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Der 10. Dezember 2018: 70 Jahre Menschenrechtscharta und 50. Todestag von Karl Barth

Eleanor Roosevelt mit der Menschenrechtscharta 1949

Am 10. Dezember 1948, also vor 70 Jahren, wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verkündet. Inzwischen wird der 10. Dezember als „Internationaler Tag der Menschenrechte“ begangen. Artikel 1 der UN-Menschenrechtscharta lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Ein halbes Jahr später, am 23. Mai 1949, hat dieser Artikel Eingang ins Grundgesetz gefunden: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Mit Artikel 1 GG hat Deutschland seine Verfassung nicht nur auf die Basis der Menschenrechtscharta gestellt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damit auch jeder Form von Nationalismus und völkischer Deutschtümelei eine Absage erteilt. Denn die Menschenrechte sind nicht an eine bestimmte Volksgruppe oder Kultur gebunden. Sie sind „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft … in der Welt“. Damit reiht das Grundgesetz das „Deutsche Volk“ in die universale Menschengemeinschaft ein. Das Deutsche Volk und seine staatlichen Organe haben sich in ihrem Wirken an den Menschenrechten auszurichten. Damit ist ebenfalls festgeschrieben, dass die Politik Deutschlands immer international ausgerichtet sein muss, um den Frieden zu sichern. Darum die Mitgliedschaft in der UNO, darum Deutschland als Teil Europas, darum auch die Notwendigkeit internationaler Vereinbarungen wie der UN-Migrationspakt. Wir können nicht dankbar genug für diese Errungenschaft sein.

Karl Barth (10. Mai 1886 – 10. Dezember 1968)

Am 10. Dezember 2018 jährt sich auch der Todestag des für mich bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts Karl Barth zum 50. Mal. Über seine politischen Schriften habe ich Zugang gefunden zu seiner monumentalen Kirchlichen Dogmatik, mit der er das Reden von Gott zum Zentrum von Theologie und Kirche und zum Ausgangspunkt aller Menschlichkeit und Verantwortlichkeit erklärte. Was mich immer fasziniert und überzeugt hat: Barth hat vom gesellschaftspolitischen Verhalten der Akteure auf die Tiefe und Glaubwürdigkeit ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis geschlossen. Darum hat er 1915, nachdem 93 der bedeutendsten Wissenschaftler und Intellektuellen Deutschlands im August 1914 die Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. unterstützt hatten, eine bittere Bilanz gezogen:

… unter denen, die es unterschrieben hatten, mußte ich mit Entsetzen auch die Namen ungefähr aller meiner deutschen Lehrer (…) entdecken. Ich habe eine Götterdämmerung erlebt, als ich studierte, wie Harnack, Herrmann, Rade, Eucken etc. sich zu der neuen Lage stellten, wie Religion und Wissenschaft restlos sich in geistige 42 cm Kanonen verwandelten. (Ich wurde irre) an der Lehre meiner sämtlichen Theologen in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschienen. An ihrem ethischen Versagen zeigte sich, dass auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten. Und also, eine ganze Welt von Exegese, Ethik, Dogmatik und Predigt, die ich bis dahin für grundsätzlich glaubwürdig gehalten hatte, kam damit und mit dem, was man damals von den deutschen Theologen sonst zu lesen bekam, bis auf die Grundlagen ins Schwanken.

Als junger Schweizer Pfarrer kümmerte sich Barth um die Arbeiterschaft seines Dorfes Safenwil. 1915 trat er in die sozialdemokratische Partei der Schweiz ein. 1932 wurde er Mitglied der SPD, was damals für einen Professor an einer deutschen Universität absolut ungewöhnlich war. 1934 erhielt er von den Nazis Redeverbot und musste seine Professur an der Universität Bonn aufgeben. In diesen Tagen bin ich auf einen Vortrag gestoßen, den Karl Barth 1947 gehalten hat: „Der deutsche Student morgen und heute“. In diesem benennt er vier Gefahren: die harte äußere Lage, die alliierte Besatzungspolitik, die hermetische Abschließung Deutschlands und:

Die vierte Gefahr ist die ältere Generation, die dem deutschen Studenten besonders in Gestalt der Mehrheit seiner Professoren entgegentritt. Es gibt auch unter dieser älteren Generation ehrenvolle Ausnahmen. Und es ist klar, dass die Wenigen, die hier zu nennen wären, viele Andere aufwiegen. Aber es sind zu viele dieser Anderen, die viel zu wenig gelernt und viel zu wenig vergessen haben, als daß sie der akademischen Jugend gerade bei der für ihre Zukunft so dringend nötigen Klärung des Verhältnisses von deutscher Vergangenheit und Gegenwart und zu einer wirklichen Aufgeschlossenheit für neue Fragestellungen hilfreich sein könnten: keine Bösewichte, keine Nazis, nur unverbesserliche Nationalisten in der Art derer, die das zum ersten Mal frei gewordene Deutschland 1918-1933 dem neuen Verderben entgegengeführt, es schließlich ans Schlachtmesser geliefert, dann sich als ‚anständige Leute‘ aufs Grollen und wohl auch aufs Komplottieren gegen Hitler verlegt haben und nun längst wieder zu mehr oder weniger vernehmlichem Grollen gegen die letztlich nicht ohne ihre ganz besondere Mitschuld entstandene Lage übergegangen sind. Es ist fatal, dass so viele deutsche Studenten dem Unterricht, der Erziehung, dem Vorbild gerade dieses Professorentypus ausgeliefert sind. In dieser Schule werden sie keine freien Männer werden.

Der Vortrag löste eine kontroverse Debatte aus. In dieser antwortete Barth abschließend auf seine Kritiker:

Wer heute, 1947, im Rückblick auf 1918 noch immer über die damalige deutsche Niederlage und Versailles reflektiert, statt einzusehen, daß damals dem deutschen Volk zum ersten Mal die Chance geboten war, als freies (von einem System der Unfreiheit befreites!) Volk seine Zukunft inmitten der anderen Völker in seine eigene Hand zu nehmen, – wer das heute, 1947, noch nicht einsieht, in dessen Schule werden die deutschen Studenten keine ‚freien Männer‘ werden. Warum nicht? Weil er offenbar heute, im Rückblick auf 1945, erst recht einem neuen Unfug, einem neuen 1933 entgegenreflektiert. Ich erlaube mir, ihn, welches auch seine persönlichen Vorzüge und wissenschaftlichen Meriten sein mögen, für eines der Hindernisse auf dem Weg des heutigen Studenten anzusehen.

Erstaunlich: Barth hat mit dieser Einschätzung die Kritik der 68er Generation an einer mangelnden Aufarbeitung der Nazi-Zeit gerade an den Universitäten vorweggenommen. Mehr noch: Er hat schon vor 70 Jahren der Einschätzung widersprochen, dass die Weimarer Republik ein Unglücksfall in der Geschichte Deutschlands gewesen wäre und den Nationalsozialismus ermöglicht hätte. So habe ich das noch im Geschichtsunterricht gelernt – und damit hörte er auch auf. Nein: Die Ausrufung der Republik 1918 war eine Befreiung, die Weimarer Verfassung war ein Aufbruch zur Demokratie! Sie scheiterte an denen, die sie von Anfang bekämpft haben – und dazu gehörten große Teil der Universitäten und der evangelischen Kirche. Heute stehen wir wieder in einer Auseinandersetzung zwischen freiheitlicher Demokratie und Nationalismus. Da wünschte man sich solch klare Stimmen, die wissenschaftliche Arbeit mit gesellschaftspolitischer Verantwortung und demokratischer Gesinnung verbinden und dafür einstehen. Leider spielt aber das Werk Karl Barths in der gegenwärtigen Theologie und Kirche kaum noch eine Rolle. So sieht dann auch die theologische und kirchliche Praxis aus: zunehmend saft- und kraftlos. Dabei wäre jetzt politische Geistesgegenwart von Theologie und Kirche vonnöten, um die rechtsstaatliche Demokratie zu stärken. Sie ist immer noch – so Karl Barth in seiner Schrift „Rechtfertigung und Recht“ von 1938 (!) – die dem Evangelium gemäße Form des staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens und bedarf einer unmissverständlichen Option.

4 Antworten

  1. Schön, wie Sie das formulieren, lieber Herr Krause, und Ihre Aufzählung der „verschiedenen und doch kompatiblen“ Identitäten in unterschiedlichen Graden ist nicht nur die Realität bei wohl sehr vielen Menschen in unserer Zeit sondern würde durchaus auch auf mich passen. Und Sie sprechen mit Ihrer Frage genau das an, was ich meine, denn es ist wohl jedem selbst überlassen in einer Demokratie, ob er die Grade des „gern“ eben anders verteilt als Sie. Und wenn jemand zB schreiben würde, er sei sehr gerne Sachse, gerne Deutscher, weniger gerne Europäer und gar nicht gerne Weltbürger, dann würden Sie und ich das vielleicht nicht verstehen – aber es wäre keine „Deutschtümelei“, es wäre nichts Vorwerfbares oder zu Verunglimpfendes, es wäre nicht unanständig oder radikal; es wäre nur anders. Und das ist Demokratie.
    In diesem Sinne grüße ich Sie.
    Andreas Schwerdtfeger

  2. Zum ersten Teil Ihres Beitrages, lieber Herr Wollf – zur UN-Menschenrechtscharta – ist zu sagen, daß sie in der Tat erst nationales Recht wurde, als sie inhaltlich in das Grundgesetz und die deutsche Gesetzgebung übernommen wurde. Denn die Charta als solche war „unverbindlich“ – Empfehlung der UNO, wenn man so will. Und so ist es jetzt wieder mit dem UN-Migrationspakt.
    Aber mit dieser sogenannten „Unverbindlichkeit“ ist es schon problematisch. Am 4. Dezember kritisierte der DLF im Mittagsmagazin vehement den Vatikan, der die Menschenrechtscharta nicht unterschrieben hat – warum diese Kritik, wenn die Charta doch unverbindlich ist? Jetzt ist es wieder so, daß der Migrationspakt von seinen Befürwortern den Zögernden oder Ablehnenden schmackhaft gemacht wurde mit dem Hinweis auf seine legale Unverbindlichkeit. In Wirklichkeit aber werden die Befürworter in der Zukunft das Argument der Unverbindlichkeit fallen lassen und die Nichtteilnehmer an den Pranger stellen. Es ist ja sowieso recht unlogisch, Staaten mit dem Hinweis auf seine Seite ziehen zu wollen, daß sie doch unterschreiben könnten, weil sie sich zu nichts verpflichten. In Wirklichkeit ist es so, daß die Unterschrift eine moralische Selbstverpflichtung unterstellt und die Verweigerung der Unterschrift als Ablehnung dieser Verpflichtung interpretiert und also kritikauslösend werden wird.
    Beide Papiere – die Charta und der Migrationspakt – sind gute Grundlagen für die internationale Lösung globaler Probleme. Der Satz: „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damit auch jeder Form von Nationalismus und völkischer Deutschtümelei eine Absage erteilt“ ist natürlich trotzdem falsch, denn eine Übernahme internationaler Grundsätze in eigene Gesetzgebung hat überhaupt nichts zu tun mit Ablehnung von „Deutschtümelei“, wie umgekehrt auch die Betonung nationalen Erbes (im guten wie im schlechten) und der Wunsch nach Beibehaltung nationaler Identität in einem internationalen Umfeld nichts mit „Deutschtümelei“ zu tun hat. Die Autoren des GG waren deutsche Patrioten in einem gemeinsamen Europa – sie jetzt im Kampf um seine eigene Ideologie zu instrumentalisieren ist Mißbrauch. Auch die Feststellung „Damit ist ebenfalls festgeschrieben, dass die Politik Deutschlands immer international ausgerichtet sein muss, um den Frieden zu sichern“ ist keine Absage an eine eigene deutsche Identität in einem gemeinsamen Europa: Dass Politik – nicht nur die Deutschlands – „immer international ausgerichtet“ sein muß, ist eine Platitüde – auch Kaiser Wilhelms Politik war international ausgerichtet –, aber auch das ist kein Argument gegen den Wunsch nach eigener Identität und Kultur. Die Frage ist eben gar nicht die nach den Menschenrechten – die in Deutschland recht vorbildlich geschützt sind – sondern die nach dem dem Menschen immanenten Impuls nach Identität und dieser muß in Einklang gebracht werden mit einer sich immer mehr öffnenden und internationalisierenden globalen Welt. Da sind Worte wir „Deutschtümelei“ schädlich – und schlimmer als das des „Gutmenschen“. Denn Gutmenschen unterstellt man wenigstens gute Absichten, auch wenn ihre Wirkungen schädlich sind.
    Was den zweiten Teil Ihres Beitrages angeht: Karl Barth war ein ehrenhafter Mann. Seine politische Position in der europäischen Nachkriegszeit aber war genau die eines schlimmen Gutmenschen – sie hätte zur Unterwerfung des westlichen Europa, mindestens des westlichen Deutschland, unter die Sowjets geführt, aber immerhin: „Deutschtümelei“ hätte es dann nicht gegeben.
    Herzliche Grüße,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Welche Identität meinen Sie denn, Herr Schwerdtfeger: Ich bin z.B. Leipziger (sehr gern), Sachse (etwas weniger gern), Deutscher (auch sehr gern), Europäer (fast am liebsten) – und auch ein bisschen Weltbürger! Also: Welche Identität sollte GESTÄRKT werden? Die kommunale? Die regionale? Die nationale? Die europäische? Die globale? – Darauf hätte ich gern mal eine Antwort von Ihnen! Danke.

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