In der öffentlichen Debatte um die zukünftige Ausrichtung der Europapolitik wird nur selten auf die Präambel des Grundgesetzes zurückgegriffen. Das ist umso erstaunlicher, als diese Präambel von den Verfassungsvätern und – müttern zu einem Zeitpunkt (1948/49) formuliert wurde, als von einem vereinten Europa allerhöchstens als eine Vision gesprochen werden konnte. Leider ist auch aus dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden, dass die Deutsche Einheit 1990 nur erreicht werden konnte, weil Deutschland eingebettet war in die Europäische Union. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl wies darauf hin, dass „die deutsche Einheit und die europäische Einigung … zwei Seiten einer Medaille sind.” Das vereinte Europa war also notwendige Bedingung für eine Verständigung auf die Vereinigung der BRD und DDR in den sog. Zwei+Vier-Verhandlungen. Niemals hätten Frankreich oder England der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung eines eigenständigen Nationalstaates zugestimmt.
Wie aber lautet die Präambel des Grundgesetzes? „In dem Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Seit 75 Jahren versteht sich die Bundesrepublik Deutschland als „Glied in einem vereinten Europa“. Daran haben auch die tiefgreifenden Veränderungen in Folge der Friedlichen Revolution 1989/90 nichts geändert. Das vereinte Europa ist für die Bundesrepublik Deutschland Staatsziel und nicht eine politische Option, die jederzeit wieder einkassiert werden kann. Das wird auch durch das Ergebnis der Zwei+Vier-Verhandlungen unterstrichen. 1990 kamen die Bundesrepublik Deutschland, die DDR, die Französische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika überein, „in Würdigung dessen, dass das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ (Abs. 10 der Präambel des Einigungsvertrages).
Darum bewegen sich alle politischen Gruppierungen, die einen deutschen Nationalstaat über die europäische Einigung, über die EU stellen wollen, nicht nur auf sehr dünnem Eis. Diejenigen, die – wie die europafeindliche AfD – den Austritt der Bundesrepublik aus der EU propagieren, handeln verfassungswidrig. Das kann man nicht oft genug betonen. Denn mit ihrem ihre wahren Absichten verharmlosenden Slogan „Europa neu denken“ will die AfD darüberhinweg täuschen, dass ihre Kandidat:innen zur Europawahl die EU mit der „Abrissbirne „ beseitigen wollen. Doch dem steht Artikel 23 Abs. 1 GG entgegen: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“* D.h. Das vereinte Europa ist als Staatsziel gesetzt. Es ist Voraussetzung und Bedingung für die Staatlichkeit Deutschlands. Das Deutschland des Grundgesetzes kann nicht gedacht werden als nationaler Einzelstaat, sondern nur im Verbund, eben als „Glied“ (Präambel GG) eines vereinten Europas. Offen bleibt nur, ob sich das vereinte Europa als Staatenbund oder Bundesstaat versteht. Von der Genese des Grundgesetzes her gesehen haben die Verfassungsväter und -mütter im Blick auf ein vereintes Europa eher an einen Bundesstaat mit föderaler Struktur (Vereinigte Staaten von Europa) gedacht. Aber selbst wenn man eher an einen Staatenbund denkt, heißt das für die Bundesrepublik Deutschland: Auch im Staatenbund ist sie Teil des vereinten Europas. Eine Option, diesen zu verlassen, könnte es nur unter der Bedingung geben, dass der Staatenbund in Gänze die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze“ und die Grundrechte nicht mehr gewährleistet. Umgekehrt bedeutet dies: Deutschland als Teil „in einem vereinten Europa“ muss seine Rechtsordnung dem europäischen Verfassungsrecht ein- und unterordnen.
Wenn wir heute über die Weiterentwicklung der EU diskutieren, dann gilt es drei Grundsätze zu beachten:
- Die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa ist mit dem Grundgesetz nicht nur vereinbar. Sie ist unter den Bedingungen von Art. 23 GG die bessere Option, um Europa insbesondere auf dem Gebiet der Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik handlungsfähig zu machen.
- Eine Aufkündigung des Staatenbundes oder eines Bundesstaates ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
- Eine föderale Struktur der Staatengemeinschaft im vereinten Europa ist ein Garant dafür, dass nationale und regionale Interessen ausreichend Berücksichtigung finden.
Insgesamt kann man sich im 75. Jahr des Grundgesetzes vor der Weitsicht der Verfassungsväter und -mütter nur verneigen. Denn sie haben mit dem in der Präambel verankerten Staatsziel, „Glied in einem vereinten Europa“ zu sein, sowohl die Konsequenzen aus dem kriegstreibenden und demokratiefeindlichen Nationalismus gezogen, wie die Voraussetzung für den europäischen Friedensprozess bis 1990 geschaffen. Beides gilt es für die Weiterentwicklung der Europäischen Union und für eine neue, tragfähige Friedensordnung in Europa fruchtbar werden zu lassen.
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* Bis 1990 beschränkte Art. 23 GG die Gültigkeit des Grundgesetzes auf die Gebiete, die damals zur Bundesrepublik gehörten. „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Das geschah dann durch einen Beschluss der im März 1990 frei gewählten Volkskammer der DDR im August 1990. 1992 wurde dann der Artikel 23 zum „Europa-Artikel“, mit dem die Verwirklichung eines vereinten Europas in der Verfassung festgeschrieben wurde.
20 Antworten
Sie schreiben (im Kommentar, zu Georgien): „Schlimm wird es, wenn dieses demokratische Recht durch Entscheidungen des Parlaments eingeschränkt wird.“ – Das ist wahr, und deshalb sollten solche Einschränkungen immer wieder gründlich diskutiert werden. Aber auch in der EU gibt es ja Einschränkungen der Meinungsfreiheit, und insbesondere vor ausländischem Einfluss haben viele Menschen Sorge. Deshalb ist z.B. „Russia Today“ verboten, und auch in anderer Weise wird ausländischer Einfluss auf unsere Gesellschaft kritisch gesehen – auch in der EU gibt es ja Überlegungen, in Anlehnung an ähnliche Regelungen in den USA eine Beschränkung für ausländische Agenten einzufüghren: https://www.politico.eu/article/eu-ursula-von-der-leyen-ngo-qatargate-foreign-agents-law-disturbs-ngos/. Ich bin mir unsicher, ob wir solche Regelungen brauchen (ich fände es nicht schlimm, wenn „Russia Today“ erlaubt wäre, so wie auch Chinas „People’s Daily“ erlaubt ist, und das „Neue Deutschland“ der SED immer erlaubt war). Vielleicht möchte die Mehrheit der Georgier*innen einfach möglichst wenig Einmischung von außen, weder aus Russland (mit dem man 2008 schlechte Erfahrungen gemacht hat) noch aus der EU?
Unter der Überschrift „Höcke-Prozess: Wahlkampf per Gericht“ zeigt der Historiker Hubertus Knabe (ehemaliger Chef der Gedenkstätte Hohenschönhausen) interessante Aspekte des Prozesses auf. Selbst der „Spiegel“, der Höcke zu Prozessbeginn vorwarf, „den Ahnungslosen“ zu geben, überschrieb noch im September 2023 eine Kolumne mit der SA-Parole „Alles für Deutschland“.
https://hubertus-knabe.de/hoecke-prozess-wahlkampf-per-gericht/
Ich finde es lustig, wie unser Freund Lerchner, den wir ja kennen, uns überzeugen will, dass Linke und BSW die Lösung für Deutschland („LfD“) sind. Europa dagegen wird wohl in der Welt des globalen Zeitalters nur mithalten können, wenn es über seine Anfänge in der Wirtschaft, im Handel und in der freien Bewegung im Binnenmarkt hinauswächst und zu einer POLITISCHEN EINHEIT wird. Insofern ist Lerchners erster Satz schon falsch, wenn man ihn auf die Notwendigkeiten der Weiterentwicklung bezieht. Es ist ja schon immer erstaunlich gewesen, dass die kommunistische Idee – und also auch die der Linken / BSW – in Wirklichkeit vollständig rückwärtsgewandt ist: Keine Freiheit den Menschen, keine Initiative, Regelungen und Vorschriften von oben und Verteilung des kargen Einkommens auf alle unabhängig von Leistung und Einsatz – mit Ausnahme der paar ganz oben – und eine verschwommene „Friedensidee“, die auf einer kaum vorhandenen Solidarität aufbaut; vor allem auch: Bloß keine Weiterentwicklung. Und die Tatsache, dass Europa jetzt noch sehr uneinig und zerstritten ist, lässt sich ja gerade durch das amerikanische Modell minimieren: NUR zentrale Aufgaben bei der gemeinsamen Regierung und ansonsten ein hoher Grad an Dezentralisierung und Selbständigkeit. Wir Europäer müssen wissen, dass es entweder diese Lösung ist – oder eben der Fall in die Bedeutungslosigkeit in der Weltpolitik. Was wir dann in Europa nicht selbst entscheiden oder in der Weltpolitik mitbestimmen (können), das werden dann andere zu höheren Preisen und über unseren Kopf hinweg für uns entscheiden – auch das ein Leitsatz, den Kommunisten gerne praktizieren.
Ich grüße, Sie Herr Lerchner, in fundamentalem innenpolitischen Gegensatz zu Ihnen – denn Europa ist ja längst Innenpolitik.
Andreas Schwerdtfeger
Die Europawahlen als Akt Europäischer Einigung
Paul Kirchhof (81, der „Professor aus Heidelberg“ – Gerhard Schröder) Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., referiert zur Europawahl 2024 bei einer öffentlichen Veranstaltung am 10.5.2024 in der Katholischen Akademie in Bayern.
https://www.youtube.com/watch?v=pxW1BRXYWtE
Die Europäische Union ist sicherlich zu allerletzt eine Plattform für eine gemeinsame Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik. Man vergegenwärtige sich z. B. die unterschiedlichen bis gegensätzlichen Positionen einiger EU-Länder in Sachen Ukraine- oder Gaza-Krieg. Die europäische Integration war als solche auch gar nicht angelegt, sondern funktioniert vor allem als ökonomisches Projekt mit dem Ziel, den freien Verkehr von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften (kapitalistischen Grundfreiheiten) gegen mögliche nationalstaatliche Interventionen zu immunisieren. Damit wurde übrigens eine alte Idee Friedrich August von Hayeks, Miterfinder des Neoliberalismus, verwirklicht: „Die Abschaffung souveräner Nationalstaaten und die Schaffung einer wirksamen internationalen Rechtsordnung sind die notwendige Ergänzung und logische Vollziehung des liberalen Programms. [Denn:] … alles in allem ist es wahrscheinlich, dass in einem [europäischen] Bundesstaat die Macht des Einzelstaates über die Wirtschaft allmählich viel weitgehender geschwächt würde und auch sollte, als es zunächst offenbar sein wird“ (Sahra Wagenknecht, [1]). Dieses zur Kenntnis nehmen hilft, die tiefergehenden Konflikte bei der Gestaltung der europäischen Integration zu verstehen.
Die Herausforderung bei der Gestaltung der europäischen Integration besteht somit vor allem darin, den Vorrang der Durchsetzung von Marktprinzipien gegenüber sozialen Rechten zu begrenzen und Wege für eine demokratische Steuerung des Integrationsprozesses zu finden. Es sollte klar sein, dass die Ablösung der Einbettung von Märkten in Staaten durch die Einbettung von Staaten in Märkte tendenziell einer Abkopplung der Demokratie vom Kapitalismus gleichkommt (Wolfgang Streeck, em. Direktor des MPI für Gesellschaftsforschung in Köln, [2]). Insbesondere besteht die Frage nach der zukünftigen Rolle von Nationalstaaten als die Institution, in der demokratische Mechanismen bisher immer noch am besten entwickelt sind. Extremisten wie der von Flade erwähnte Robert Menasse hätten am liebsten Nationalstaaten komplett entsorgt und Demokratie durch eine Technokratie ersetzt: „Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung des Nationalstaates“. „Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist und bleibt die die Überwindung des Nationalstaates“. „Verpflichtet sind Beamte der Europäischen Kommission ausschließlich einer grundsätzlichen aufgeklärten Rationalität“ (Streeck, [3]).
Dass eine Demokratisierung der EU erforderlich ist, steht außer Frage. Dem Europäischen Parlament fehlen heute viele Merkmale einer parlamentarischen Demokratie. Die Verletzung des Prinzips „one man, one vote“ und die Tatsache, dass keine Regierungen gewählt werden, fällt dabei noch am wenigsten ins Gewicht. Schwerwiegender ist das fehlende Initiativrecht. Die Europäische Kommission hat das Monopol auf Gesetzesinitiativen. Repräsentative Demokratie ist, wenn Wahlen einen Unterschied machen. Bei den Europawahlen werden Parteien bzw. Parteifamilien gewählt. Viele Konfliktlinien sind aber keine zwischen Parteien, sondern zwischen Ländern mit unterschiedlichen Interessen. Damit sind der Steuerung von Kompromissen durch demokratische Wahlentscheidungen enge Grenzen gesetzt. Man denke an das Gerangel um Eurobonds. Dazu kommt noch, dass viele politisch relevante Entscheidungen an der europäischen Gesetzgebung vorbei getroffen werden, z. B. von der EZB (Martin Höppner, [4]).
Wie sollte sich die Europäische Union weiterentwickeln? Spätestens seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages sollte klar sein, dass es den supranationalen Einheitsstaat nicht geben wird. Auffällig ist, dass die Debatten über das Ziel der Integration und insbesondere ihre staatsarchitektonische Absicht weitgehend verstummt sind. Dazu sind die Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten zu groß und werden mit der ansteigenden Zahl der Mitglieder weiter zunehmen. Das staatspolitische Endziel wird offengelassen und „Europa“ wird zum „außerweltlichen Sehnsuchtsort umdeklariert“ (Streeck, [5]).
Statt weiterer Zentralisierung und Vereinheitlichung steht die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Ebene der Nationalstaaten auf der Tagesordnung. Zum Beispiel liegen die folgende Vorschläge bzw. Forderungen auf dem Tisch (Fabio de Masi, BSW-Spitzenkandidat für die Europawahl 2024; [6], BSW-Programm für die Europawahlen, [7]):
· Mehr nationale Spielräume für Investitionen, da EU-Gelder oft an wachstumsfeindliche Strukturreformen gekoppelt sind. Deshalb auch gegen Aufwachsen des EU-Haushaltes.
· Reform des Vergaberechts. Einschränkung der Plicht zur EU-weiten Ausschreibung von Aufträgen.
· Abschaffung des „Europäischen Semesters“ als Instrument der Überwachung der Ausgestaltung der nationalen Haushaltspolitik. Es geht um das Haushaltsrecht demokratisch gewählter Parlamente.
· Beschränkung des Beihilfeverbots aus den EU-Verträgen auf extremen Subventionswettbewerb.
· Der Zugriff der Prinzipien des Binnenmarktes, der EU-Wettbewerbspolitik und der Euro-Regeln auf das Soziale sollte so weit wie möglich verschlossen werden (Beispiel Unternehmensmitbestimmung).
·
Wie man sieht, geht es nicht darum, „einen deutschen Nationalstaat über die europäische Einigung (zu) stellen“ (Wolff) oder gar dem Nationalismus in irgendeiner Form das Wort zu reden, sondern um eine vernünftige Balance zwischen zentralen Regeln und Vorhaben einerseits und nationalstaatlicher Kontrolle andererseits.
[1] Sahra Wagenknecht, „Reichtum ohne Gier“, Campus 2016, S. 25 ff.
[2] Wolfgang Streeck, „Zwischen Globalismus und Demokratie“, Suhrkamp 2021, S. 142.
[3] ebenda, S. 138 ff.
[4] „Der Druck, Reformen anzugehen, wird immer größer“, Makroskop 17.10.2020, https://makroskop.eu/der-druck-reformen-anzugehen-wird-immer-grosser/
[5] Streeck, S. 134
[6] „Die Menschen verstehen unter Links nicht mehr die soziale Frage, sondern Kulturkampf“, Makroskop 09.04.2024, https://makroskop.eu/11-2024/die-menschen-verstehen-unter-links-nicht-mehr-die-soziale-frage-sondern-kulturkam/
[7] Programm für die Europawahl 2024, https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/02/BSW_Europawahlprogramm_2024.pdf
Sehr schön und vielen Dank dafür, diesen Einblick in das „Wahlprogramm“ des BSW zu erhalten. Auffällig ist für mich: die EU als Friedensprojekt und damit politische Leitlinien für eine europäische Friedensordnung spielen offensichtlich keine Rolle für das BSW. Es geht allein darum, den europäischen Binnenmarkt zu nationalisieren. Davon scheint sich das BSW eine Stärkung der Demokratie zu versprechen. Das allerding ist mehr als erstaunlich, wenn man die Entwicklung in Ungarn, Polen oder jetzt Georgien betrachtet. Dort sind die demokratischen Kräfte ganz eng verbunden mit dem Willen zur europäischen Einigung: in Polen hat dies zur Abwahl der nationalistischen PIS geführt, in Ungarn bedingen sich Nationalismus und Europa-Feindlichkeit, in Georgien strebt ein großer Teil der Bevölkerung in die EU. All das scheint aber für das BSW keine Rolle zu spielen. Stattdessen wird das Narrativ bedient: Der europäische Binnenmarkt ist verantwortlich für soziale Verwerfungen, was im Umkehrschluss bedeutet: soziale Gerechtigkeit wird man nur jenseits der EU erlangen. Da können sich BSW und AfD durchaus die Hände reichen. Denn solche Thesen bedienen letztlich die Vorstellung: Deutschland ginge es besser, wenn die DM wieder eingeführt, die Zuwanderung auf Null gefahren wird, der europäische Binnenmarkt aufgelöst und möglichst wieder Schlagbäume an den Grenzen errichtet werden. Letztlich verbirgt sich das hinter den ach so sachlich erscheinenden Forderungen eines di Masio. Damit geschieht aber genau das: Der Nationalstaat wird über die europäische Einigung gestellen. Was wir aber brauchen, ist ein europäisches Föderalsystem, das – wie in Deutschland zwischen Bund und Ländern – das Zusammenwirken von EU und Mitgliedsstaaten regelt, ohne die Notwendigkeit der Europäischen Union in Frage zu stellen. Deutschland aber sollte in der EU nicht die Rolle übernehmen, die im Bund Bayern gerne für sich in Anspruch nimmt.
Soziale Gerechtigkeit kann man sicher auch innerhalb der EU erreichen, aber dafür müsste man erst einmal wirkliche Demokratie auf EU-Ebene haben – also „one man, one vote“, wie es die EU-Föderalisten um Ulrike Guérot vorschlagen (https://www.europeandemocracylab.org/). Das EU-Parlament müsste wirkliche Rechte haben, und Diskussionen auf europäischer Ebene müssten eine Realität werden. Das alles ist absolut wünschenswert, aber eben noch längst nicht erreicht. Im Gegenteil – momentan sehen wir, wie Ursula von der Leyen mit Rechtsextremen gemeinsame Sache macht (Melonis Neofaschisten, Vox, Schwedendemokraten, Wahre Finnen, usw: https://de.euronews.com/my-europe/2024/05/01/analyse-von-der-leyens-wahlflirt-mit-meloni-konnte-sich-auszahlen-oder-nach-hinten-losgehe). In Großbritanien dagegen, wo man sich mit dem Brexit leider aus der EU verabschiedet hat, funktioniert die Wechsel-Demokratie offenbar ganz gut – die Tories stehen vor einer beispiellosen Wahlniederlage, und soziale Politik hat mit Labour dort jetzt wieder eine Chance. Es bringt also wenig, das BSW im Zusammenhang mit der EU-Politik mit der AfD in Verbindung zu bringen – die AfD gehört verboten, aber die BSW-Vorschläge können uns der Vernunft und Gerechtigkeit näher bringen (übrigens will das BSW auch eine ersthafte Corona-Aufarbeitung, so wie sonst nur die AfD – aber eben vernünftig und gerecht, und nicht voller Hass).
Was ist denn das für eine wirre-irre Argumentation: AfD verbieten, aber BSW folgen, weil BSW das gleiche will wie die AfD: Corona-Aufarbeitung … und EU ist blöd, weil Vieles noch nicht erreicht ist und von der Leyen mit Rechtsnationalisten gemeinsame Sache macht … und Großbritannien ist hat leider den Brexit beschlossen, aber jetzt steht ein politischer Wechsel an …
Nein, die AfD ist eine nationalistische Partei, die nicht als demokratisch angesehen wird – das ist beim BSW ganz anders. BSW vertritt in allem die Werte von Willy Brandt, soweit ich es sehe. Es tut mir leid, wenn Sie das verwirrt, aber ich finde es auch verwirrend, dass die Grünen (deren Mitglied ich dreißig Jahre lang war) jetzt zur pbersten Kriegspartei geworden sind – und dass sie die Lockdown-Politik bis zur letzten Etappe massiv verteidigrt haben (am schlimmsten war Janosch Dahmen, der Gesundheitsexperte der Grünen). Insofern bin ich über die Entwicklungen auch sehr verwirrt, aber die Werte von Willy Brand bleiben bestehen (Frieden und Versöhnung, mehr Demokratie, internationale Solidarität, …)
Zum Thema Georgien empfehle ich übrigens diesen Artikel aus einer linken Perspektive: https://www.jacobin.de/artikel/georgien-proteste-ngo-gesetz-russland-europa. Georgiens Demokratie funktioniert sehr gut, und das Gesetz ist mit deutlicher parlamentarischer Mehrheit verabschiedet worden – dass insbesondere die Menschen in Tbilisi der Regierung kritisch gegenüber stehen, ist nicht verwunderlich, da die städtische Bevölkerung sich in den Ansichten oft von der eher ländlichen unterscheidet. Es bringt nichts, wenn sich EU-Politiker (wie Michael Roth) jetzt der Opposition anschließen – das wird die Regierungsbefürworter eher darin bestärken, die selbstständige georgische Demokratie zu stärken, unabhängig von russischen oder westlichen Einflüssen. Man sieht ja, wie die Ukraine durch den Russland-NATO-Konflikt in furchtbarer Weise aufgerieben wird; das möchten die meisten Georgier verständlicherweise vermeiden.
Ach ja, das hätte ich fast übersehen: die Meinung der Bevölkerung sowohl in der Ukraine wie in Georgien zu berücksichtigen, bedeutet, sich der NATO-Propaganda anzuschließen. Denn Russland will ja nur das Beste für die Ukraine. Leider hindert die NATO sowohl die Ukraine wie Russland daran, dieses Beste zu erreichen. Für wie blöd muss man eigentlich Menschen halten, einem solchen Unsinn zu folgen?
Haben Sie Grund, an der georgischen Demokratie zu zweifeln? Soweit ich weiß, gab es demokratische Wahlen, friedliche legale Proteste, und eine demokratische Parlamentsabstimmung – und das trotz massiver ausländischer Einmischung. Haben Sie andere Informationen? Oder meinen Sie, dass das georgische Parlament nicht legitim ist?
Was ist denn das für eine Argumentation? Weil sich ein Parlament aufgrund von demokratischen Wahlen zusammensetzt, bedeutet noch lange nicht, dass eine Mehrheit in dem Parlament auch die richtigen Entscheidungen trifft. Natürlich bin ich mit vielen Entscheidungen des Bundestages nicht einverstanden, halte sie für falsch und setze mich politisch dafür ein, dass solche Entscheidungen korrigiert werden. Schlimm wird es, wenn dieses demokratische Recht durch Entscheidungen des Parlaments eingeschränkt wird. Genau deswegen gehen derzeit in Georgien Zehntausende Menschen auf die Straße – nicht ferngesteuert von irgendwelchen ausländischen Mächten, sondern um gegen die systematische Einschränkung ihrer Freiheitsrechte zu protestieren.
Zugegeben, ich bin auch nicht der ganz große Fan von Herrn Menasse; ihn als „Extremisten“ zu bezeichnen, scheint mir aber doch des Schlechten zu viel!
Auch kann ich dem Grundgedanken — tendenziell eher weg von den bisher erreichten Einigkeiten innerhalb der EU zurück zu mehr Nationalstaatlichkeit — wenig abgewinnen. Ich bin da sehr viel näher bei Christian Wolff, Europa als Friedensprojekt zu sehen und dagegen das Streben nach mehr Nationalstaatlichkeit als potenzielle Kriegsgefahr. Und wenn Herr Lerchner schreibt: „Spätestens seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages sollte klar sein, dass es den supranationalen Einheitsstaat nicht geben wird. Auffällig ist, dass die Debatten über das Ziel der Integration und insbesondere ihre staatsarchitektonische Absicht weitgehend verstummt sind“, stimme ich dem als aktuelle Bestandsaufnahme zwar im Grundsatz zu, möchte mich aber von der Vision keineswegs verabschieden! Diskussion und Konkretisierung eines supranationalen Europas finde ich jedenfalls wichtiger, als Zahlen über Angriffe auf Wahlkämpfer der AfD mit denen gegen B90/Grüne oder Linke und BSW aufzurechnen, bzw. darüber zu befinden, ob BSW oder AfD schneller zu einem Waffenstillstand in der Ukraine oder im Gazastreifen kommen könnten.
Kernthemen einer europäischen Vision für das 21. Jahrhundert müssen für mich sein:
Klimawandel, Chancengleichheit (inkl. Beschränkung der Vermögens- und Einkommens-Ungleichgewichte) und Migrationspolitik im europäischen Konsens.
……finde ich jedenfalls wichtiger, als Zahlen über Angriffe auf Wahlkämpfer der AfD mit denen gegen B90/Grüne oder Linke und BSW aufzurechnen…
Ich gebe Ihnen in sofern Recht, dass es wichtigere Themen gibt.
Interessant wird es aber, wenn durch die konkreten Zahlen der Bundesregierung klar wird:
1. Die Gewalt ist recht gleichmäßig über das gesamte politische Spektrum verteilt –
mit Schwerpunkt aus dem linken Spektrum: Das über Medien / Parteien / staatlich
alimentierte Organisationen etablierte Narrativ: Gewalt geht überwiegend oder
ausschließlich von Rechts aus, ist unzutreffend.
2. Es gibt kein bedrohliches Ansteigen der körperlichen Gewalt (jeder Fall ist mMn einer
zuviel) – die Zahlen sind von 2019 -2023 im wesentlichen gleich geblieben. Eine
Gesetzesverschärfung ist daraus nicht zwingend abzuleiten.
3.Von 2019 – 2023 ist dien AfD in 4 von 5 Jahren am meisten von gewalttätigen Angriffen
betroffen
4. ARD oder Herr Wolff haben die Zahlen zu körperlicher Gewalt in unzulässiger Weise
mit den „Äußerungsdeliten“ (etwa: „Ricarda Lang ist dick! „) vermischt, um das oben
genannte Narrativ aufrecht zu erhalten ( in der Summe sind die Grünen dann mit
Abstand am stärksten angegriffen)
MfG
Erwin Breuer
Wie Recht Sie doch haben, lieber M. Käfer, mit Ihrem EU-Zuspruch, und vor allem für die uns nachfolgenden Generationen, für die wir allesamt Verantwortung tragen; als Eltern und Großeltern wissen wir, wovon wir reden. Und auch in Dresden schreien massenhaft an allen nur erdenklichen Masten und Laternen-Pfählen „von oben an bis unten auf“ die himmelschreienden AfD-Ideologien auf die Menschen herab, z.B. „Wir zuerst“…Aber gibt es mit der überbürokratisierten EU-nicht erhebliche Probleme? Fokussieren die Rechtsextremen die suchenden Blicke der Wähler (schlimmstenfalls der Nichtwähler) nicht genau auf diese Realitäten?
Da besucht der chinesische Präsident auf seinem Europa-Tripp nach Paris gleich noch Serbien, sein serbischer Kollege A. Vučić spricht von „eiserner Freundschaft“ und meint damit sicher nicht nur die Wirtschaftsmacht Chinas in seinem Land, welche in den maroden Bergbau und in die Stahlindustrie enorm investierte und so ziemlich sicher Serbien wirtschaftlich und finanziell abhängig machte, wie übrigens in afrikanischen Ländern längst passiert. Und die serbische Bevölkerung ist sauer auf die EU, denn seit dem EU-Antrag von 2005 (!) ist bisher allzu viel nicht geschehen. Und Vučić brüllt: „Taiwan gehört China“ – hat da die EU fatal lange untätig zugesehen, wie rechtsnational und EU-fern Serbien über Jahre politisiert wurde? Und dann auch noch Ungarn, mit diesem selbstverliebten Autokraten, Herrn Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der seinen chinesischen Freund demütig wie Vučić medienwirksam huldigt, permanent die EU-Kommission durch den Politpoker jagt und alle nur erdenklichen Tricks praktiziert, um letztlich seinen Finanzhaushalt zu stabilisieren…Warum seitens der Kommission keine klare, eindeutige Haltung mit einem HALT, Herr Orbán ? Das und vieles andere dürften heftige Probleme sein, längst erkannt, aber bisher kaum wirkungsvoll begegnet. Der mit dem Buchpreis 2017 ausgezeichnete Roman von Robert Menasse „Die Hauptstadt“ seziert die EU-Bürokratie, den kaum fassbaren Moloch, die Unbeweglichkeit, das erstarrte System da in Brüssel und Straßburg nicht nur kriminalistisch, sondern eben treffend und fast erschreckend wahrhaftig, der gemeine Bürger fragt sich: Was soll da nur zukünftig realistisch geschehen können???
Sara Wiener verlässt das EU-Parlament – ja Leute, was eigentlich geht hier vor, und sie ist nicht die Erste und sicher nicht die Letzte, die aufgibt…Auch hier die Frage: Wohin soll dies führen?
Mit „Wir zuerst“ wird es problematisch, und nicht nur ich bin sehr gespannt, was der CSU-Kollege M. Weber, in seiner Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) alles auf den Plan zu bringen in der Lage ist, um die EU zu retten.
Ach ja, ich wähle die GRÜNEN! Und Dir, lieber Christian DANK für Deinen Beitrag!!
Tschüß – Jo.Flade
PS/Auch Ihnen, Herr Schwerdtfeger, ein Kompliment; welch Seltenheit, dieser Zuspruch zu Wolff – der Landpfleger verwundert sich gar sehre!
Herzlichen Glückwunsch, Herr Wolff, zu diesem Beitrag, der unsere Übereinstimmung bezüglich des Ziels der Vereinigten Staaten von Europa zeigt. Man muss dabei natürlich klar sehen, dass dies das Folgende bedeutet:
– ein-Zwei-Kammer-Parlament (Legislative) mit Kontrollbefugnissen über die Regieung. Das heißt, dass der Rat verändert werden muss in eine Kammer der Mitgliedsländer, die nicht alleine entscheidend und dominant ist (wie derzeit);
– eine wahre Regierung (Exekutive) anstelle der jetzigen Kommission, die ähnlich der amerikanischen Verfassung in bestimmten Exekutivgebieten (Außen-, Sicherheit, etc) die alleinige Kompetenz hat, während andere Kompetenzen bei den Mitgliedsländern verbleiben;
– den EuGH mit verbindlichen Festlegungen für alle Mitgliedstaaten (bereits vorhanden);
– EINEN Staatspräsidenten an Stelle des jetzigen Ratspräsidenten, der möglicherweise rotierend gewählt werden könnte.
Es ist klar, dass eine solche Konstruktion weiteres Abtreten von Souveränität an die Zentrale bedeuten würde, denn mindestens einige Kommissare würden dann Minister einer voll verantwortlichen Regierung sein (müssen).
Plätzsch stellt nämlich die Tatsachen, die zur Wahl Leyens anstelle von Weber geführt haben, ein wenig unvollständig dar. Richtig ist, dass nach den jetzigen Regeln der Kommissionspräsident vom Rat ernannt wird, allerdings der Bestätigung des Parlamentes bedarf (wie die gesamte Kommission). Weber hat sich selbst zuzuschreiben, dass er trotz der Wahl das Amt beim letzten Mal nicht bekam: Er hat den französischen Präsidenten dadurch verärgert, dass er den Sitz des Parlaments in Straßburg infrage stellte. Inhaltlich ist das ein vertretbarer Standpunkt, denn warum schon braucht das Parlament zwei Standorte. Wahltaktisch aber – bei den geschilderten Regeln – war es politischer Selbstmord, den französischen Präsidenten so herauszufordern.
Andreas Schwerdtfeger
Mir ist die Europa-Wahl am 9.6. sehr wichtig. Für unsere Kinder und Enkel*innnen ist sie wohl noch viel wichtiger! Die unsägliche AfD und deren europäischen Verbündete könnten da (leider) einen viel größeren Erfolg einfahren, als es inhaltlich/thematisch zu erwarten wäre.
Ein „Reis-Erlebnis“, das ein Mit-Blogger vermutlich als lächerlich empfindet:
mit Freund*innen saß ich heute in einem französischen Bistro in Leipzig und habe, bei Rosé, Käse und Oliven, stets auf zwei Wahlplakate für die kommende Europawahl blicken müssen: „Frieden, Mir, Peace AfD“ und „Demokratie wählen, jetzt AfD“.
Trotz des vorzüglichen Produktangebots in diesem Bistro, des Wetters und unserer Stimmung, wurde mir speiübel. Ich halte solche unverschämten Lügen der AfD für Straftatbestände!
Die CDU warb auf ihrem kürzlich abgehaltenen Parteitag mit Ursula von der Leyen für ihre Wiederwahl zur EU-Kommissionspräsidentin. Dabei haben die europäischen Wähler gar keinen Einfluss auf die Wahl der Kommissionspräsidentin, weil diese nicht vom EU-Parlament gewählt wird, sondern von den Regierungschefs. Bei einem Kongress der EVP wurde Manfred Weber am 8. November 2018 mit 79,2 Prozent der Stimmen offiziell zum EVP-Spitzenkandidaten gewählt. Die Mehrheitsverhältnisse nach der EU-Wahl 2019 hätten eine Wahl Webers zum Kommissionspräsidenten gestattet. Doch Frau Dr. Merkel und M. Macron entschieden sich für Frau von der Leyen.
Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die europäischen Regierungen eifersüchtig darüber wachen, keine Kompetenzen abzugeben,
Dass Manfred Weber nicht EU-Präsident wurde hat sich im Nachhinein als zumindest europa-dienlich erwiesen. Zudem steht er weiterhin mit an der EU-Spitze der „freiwillig angegebenen Nebeneinkünfte“, die es für demokratiebewusste Politiker aus gutem Grund eigentlich gar nicht geben dürfte
.
https://de.euronews.com/my-europe/2024/05/06/enthullt-millioneneinnahmen-der-eu-abgeordneten-durch-nebenjobs
Wie erfahren, bestätigt seine aussagekräftige bisherige Europaparteipolitik letztlich nur, dass derartige EVP-Abgeordnete mit Sinn und Handeln den Mehrheiten ziemlich eindeutig widersprechen..