Nur noch wenige Monate trennen uns vom Jahr 2017, dem Reformationsjubiläum. Bis jetzt hat es die Evangelische Kirche nicht vermocht, dieses Jubiläum als ein Ereignis zu kommunizieren, das alle Menschen in Mitteleuropa und darüber hinaus angeht. Mitte 2015 hieß es: „Das Reformationsjubiläum 2017 ist im Kern ein Christusfest, das die Botschaft von der freien Gnade Gottes ausrichten will an alles Volk.“ Mit dem Motto „Christusfest“ versuchen die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz, das Reformationsjubiläum ökumenisch auszurichten und von den gesellschaftlichen und politischen Dimensionen vor 500 Jahren zu lösen. Doch geht damit nicht das verloren, was wir heute dringend brauchen: ein evangelisches, protestantisches Profil, das als wesentlich für das Zusammenleben der Menschen wahrgenommen wird? Warum besinnt sich die Evangelische Kirche nicht auf den Kern des Reformationsgeschehens: der grundlegenden Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens im 16. Jahrhundert unter kritischer Einbeziehung all der Folgen, die revolutionäre Umbrüche immer nach sich ziehen – Spaltungen innerhalb der Reformgruppen, gewalttätige Machtkämpfe, ideologische Bereinigungen, religiöse Überfrachtung von sozialen Konflikten? Darum: Wer nach 500 Jahren auf die Reformation zurückblickt, sollte das in den Mittelpunkt stellen, was trotz aller Verwerfungen und Widersprüche als Errungenschaft auch heute von Bedeutung ist: Freiheit, Bildung, Verantwortung. Das gilt es breit zu kommunizieren und in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Dieser ist geprägt von sozialen Spannungen, Nationalisierung der Politik, Ausgrenzungsbereitschaft des und der Fremden, Abkehr vom Friedensprojekt Europa, militärische Interventionspolitik und einer politischen Gesamtlage in der arabischen Welt, die in Vielem dem gleicht, wovon das 17. Jahrhundert in Mitteleuropa während des 30-jährigen Krieges geprägt war: eine Neuordnung Mitteleuropas durch kriegerische Auseinandersetzungen, aufgeheizt durch gewalttätigen Konfessionalismus innerhalb einer großen Religionsgemeinschaft. Dies bedenkend, ist es aus meiner Sicht wichtig, die drei reformatorischen Errungenschaften und Einsichten zu verdeutlichen, auf die wir auch heute nicht verzichten können:
- Freiheit: Der befreiende Charakter des Glaubens liegt darin, dass der einzelne Mensch in seiner ganzen Unvollkommenheit vor Gott steht und durch ihn die Rechtfertigung seines Lebens erfährt. Diese befreit den Menschen von aller Fremdbestimmung, durch die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen eingegrenzt werden sollen, und von aller Selbstbehauptung. Evangelisch verstandene Freiheit verträgt sich nicht mit Gängelung durch kirchliche Hierarchien, staatliche Machtansprüche oder soziale Ausgrenzung. Sie beinhaltet aber auch die Einsicht in eigene Fehlbarkeit und Begrenztheit des Lebens.
- Bildung: Die Reformatoren haben schnell erkannt, dass der Glaube als Grundlage der Freiheit ohne Bildung verkümmert. Darum haben die Reformatoren von Anfang an darauf gesetzt, dass Menschen (und zwar Jungen und Mädchen!) lesen, schreiben, rechnen lernen und die Natur erkunden, um die Selbstständigkeit, die sich aus der Freiheit eines Christenmenschen ergibt, auch leben und gestalten und Abhängigkeiten überwinden zu können.
- Verantwortung: Auch wenn der Mensch in seiner Individualität, seiner Einzigartigkeit anerkannt wird und seine Würde unantastbar ist, so trägt er dennoch und darum für das Gemeinwesen eine hohe Verantwortung. Denn Freiheit und Bildung können nur gelebt werden, wenn davon kein Mensch ausgeschlossen bleibt. Das setzt voraus, dass wir das Leben aller Menschen auf dieser Erde aufeinander beziehen. Das entspricht der Gottebenbildlichkeit des Menschen, dem Gebot der Nächstenliebe wie der Goldenen Regel. Verantwortung steuert also das Wechselspiel von individueller Freiheit und Bindung an die Grundwerte.
Diese Leitmotive der Reformation gilt es zu kommunizieren und zu feiern. Freiheit – Bildung – Verantwortung: dieser Dreiklang müsste ab dem 01. Januar 2017 überall zu sehen und zu hören sein. Auf diesem Hintergrund ist die Reformation als eine der Ursprünge der Demokratie darzustellen. Darum plädiere ich dafür, dass die 12 Artikel der Bauern von 1525, von Martin Luther in Bausch und Bogen verworfen, als urdemokratisches Dokument durch die Kirchen der Reformation eine Rehabilitation erfahren. Dies müsste einen mindestens ebenso breiten Raum einnehmen wie die kritische Auseinandersetzung mit Luthers verheerender antijüdischer Propaganda– gerade weil wir auch als Kirche den Kampf um die Demokratie offensiv führen müssen. Was wir 2017 nicht brauchen, ist eine protestantisch-zerknirschte Selbstbeschau, ein krampfhaft-gewolltes ökumenisches Christusfest, das doch nur seicht daherkommen und alle Widersprüche umschiffen wird. Was wir brauchen ist eine klare Botschaft in eine Gesellschaft, die dabei ist, sich von reformatorischen Errungenschaften zu verabschieden: einen demokratischen Aufbruch, unmissverständliche Option für die Menschenwürde, von der niemand ausgenommen werden darf, soziale Gerechtigkeit als Bedingung der Freiheit und die Einsicht Luthers, dass jeder Mensch doch nicht mehr ist als ein „armer, stinkender Madensack„. Natürlich: Dies setzt voraus, dass wir Grundlagenarbeit, also GlaubensBildung (Glauben bildet – bildet Glauben) leisten müssen, um den auch innerkirchlich weit verbreiteten biblischen und theologischen Analphabetismus zu überwinden. Nur wenn wir über unseren Glauben sprach- und auskunftsfähig sind und werden und uns der gesellschaftspolitischen Implikationen gewiss sind, werden wir als Christen in der multireligiösen Gesellschaft angstfrei bestehen und einen wesentlichen Beitrag zum verantwortlichen Zusammenleben leisten können.
Nachtrag: Soeben erschien das Materialheft für die Kirchgemeinden der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens zum Reformationsjubiläum 2017 unter dem Titel „Feiern-Erinnern-Segnen-Träumen – Reformationstag bei uns“. Auf den 54 Seiten kommt das Stichwort „Demokratie“ nicht einmal vor … eine typische entpolitisierte und entpolitisierende Binnenbroschüre mit einem seichten Wohlfühlmotto.
7 Antworten
Lieber Herr Pfarrer Wolff,
Sie sprechen mir aus dem Herzen und bringen auf den Punkt was ich und Viele denken:
Ökumene gerne, Christusfest jederzeit ,aber nicht am 31.10.2017, denn dann ist
Reformationsjubiläum und das feiern wir evangelischen Christen fröhlich und selbstbewusst, weil wir wissen, warum wir gerne evangelisch sind.
Lieber Herr Pfr. Wolff!
Ihr Text spricht mir aus dem Herzen. Vielen Dank für diese klaren Worte. Ich habe mich mit dem Thema selbst für die kommende Gemeindebriefausgabe in Mühlhausen befasst und füge meinen Kommentar gerne an:
An(ge)dacht
2017 – 500 Jahre Reformation: Aber was feiern wir da eigentlich oder vor allem wie feiern wir das? Reformationsjubiläum oder Reformationsgedenken? Ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren hat man sich auch viel den Kopf darüber zerbrochen, was wir alles nicht feiern können. Und schaut man sich das offizielle Jubiläumsprogramm an, so kann man teilweise den Eindruck bekommen, dass außer Volksfest und Party kein wirklicher inhaltlicher Impuls zu erwarten ist. Haben wir es schon so nötig, uns nur noch als Eventkirche zu definieren, die über kostenloses WLAN in ihren Kirchen nachdenkt oder haben wir noch den „Mumm“, ecclesia semper reformanda – die sich immerfort reformierende Kirche – im Sinne Luthers zu sein? Als Protestanten im wahrsten Wortsinn aufzutreten? Oft genug, geben wir doch nur noch das Bild einer fertig eingerichteten, gefühligen Harmoniekirche ab, deren Leitung beharrlich ihren Selbsterhaltungstrieb pflegt, als seien wir noch die heile Volkskirche. Frei nach dem Prinzip: Nach der Befreiungstat der Reformation kamen die Landeskirchenämter.
Der Professor für Pädagogik Joachim Kunstmann schreibt in einem Beitrag auf evangelisch.de „Luthers Programm lässt sich bereits aus der ersten seiner 95 Thesen von 1517 herauslesen: ‚Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße!’, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.‘ Viele verstanden sofort, was das hieß: Religion ist eine Sache persönlicher Verantwortung. Nichts darf sich zwischen Gott und das Herz eines Menschen stellen!“ Ja, darauf kommt es an, liebe Leserinnen und Leser und ich füge hinzu, dass diese Freiheit dann natürlich auch immer die Freiheit des anderen ist. Wenn wir also gefragt werden, was wir 2017 feiern, können wir gar nicht anders, als zu sagen: REFORMATION! Doch nicht Reformation 1517, sondern Reformation 2017. Ob es dazu einen erneuten Thesenanschlag braucht, ich will es an dieser Stelle offenlassen, aber haben wir als Christen innerhalb unserer Kirche und damit sozusagen als Kirche den Schneid, im Geiste dieser Freiheit (unseres Öffentlichkeitsauftrages!) auch einmal mutig anzuecken oder zu hinterfragen, denn dann ist wirklich ein Reformationstag. Nein, sogar Reformationsfest.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten Gemeindebeirates „Divi Blasii-St. Marien“ fröhliche Reformation. Ihr Johannes Zähle
Lieber Christian,
gewiss kann man die Bemühung, das Reformationsjubiläum ökumenisch verträglich zu begehen – das ist die Intention des „Christusfests“, auch kritisieren. Das geschieht von ganz verschiedenen Seiten her. Das Christusfest hat Vor- und Nachteile, stellt aber mindestens Luthers Einsicht heraus, derzufolge das „Zurück zu den Quellen“ des Humanismus und der Reformation auch ein theologisches „Zurück“ zur paulinischen Theologie war, die wiederum Jesu Gottesreichsverkündigung ernst nahm. Und im Zentrum des jesuanischen Evangeliums steht der Satz: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Luther hat mindestens versucht, das bei all seinem politischen Agieren ernst zu nehmen.
Wieso Du meinst, Luther habe die 12 Artikel der Bauern „in Bausch und Bogen verworfen“ ist mir unklar. Das Folgende schreibt der Reformationsgeschichtler Basse in dem demnächst in der EVA erscheinenden 3. Band der Deutsch-Deutschen Studienausgabe Martin Luther zur Erklärung von Luthers Reaktion auf die Zwölf Artikel: „In einem ersten Teil wandte sich Luther an die weltliche und geistliche Obrigkeit. Er rief diese dazu auf, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden und den friedlichen Ausgleich mit den Bauern zu suchen, zumal deren religiöse und wirtschaftliche Forderungen zumindest teilweise berechtigt seien. In einem zweiten, deutlich umfangreicheren Teil setzte sich Luther kritisch mit den Bauern auseinander, indem er die biblische Legitimation der Zwölf Artikel grundsätzlich in Frage stellte und jegliche Selbstjustiz verurteilte. Er stellte dem Rekurs auf ein aus der Bibel abgeleitetes göttliches Recht das Gewaltmonopol der weltlichen Obrigkeit gegenüber und legte den Hauptakzent seiner Ausführungen darauf, das rechte Verständnis der von Gott eingesetzten Obrigkeit sowohl biblisch-theologisch als auch im Blick auf ein allgemein anerkanntes Naturrecht darzulegen. Im Detail nahm Luther nur zu den religiösen Forderungen der Zwölf Artikel Stellung und billigte diese weitgehend, wobei er die Bauern aber aufforderte, sie nicht gewaltsam durchzusetzen; die Klärung der wirtschaftlichen und rechtlichen Streitfragen verwies er an die Juristen. Im Schlussteil beschwor Luther beide Seiten, eine friedlichen Einigung herbeizuführen, die er zu dem Zeitpunkt, als er die Schrift verfasste, noch für möglich hielt.“
Das ist in aller seriösen Lutherforschung weitgehend Konsens. Wirklich gegen die Bauern wandte sich Luther erst, nachdem er erfahren hatte, dass deren Führer Söldner gedungen hatten, die mordend und plündernd durchs Land zogen. Das Vorgehen Münzers und dessen Ergebnis gaben Luther recht. Aus Leipzig, das am Beginn der Friedlichen Revolution stand, sollte doch wohl keine Kritik an Aufrufen zur Gewaltlosigkeit kommen, wie sie Luther vor 500 Jahren verbreitete. Zumal ihn auch die späteren Revolutionen – sowohl die französische als auch alle kommunistischen – in ihren schrecklichen Folgen bestätigen. Luthers Schrift in Reaktion auf die 12 Artikel der Bauern ist leicht zugänglich, den EVA-Band, der auch diesen Text enthält, lege ich Dir ans Herz, sobald er auf dem Markt ist. Herzlich, Annette
Liebe Annette, vielen Dank für den kritischen Kommentar. Ich gebe Dir Recht: mein Satz ist etwas zu pauschal geraten und denkt Luthers Wüten gegen die Bauern in seiner Schrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ mit. Da ist er ja nicht gerade zimperlich mit den Bauern umgegangen. Ich gebe zu, dass ich mich sehr schwer tue mit Luthers Haltung im Zusammenhang der Bauernkriege; gleichzeitig muss man aber bei nüchterner Betrachtung feststellen: Wenn Luther sich auf die Seite der Bauern geschlagen hätte, wäre von der Reformation nicht viel übrig geblieben. Das aber sollte uns nicht davon abhalten, die 12 Artikel der Bauern als wichtiges, urdemokratisches Dokument anzusehen, auf das wir als Kirche stolz sein sollten, und uns gerade deswegen heute offensiv in den Kampf um die Demokratie einzuschalten. Wo ich Dir widersprechen möchte: Luther war leider kein Anwalt der Gewaltlosigkeit. Gerade in der erwähnten Schrift ruft er die Fürsten zur Gewalt gegen die Bauern auf: „Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss“. Das sind die Traditionen, an die ich nicht gerne anknüpfe, dann schon eher die 12 Artikel der Bauern. Noch zwei Anmerkungen zum ersten Teil Deines Kommentars: 1. Gott sei Dank das, wovon Jesus kündet, nicht von dieser Welt! So haben wir wenigstens eine Ahnung von dem, was uns bevorsteht und woraus wir schöpfen können; und diese Ahnung kann nicht zunichte gemacht werden. 2. Für mich ist der zentrale Satz Jesu aus dem Evangelium „Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Danke und Beste Grüße Christian
Lieber Christian,
mir geht es nicht darum, Luther nicht auch zu kritisieren, man sollte ihn nur eben nicht diffamieren. Seine drastische Sprache erscheint uns heute wenig hilfreich. Um so wichtiger aber ist es darauf hinzuweisen, dass Luther die berechtigten Forderungen der Bauern den Fürsten gegenüber unterstützt hat und strikt gegen Bürgerkrieg war. Luther hat das Gewaltmonopol strikt auf den Staat, die „Obrigkeit“ beschränken wollen. Das ist auch unsere moderne Position, nur dass unsere demokratische Gesellschaft Gott sei Dank die Todesstrafe abgeschafft hat und alles tut, um Bürgerkriege durch sozialen Ausgleich zu verhindern. Und eben auch um sozialen Ausgleich ging es Luther vielfach, nicht nur in seiner „Ermahnung zum Frieden als Antwort auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ von 1525, sondern auch in der Leidinger Kastenordnung usw. Das als eine Errungenschaft der Reformation herauszustellen, sollte ja auch gerade in Deinem Interesse sein. Viele Grüße, Annette
Lieber Christian,
Dein Blog spricht mir aus dem Herzen. Als ich selbst noch im Kirchenamt war und an den Anfängen der Planungen beteiligt war, hatte die konsequent ökumenische Perspektive und die politisch-gsellschaftliche Dimension schon damals nur wenig Gehör.
Ich werde Deinen Beitrag in „meinen Kanälen“ weiter verbreiten.
Herzlichen Dank,
Martin Schindehütte
Sehr geehrter lieber Herr Wolff, Ihren Ausführungen stimme zu – in jeder Hinsicht. Als Be-
fürworter einer wahrhaftigen Ökumene, die notwendig auch Ecken und Kanten zeigt, bin
ich gegen jeden „Einheitsbrei“. Er dient letztlich nur der gesellschaftl. Ruhigstellung der
Massen. Das ist heute generell das Problem beider großen Konfessionen, daß sie
nahezu überall den Konsens suchen, ohne inhaltlich etwas zu klären. Ein Zeichen großer
Schwäche und Verunsicherung. Herzlich grüßt Sie und Ihre Frau: Lutz Pohle