzip – eine Erinnerung aus aktuellem Anlass

Bei einem Leserforum der Ostsee-Zeitung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. August 2019 in Stralsund trat das AfD-Mitglied des Kreistags Vorpommern-Rügen, Thomas Naulin, ans Mikrophon: „Frau Merkel, Sie haben uns im Namen der Toleranz in eine Diktatur geführt … Die Grundrechte sind zurzeit massiv eingeschränkt … ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ Artikel 1, so sollte es sein. Dieses Recht aber hat man verwirkt, wenn man sich zurzeit in Deutschland zur AfD oder als Patriot bekennt. … Die Pressefreiheit ist zurzeit nicht gegeben. Wir haben eine Propagandapresse … die DDR würde vor Neid erblassen, wenn sie das sehen würde. Unsere Grundrechte, Meinungsfreiheit, ist als AfD Mitglied auch nicht gegeben …“ Diese Art von Einlassungen sind nicht nur typisch für die Rechtsnationalisten von Pegida/AfD: Bundesrepublik gleich DDR; Deutschland ist eine Diktatur, in der keine Meinungs- und Pressefreiheit herrschen; AfD-Mitglieder sind Opfer des Systems. Damit wird die Dummheit zum politischen Prinzip erhoben – eine Strategie, die die Nationalsozialisten schon vor 80 Jahren anwandten. Über die Dummheit“ hat der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), der von den Nazis ermordet wurde, im Jahr 1943 einen grandiosen, höchst aktuellen Text in seinem Essay „Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“ geschrieben:

„Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern … . Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch – und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. …

Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, dass sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anlässlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, dass die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als dass unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden bzw. sich dumm machen lassen. … So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, dass bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern dass unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und dass dieser nun – mehr oder weniger unbewusst – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Dass der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen missbraucht, misshandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Missbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können.

Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, dass nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, dass eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen. In dieser Sachlage wird es übrigens auch begründet sein, dass wir uns unter solchen Umständen vergeblich darum bemühen, zu wissen, was »das Volk« eigentlich denkt, und warum diese Frage für den verantwortlich Denkenden und Handelnden zugleich so überflüssig ist – immer nur unter den gegebenen Umständen. Das Wort der Bibel, dass die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Psalm 111, 10), sagt, dass die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist. …“ *

Nutzen wir die nächsten Tage und die Wahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September 2019, um „die äußere Befreiung von der Dummheit“ in Gang zu setzen. Sehen wir als Kirche unsere Aufgabe darin, in all unserem Reden und Tun der „einzig wirklichen Überwindung der Dummheit“ zu dienen. Darum:

* Dietrich Bonhoeffer, Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943, in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. von Eberhard Bethge, München 1970, S. 16-18

 

7 Antworten

  1. Das ist ein ganz feinsinniger Kommentar, der genau dasselbe aussagt, wie Sie und ich und andere es hier dauernd tun: Wenn ich zB sage, die Deutschen „liefen dumm hinterher“, dann kritisiert Herr Käfer das und sieht es anders, aber Bonhoeffer beschreibt die Dummen auch als unselbständige Hinterherläufer. Wenn Sie die AfD-Spitzen kritisieren, dann folgen Sie Bonhoffers Beschreibung, der sagt, daß „die Menschen dumm gemacht werden bzw. sich dumm machen lassen“. Wenn Bonhoeffer die dummen Menschen als „bockig“ oder nicht „selbständig“ beschreibt, dann beschreibt er doch unter anderen die von Ihnen, Herr Wolff, so kritisierten rechten Mitläufer (die immer mehr zu Tätern werden und in ihrer Dummheit stolz drauf sind). Und daß Dummheit ein soziologisches Problem ist, ist ja schon lange ziemlich klar und zeigt sich heutbzutage überdeutlich – es sind eben die Dummen ohne eigene Meinung, die sich auf die Seite des vermeintlichen Gewinners schlagen oder den Modebewegungen hinterherlaufen oder die vor lauter Gutmütigkeit den Kern der Probleme nicht erkennen und sich unkritisch dem Mainstream anschliessen (in Wort aber ohne Tat) – alles hier auf dem blog verfolgbar (alles auch, wie Sie richtig schreiben, in der evangelischen Kirche von heute verfolgbar) -; es sind die Dummen, die sich vor allem auch in der Ablehnung einer anderen Meinung in Verbindung mit der Verächtlichmachung von deren Träger üben (ohne freilich selbst eigene Gegenargumente zu liefern sondern nur die anderer zu wiederholen).
    Natürlich schrieb B. diesen Text unter anderen politischen Umständen. Natürlich schrieb er ihn als verzeihender Christ und suchte die Verantwortung woanders als bei den Menschen selbst, nämlich in ihrer „Verführung“ durch die Mächtigen. Aber Sie sind es ja, Herr Wolff, der gelegentlich die Parallelen der heutigen Zeit zu damals beschwört und warnt. Ich dagegen sehe diese Frage optimistischer und baue auf den „mündigen Bürger, der dann aber seine Dummheit nicht auf andere abschieben kann sondern eben aus sich heraus dumm ist.
    Bonhoeffer in Ehren. Ein anderer Theologe, Theodor Haecker, hat in gleicher Zeit sich etwas kürzer gefasst und die Sache auf den Punkt gebracht: „Ich habe nicht die Macht zu verhindern, dass das Gesindel die Welt regiert, aber gegen eines kann ich mich Gott sei Dank doch wehren, so schwach ich auch bin, dass mir nämlich das Gesindel die Welt erklärt.“ (zit bei Sabine Friedrich, „Wer wir sind“, S. 1213 – ein Buch übrigens über den Widerstand gegen Hitler und wer es gelesen und sich auch beruflich intensiv mit dieser Zeit auseinandergesetzt hat, dem sollte man nicht so locker Unverständnis der Zeit vorhalten).
    Oder noch deutlicher die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (zit bei Brigitte Hamann, „Bertha von Suttner“, S 492): „Die Menschen sind ein solches Pack von Narren, dass es einen bisweilen graut, sich mit ihnen Mühe zu geben.“
    Man muß wohl der Realität ins Auge schauen!
    Mit herzlichem Gruß,
    Andreas Schwerdtfeger

  2. Nun haben Sie, lieber Herr Wolff, zu Recht mit prominenter Hilfe gegen die Dummheit gewettert und gleich eine ganze Menge Menschen in diese Kategorie hineinsubsumiert – auch zu Recht! Unverständlich bleibt nur, warum Sie und andere mich so beschimpfen, wenn ich – ebenfalls zu Recht – auch ein paar Menschen in diese Kategorie einordne. Das Beispiel zeigt vielleicht, wie sehr man die Welt durch die eigene Brille sieht. Ich jedenfalls mache hier im blog auch Dumme aus – gekennzeichnet dadurch, daß sie (nach Bonhoeffer) wenig eigenes beitragen und sich selbst erheblich überschätzen. Aber: Dummheit ist demokratisches Recht und nicht strafbar – nur eben langweilig!
    Mit einem herzlichen Sonntagsgruß,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Ich fürchte, lieber Herr Schwerdtfeger, Sie haben weder die historische Situation noch Bonhoeffer selbst richtig verstanden. Bei der Dummheit geht es nicht um ein intellektuelles Unvermögen, sondern darum, eine für das Zusamnmenleben gefährliche Ideologie wie den Nationalsozialismus zur Macht zu verhelfen und dabei alle Warnsignale zu ignorieren – nur weil man sich ein paar Vorteile verspricht. In diesem Sinn haben auch die jungen Leute der „Weißen Rose“ in ihren Flugblättern von der Dummheit gesprochen. Diese Art von Dummheit möchte ich weder Ihnen noch den meisten anderen Kommentatoren unterstellen. Beste Grüße Christian Wolff

  3. „Damit wird die Dummheit zum politischen Prinzip erhoben – eine Strategie, die die Nationalsozialisten schon vor 80 Jahren anwandten.“
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    Richtig muss es heißen: Die Verdummung wird zum politischen Prinzip erhoben. Denn die politischen Akteure damals wie heute sind keineswegs dumm, sondern manipulativ-perfide.

  4. Lieber Christian, erstaunlich mit welcher Klarheit D. Bonhoeffer analysiert und argumentiert hat – und er hat wohl so recht! Ich wag das ja kaum zu denken, geschweige denn auszusprechen (Selbstzensur?!) Leider werden die „Betroffenen“ weder Deinen blog noch den Ursprung lesen- wie schade.

    1. Liebe Gisela, ja – wer gehört zu den „Betroffenen“. Was die „Dummheit“ angeht, sind es die, die es so weit haben kommen lassen. Dazu gehören für mich derzeit auch alle, die so tun, als sei die Wahl am 01.09.19 schon entschieden und das seit Wochen so kommunizieren. Dazu gehören allzu viele in den Medien. Umso so erfreulicher, dass sich jetzt doch manches regt: siehe RB mit seiner Kampagne gegen rechts. Sehr erfreulich. Beste Grüße Christian

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