Am 6. März vor 500 Jahren begann eine Zusammenkunft mit erheblicher Wirkungsgeschichte. Im oberschwäbischen Memmingen trafen sich die Bauernhaufen Süddeutschlands. Am Ende stand die Verabschiedung der Flugschrift „An die versamlung gemayner pawerschafft“ oder kurz „12 Artikel der Bauern“. Mitverfasst wurden sie vom Memminger Reformator Christoph Schappeler. In kurzer Zeit fanden diese Artikel große Verbreitung: 25.000 Exemplare wurden gedruckt und in ganz Deutschland verteilt. Die Bauernaufstände waren aber keine Bewegung, die sich ausschließlich in Thüringen zwischen Mühlhausen und Bad Frankenhausen abspielte und vor allem mit dem Namen Thomas Müntzer verbunden war. Das ist eine verengte, auch der ideologischen Vereinnahmung der Bauernkriege und Thomas Müntzers durch den SED-Staat geschuldeten Sicht, deren Pendent die Missachtung der Bauernaufstände in Westdeutschland darstellte. Die Bauern bildeten in ganz Deutschland ihre sog. „Haufen“, um ihre Rechte gegen die Fürsten und Feudalherren einzuklagen. Dabei verstanden sie sich als Teil der Reformationsbewegung zu Beginn des 16. Jahrhunderts.
Leider sind die 12 Artikel heute kaum mehr bekannt* – stehen aber in ihrer Bedeutung für die Freiheitsentwicklung Europas den 95 Thesen Martin Luthers vom 31. Oktober 1517 in nichts nach. Denn die 12 Artikel können als eines der frühesten Dokumente gelten, in denen Menschen- und Freiheitsrechte gefordert werden – als notwendige Konsequenz aus der biblischen Glaubensüberzeugung: Leibherr eines Menschen kann nur Gott sein, nicht aber ein Fürst oder Adelsherr. Leider sind die 12 Artikel der Bauern völlig überlagert von dem grausigen Geschehen der Bauernkriege 1524/25, in denen die Fürsten brutal ihre Macht und Pfründe verteidigten und die Bauern auch nicht gerade zimperlich reagierten. Leider wird auch in unseren Kirchen der 12 Artikel der Bauern kaum gedacht – was sicherlich auch damit zu tun hat, dass sich Martin Luther mit Thomas Müntzer völlig überworfen und große Probleme damit hatte, wenn sein Freiheitsgedanke auf alle Lebensbereiche angewandt wurde.
Doch was steht nun in den 12 Artikeln (Die Zahl 12 knüpft an die 12 Apostel an)? Zunächst fordern die Bauern, dass „wir … über die Fähigkeit und die Macht verfügen, dass die gesamte Gemeinde selbst ihren Pfarrer wählen und bestimmen darf. Weiter die Macht, ihn wieder abzusetzen …“ Mit diesem 1. Artikel wollten die Bauern klarstellen, dass alle Hierarchie vor Gott und den Menschen keinen Bestand hat – eine Überzeugung, die auch heute nottut und in den Kirchen noch immer nicht eingelöst ist. Im 2. Artikel geht es um die Abgabe des „Zehnten“. Mit diesem sollen die (gewählten) Pfarrer bezahlt werden (nicht aber der katholische Klerus, Klöster oder Bistümer). Mit dem übrigen Geld soll Vorsorge für Kriegs- und Notzeiten getroffen und Armenpflege betrieben, also eine Art öffentlicher Haushalt aufgebaut werden. Der 3. Artikel ist in seiner Bedeutung sicherlich der weitreichendste. Denn hier wird die Leibeigenschaft bestritten. Diese wird als „zum Erbarmen“ angesehen „angesichts der Tatsache, dass uns Christus mit dem Vergießen all seines kostbaren Bluts erlöst und freigekauft hat, und zwar den Hirten gleichermaßen wie den Höchsten … Deshalb ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.“ Damit beziehen die Bauern das, womit auch Luther das Priestertum aller Gläubigen begründet hat, auf ihre soziale Stellung und fordern gleiche Freiheitsrechte für alle.
Diese Forderung wird dann in den weiteren Artikeln auf unterschiedliche Bereiche angewandt. So sollen die Jagd- und Fischereirechte neu geregelt werden (4. Artikel); die natürlichen Güter wie Holz sollen gerecht verteilt werden (5. Artikel); die Frondienste, also die Arbeitsverhältnisse der Leibeigenen, sollen menschlich gestaltet sein und die Leistungsmöglichkeiten des Einzelnen gerecht eingeschätzt werden (6.-8. Artikel). Das Recht soll vor Willkür schützen (9. Artikel) und unrechtmäßig erworbenes Land soll an die Gemeinde zurückgegeben und so der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden (10. Artikel). Dem entspricht dann auch die Forderung, dass die Quasi-Enteignung von Witwen und Waisen durch den sog. „Todfall“, eine Art Erbschaftssteuer, beendet werden muss. Schließlich wird im 12. Artikel festgehalten, „dass wir, wenn einer oder mehrere Artikel … dem Wort Gottes nicht gemäß sein sollten, … diese Artikel aufgeben …“.
Wenn man das heute liest, kann man über die Weitsicht der Bauern von Memmingen nur staunen. Gleichzeitig müssen wir uns als Kirche der Reformation den Vorwurf gefallen lassen, dass wir über Jahrhunderte die Erkenntnisse und Forderungen der Bauern geringgeachtet haben. Denn sie listen schon vor 500 Jahren all das auf, was wir heute im Arbeitsrecht und in der Sozialgesetzgebung regeln – unter der Maßgabe der Menschenwürde und Gleichberechtigung. Beides ergibt sich zwingend aus dem christlichen Glauben. Bundespräsident Johannes Rau stellte in seiner Rede zum 475. Jubiläum der 12 Artikel der Bauern sehr treffend fest: „Der Glaube an Gott und seine Gnade, die gerade durch die Reformation wieder eine neue Vertiefung erfuhr, hatte zum neuen Bewusstsein von Recht und Würde des Menschen geführt.“*
Dass Martin Luther sich damals nicht zu einer positiven Bewertung der Forderungen der Bauern durchringen konnte, gehört zu den dunklen Schattenseiten seines Wirkens. Zwar schrieb er 1525 an die Fürsten eine „Ermahnung zum Frieden“. Darin kritisierte er den Hochmut der Fürsten und merkte an, dass unter den 12 Artikeln „einige so gerecht sind, dass sie euch (also den Fürsten) vor Gott und der Welt zur Schande gereichen.“ Doch wenig später ruft Luther in seiner Hetzschrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der andern Bauern“ die Fürsten zu einer gnadenlosen Niederwerfung der Bauernaufstände auf: „man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“ Luther war getrieben von der Sorge, dass durch das Agieren der Bauern der Erfolg der Reformation gefährdet wird. Was Luther offensichtlich nicht sah: dass die Reformation nicht auf halber Strecke zum Erliegen kommen durfte. Das neue Verstehen der biblischen Botschaft musste konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben, insbesondere im Blick auf die Freiheit des Einzelnen und die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft. Für die Bauern war entscheidend: Sie wollten nicht den Aufruhr, schon gar nicht in einen Gegensatz zur Refomration treten. Vielmehr suchten sie die Anerkennung ihres Bestrebens, gottergeben und aus dem Glauben heraus für ihre Rechte zu streiten. Doch Luthers unbändiger Zorn, die panische Angst der Fürsten um ihre Macht und ihren Einfluss, der gewaltbereite Widerstand der Bauern führten dazu, dass 1525 die kriegerische Gewalt ins Unermessliche eskalierte. Dabei hätte allen bewusst sein können: Wer für Menschenrechte, für Freiheit, für ein gerechtes Zusammenleben streitet und dafür eintritt, darf in der Anwendung der Mittel, um diese Ziele zu erreichen, diese nicht konterkarieren. Das war schon vor 500 Jahren für Christoph Schappeler ein großes Anliegen. Er trat für strikte Gewaltlosigkeit der Bauern ein. Ihm und anderen war bewusst: Das durch Gott verliehene Lebensrecht eines jeden Menschen kann im Sinne der 12 Artikel der Bauern nur geachtet und geschützt werden, wenn dieses Leben bewahrt und gefördert wird. Das gilt auch heute.
Dieser Blog-Beitrag geht zurück auf die Ansprache in der Motette am 7. März 2025 in der Thomaskirche Leipzig
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* Immerhin hat im März 2000 der damalige Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006, Bundespräsident 1999-2004) in der Memminger Kirche St. Martin eine Rede anlässlich des 475. Jubiläums der 12 Artikel der Bauern gehalten. Damals stellte Rau fest: „Es hat lange, zu lange gedauert, bis die Ereignisse des Jahres 1525, mit dem, was vorausging und dem, was folgte, als freiheitliche Revolution, als Teil deutscher Freiheitsgeschichte verstanden und angenommen wurden.“ Von heute her gesehen müssen wir insbesondere im Blick auf die Kirche sagen: Es dauert immer noch …
Zum Ganzen eine Buchempfehlung: Lyndal Roper, Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525, Frankfurt am Main 2024. Dort sind auch die 12 Artikel im Originaltext und in einer Übertragung ins heutige Deutsch dokumentiert.
8 Antworten
Vielen Dank für dieses historische Dokument, das ich nicht kannte.
Wir müssen nur aufpassen, wenn wir diese weisen Forderungen auf die heutige Zeit beziehen, insbesondere auf den Einzelnen. Zur damaligen Zeit konnte man wohl davon ausgehen, dass die Bauern ihre Bibel kannten und sehr wohl wussten, dass aus der christlichen Ethik auch die Verpflichtung dem Anderen gegenüber besteht. Ihn und seine Bedürfnisse hat der Christ jeweils mit zu beachten im Denken und Tun. Jeder Andere hat gleiche Rechte wie man selbst als Geschöpf Gottes. Es handelt sich also um keine unbegrenzte Freiheit des Einzelnen.
Emanuel Kant hat das mit seinem kategorischen Imperativ treffend formuliert. Im GG ist dies (leider) nicht ausdrücklich erwähnt. Das Recht des Individuums steht im Vordergrund. Die Gemeinschaft gerät in Gefahr.
Die Stadt Memmingen vergibt seit einiger Zeit einen Freiheitspreis in Erinnerung an die bemerkenswerten Artikel von 1525. Im Jahr 2022 bekam diesen Preis der berühmte Journalist Heribert Prantl, der sich auch während der dunklen Corona-Jahre immer wieder für Demokratie und Grundrechte einsetzte. Norbert Lammert zitierte ihn in seiner Laudatio: „Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung.“ https://www.all-in.de/bilder/journalist-prof-dr-heribert-prantl-erhaelt-den-memminger-freiheitspreis_mediagalid-12110 – Und wenn man jemandem nicht vorwerfen kann, ein libertärer Rechter zu sein, dann ist es Heribert Prantl. Er war ein helles Licht in dunkler Zeit. Er hat ein ganzes Buch über die Grundrechte im Grundgesetz geschrieben, aber besonders lesenswert war sein Text zum 72. Geburtstag des Grundgesetzes: „Ich wünsche mir Grundrechte, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen können; ich wünsche mir Staatsgewalten und eine couragierte Gesellschaft, die diese Grundrechte verteidigen – gegen das Virus, gegen Entsolidarisierung, gegen Rassismus, gegen den Datensammelwahnsinn. “ https://heribertprantl.de/prantls-blick/kein-rundes-ein-wundes-jubilaeum-dem-grundgesetz-zum-72-geburtstag/
Umfangreich: Friedrich Engels und der Bauernkrieg in der Historiographie der DDR
https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/2614/file/MGFN_7_2003_2_btr02.pdf
Und ein weiteres Bandenmitglied – in diesem Falle ich – verteilte diesen Betrag von Chr. Wolff zu den 12 Artikeln sehr vielfach und rundum.
Dass der einst die Kirche grundlegend reformierende M. Luther mit der Zwei-Reiche-Lehre auch mit diesem Ruf: „ Gebt dem Kaiser, wes dem Kaisers ist“ (Matthäus) wirken wollte, das Eine vom Anderen zu trennen, sie immer wieder auszulegen und seine extreme Haltung zum Bauernkrieg als eine Quintessenz seiner Predigten den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit mit aller Wortgewalt einzufordern, das verwundert uns heute. Und wie Christian treffend schreibt, trennte Luther die auch ihn umgebende Realität (Ausbeutung, Armut, Willkürherrschaft gegenüber den „Niedrigen“ vom Evangelium. Münzer musste wie viele unzählige Bauernkriegsopfer seinen Kopf hinhalten. Und: Es steckt ja auch ziemlich viel zwischen den Zeilen des Beitrages, so jedenfalls meine Wahrnehmung.
Ja,, lieber M. Käfer – Sie sagen es: großartig und bedeutungsvoll, dass es solche Prediger und Unentwegte wie Wolff gibt; danke! Auch ich interpretiere Bande als etwas sehr positives und konstruktives. Dass man da nicht nur Freunde hat, naja…So ist das halt im Leben! Uns nun allen eine gute Woche!
Danke Christian für diese Einordnung der Bauernaufstände vor 500 Jahren. Ich kannte die Thesen nicht in dieser Tiefe; auch die Rolle Luthers in diesem Kontext fand ich erhellend.
Das unterstreicht den Wert Deines Blogs wieder einmal deutlich, entlarvt die Behauptung, er sei auf einem Tiefpunkt angekommen, als rein demagogisch.
Auch Kirche als Ort des Nachdenkens, der Diskussion unter Gleichen, der „analogen Kommunikation“, erhält dadurch Sinn, gerade in Zeiten großer Disruptionen, digitaler Schnelllebigkeit und Spaltung der Gesellschaft; Deine Predigt heute (9.3.25) in der Thomaskirche hat das eindrucksvoll unterstrichen.
Jedes Mitglied Deiner „Bande“ darf und wird stolz sein, dieser anzugehören.
Kann es sein, dass Sie dieses Thema ziemlich ähnlich schon einmal vor einigen Jahren abgehandelt haben, vielleicht im Luther-Jahr? Ich stimme Ihnen jedenfalls zu und finde vor allem den Hinweis auch auf Lyndal Roper gut, die ja schon in ihrer Luther-Biographie ihre Kompetenz unter Beweis gestellt hat.
Ihr Hinweis: „Doch Luthers unbändiger Zorn, die panische Angst der Fürsten um ihre Macht und ihren Einfluss, der gewaltbereite Widerstand der Bauern führten dazu, dass 1525 die kriegerische Gewalt ins Unermessliche eskalierte“ – dieser Hinweis und Ihre Folgerungen greifen vielleicht etwas kurz, da sie die Zustände aus der heutigen Sicht bewerten, eine Versuchung, der der Historiker widerstehen muss. Gewalt war in diesen Zeiten generell und in den Strukturen der damaligen Zeit angelegt, der 30-jährige Krieg stand noch bevor, die Fürstenherrschaft war grundsätzlich unumstritten (auch durch das Weltbild der Katholischen Kirche und auch Luther war ja, wie Sie richtig feststellen, ein gewalttätiger Mann), die sogenannte Aufklärung war noch im Kindesalter. Und auch die „Nachfolge-Revolution“ für die Menschenrechte, 1989 in Frankreich, war ja eine ungeheuer gewalttätige.
„Wer für Menschenrechte, für Freiheit, für ein gerechtes Zusammenleben streitet und dafür eintritt, darf in der Anwendung der Mittel, um diese Ziele zu erreichen, diese nicht konterkarieren“ – ich weise nochmal darauf hin, dass Sie und ich in dieser Zielsetzung vollständig übereinstimmen. Ich bin davon überzeugt, dass Ihr Schlüsselwort hier „Anwendung“ ist; „Bereithaltung und Bereitschaft“ als Vorsorge sind dagegen zwingende Voraussetzung zur Vermeidung der Anwendung, wie es uns ja auch Pistorius (und inzwischen das gesamte politische Spektrum in der demokratischen Mitte) überzeugend darstellt.
Andreas Schwerdtfeger
Ja, 2016 und vor allem 2017 bin ich – wenn auch nur kurz – auf die 12 Artikel der Bauern eingegangen. Ich habe damals dafür plädiert, diese Artikel beim Reformationsjubiläum unbedingt mitzufeiern. d.h. zu bedenken.
Hier sind ja heute gar nicht die üblichen Verdächtigen. Liegt vermutlich am Thema.