Den meisten Menschen in Deutschland ist kaum noch bewusst, dass mit dem Pfingstfest auch der Geburtstag der Kirche gefeiert wird. Vor ca. 2000 Jahren ermöglichte der Heilige Geist den Anhängern Jesu, sich in der multikulturellen und multireligiösen Metropole Jerusalem so an die Menschen zu wenden, dass sie von denen, die in den unterschiedlichsten Regionen und Kulturkreisen beheimat waren, verstanden werden konnten. Das lag weniger daran, dass die Anhänger Jesu die verschiedenen Sprachen beherrschten. Vielmehr konnten sie aufgrund ihrer Botschaft die Menschen erreichen und sie überzeugen. Diese Botschaft beinhaltete:
- Gott ist der Schöpfer alles Lebens – mit der Konsequenz, dass diese Überzeugung jedem Menschenleben Recht und Würde verleiht.
- Jesus Christus hat den Menschen einen Weg gewiesen, wie sie, ohne aufeinander loszuschlagen, miteinander in Liebe und trotz gegensätzlicher Interessen auskommen können: am Wohnort, im eigenen Land, auf dieser Welt.
- Am Ende der Geschichte steht nicht Tod, Verderben, Krieg. Am Ende eröffnet sich ein neuer Anfang: Gottes neue Welt. Diese Aussicht befreit von der Panik, alles im Hier und Jetzt erreichen zu müssen, und kann jetzt schon den Alltag bestimmen.
Es war ein Glücksfall für die Welt, dass an Pfingsten viele Menschen von dieser Botschaft ergriffen wurden. Natürlich kann man sich fragen, ob es nötig war, dass sich um die Botschaft im Verlauf der Jahrhunderte nicht nur eine Institution wie die Kirche gebildet hat. Sehr kritisch müssen wir sehen, dass die Botschaft immer wieder von Macht- und Herrschaftsansprüchen überlagert und damit verfälscht wurde. Dass führte innerkirchlich zu blutigen Auseinandersetzungen, setzte aber auch imperiales Machtgehabe frei. Das bekommen Christen in aller Welt völlig zu Recht vorgehalten. Allerdings sollte niemand das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn die dunklen Seiten kirchlichen Wirkens in der Welt sollten uns nicht davon abhalten, uns immer wieder vom Geist der Botschaft Jesu ergreifen zu lassen. Auf diesen Geist sind wir Menschen angewiesen, wollen wir einigermaßen bestehen.
Wir feiern das Pfingstfest in einer Zeit, in der zumindest in Deutschland vieles darauf hindeutet, dass die großen christlichen Kirchen sich im rasanten Niedergang befinden. Das liegt nicht nur an den horrenden Unzulänglichkeiten der Institutionen. Es ist auch Ausdruck davon, dass immer mehr Menschen eine Bindung an und durch den Glauben für überflüssig erachten. Ob diese Haltung allerdings zu einem menschlicheren Miteinander führt, darf bezweifelt werden. Die aggressive Missgelauntheit, der offen nach außen getragene Verdruss, die egomanische Anspruchshaltung, Alles im Jetzt erreichen zu wollen, zeugen davon, dass der verbindende Geist von Pfingsten Mangelware geworden ist – oder positiv ausgedrückt: Es lohnt sich durchaus, an Pfingsten die Bitte auszurufen „Veni, creator spiritus – Komm, Heiliger Geist“.
In diesem Jahr ist es mehr als ein sehr schöner „Zufall“, dass das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai in der Woche nach dem Pfingstfest gefeiert werden kann. Das legt die Erinnerung frei, dass die Verabschiedung des Grundgesetzes durchaus als ein Geschenk des Heiligen Geistes angesehen werden kann. Dieser kümmert sich Gott sei Dank nicht um Kirchen- oder Konfessionszugehörigkeit. Der Geist wirkt unter den Menschen, wo und wie er will. Allein die Tatsache, dass sich 1949 bis auf 12 Gegenstimmen die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf die Präambel einigen konnten, zeugt davon, dass Verständigung über politische und weltanschauliche Grenzen hinweg immer dann möglich ist, wenn wir das uns Menschen Verbindende in den Mittelpunkt stellen und uns dabei der Brücken bedienen, die außerhalb des jeweiligen Überzeugungs- und Glaubenshorizontes liegen. Nur so wird man erklären können, dass die Präambel des Grundgesetzes mit dem erstaunlichen Satz beginnt:
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes wird die wichtigste biblische Botschaft aufgegriffen und zur Verfassungsmaxime erhoben:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Wenn wir die aktuellen Ausweglosigkeiten im Angriffskrieg des Putin-Russlands gegen die Ukraine, im kriegerischen Israel/Palästina und das damit verbundene gigantische, weltweite Aufrüstungsprogramm betrachten, dann wird überdeutlich: Wir werden nur dann neue Zugänge zum friedlichen Zusammenleben finden, wenn wir uns ergreifen lassen von dem Geist, der uns Menschen abseits aller willkürlich gezogenen Grenzen und Machtansprüche zusammenführt und wenn wir in dem, was jetzt an Unterschiedlichkeit blutig und zerstörerisch ausgetragen wird, eine völlige Verfehlung menschlichen Lebens erkennen: Mit Zukunft hat das nichts zu tun. Das jedenfalls ist die Botschaft, die von dem biblischen Leitwort für das Pfingstfest ausgeht: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Die Bibel: Sacharja 4,6b)
7 Antworten
Pfingsten – ein Festtag nicht nur wegen der Gründung der christlichen Kirchen, sondern auch wegen des Verständnisses der Menschen füreinander aus den verschiedensten Kulturen, Sprachen, Religionen, Regionen und Erfahrungen…
Das scheint mir auch Voraussetzung bzw. notwendige Grundlage für gegenseitige Wertschätzung, Respekt, Gleichberechtigung…
Da ist dann kein Platz mehr für „war doch nicht so gemeint“, „wer hätte denn wissen können“, „alle Anderen können nicht, wissen nicht, wollen nicht, verstehen nicht“…
Aber ganz unmissverständlich: Plakate wie „Demokratie wählen – AfD“, „Frieden, Mir, Peace – AfD“, Sätze wie „die einzige Opposition, die sich gegen Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie einsetzt, ist die AfD“, oder der Kommentar von Herrn Krah auf X (Twitter) zu seinem Rückzug aus dem Europa-Wahlkampf „man kann nie tiefer fallen als in Gottes Hand“ sind eine Ohrfeige, wenn nicht gar eine Unverschämtheit im Zusammenhang mit dem Geiste des Pfingstfestes!
Ich jedenfalls kann mich für die hier dargelegten Gedanken zum Pfingstfest begeistern; danke, Christian!
Wenn Kirche den steten Niedergang der Mitgliederzahlen bremsen/umkehren will, dann in diesem Verständnis von Pfingsten.
Die Menschenwürde ist aber kein biblischer Begriff, oder? Soweit ich weiß, kommt er aus der Aufklärung, und geht höchstens auf die griechisch-römische Antike zurück. Erst die Moderne hat den einzelnen Menschen als Subjekt gegenüber der Regierung betont, während die Bibel vor allem das Gewissen und das Seelenheil der/des Einzelnen im Blick hat. Deshalb finde ich es anachronistisch, die christliche Botschaft mit Demokratie zu verbinden. Zwei meiner Urgroßväter waren Pfarrer, und sie waren stramm kaisertreu – die Idee, dass ihre Predigt auf Demokratie ausgerichtet sein sollte, hätte sie sehr befremdet. Sicher haben sie auch 1914 noch Frieden gepredigt („Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft“), aber gleichzeitig selbstverständlich den Krieg unterstützt (beide haben ihren ältesten Sohn an der Front verloren). Das finden wir ja heute wieder – die Kirchen (jedenfalls die evangelische) stehen fest an der Seite der Ukraine und ihres blutigen Freiheitskampfes. Insofern hat sich wohl doch nicht so viel verändert, auch wen wir statt des Kaisers heute die „Demokratie“ verehren (und an den Kirchenmauern plakatieren, vergleichbar mit dem Kaiserbild in den Glasfenstern).
„Menschenwürde“ ist zwar kein biblischer Begriff – aber der Inhalt ergibt sich aus dem „roten Faden“, der sich durch die Bibel zieht. Ich verweise nur auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und auf die Aussage aus Psalm 8, wonach der Mensch „wenig niedriger gemacht (ist) als Gott“ und „mit Ehre und Herrlichkeit … gekrönt“ ist. Was die Demokratie angeht, so ist von dieser in der Bibel natürlich auch nicht die Rede. Aber ein Blick in 1. Samuel 8 und Markus 10 zeigt, dass die Demokratie die dem biblischen Glauben gemäße Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist. Dass die Institution Kirche und ihre Funktionäre um diese Einsichten aus machtpolitischem Kalkül über Jahrhunderte einen großen Bogen gemacht haben mit den bekannten verheerenden Folgen, ist eine himmelschreiende Fehlentwicklung. Daraus aber zu schließen, es sei gleichgültig, ob die Kirche sich für die Demokratie oder Autokratie/Diktatur einsetzt, zeigt nur, dass Sie offensichtlich weiter in den Denkmustern Ihrer Urgroßväter gefangen sind.
Eine „himmelschreiende Fehlentwicklung“ ist die fehlende Demokratie in der Kirche sicher nicht, denn vor dem 19. Jahrhundert ist niemand auf die Idee der Volksherrschaft gekommen – auch wenn man biblische Vorläufer dafür finden kann („ihr seid alle Brüder“, Matthäus 23,8 – das hat meine Mutter immer als Begründung gegen Hierarchien und Autokratien genannt). Die Demokratie ist eine gute Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, die ihre Wurzeln in der Aufklärung (und zum Teil in der Antike) hat. Aber alle Nichtdemokraten zu schlechten Christen zu erklären, geht schon deshalb nicht, weil auch Luther und Bonhoeffer keine Demokraten waren (Niemöller hat es in den 1950er Jahren mühsam gelernt).
Lieber Christian, du lässt mich beim Lesen spüren, welche Überzeugungskraft Du als lebenserfahrener und -geprüfter Mensch und Geistlicher bekommen hast, jenseits aller Deiner Rollen und Pflichten . Du gebärdest Dich in Deinem Blog nicht als besserwissender altkluger Theologe, der uns Andere zum Schweigen und Abnicken Deiner klugen und wohlbedachten Ausführungen bringen möchte, Du zwingst mich, weil Du mich, wohlbegründet anrührst ,bei mir selber genauer hinzusehen und nachzuspüren, wo und wie ich mir was vormache , z. B. mit Selbstbestätigungen … .Nichts, was Du schreibst und zu bedenken gibst bietet direkt Erlösung , es verweist mich, da es mich berührt und ich klar herauslesen kann , dass Du nicht verführen willst , eher auf meine eigene Verantwortung , auf die Überprüfung meiner möglicherweise zur Selbstverständlichkeit verkommenen Argumentationsketten hinweist . Wir Alten , wenn wir unsere eigene mitmenschliche Berührbarkeit als Kostbarkeit bewahrt haben,stecken nicht mehr so in vordergründigen Rolllen- und scheinbaren Existenz -zwängen und vielleicht kann das ja helfen, nicht Argumente als Waffen benutzen zu müssen, um wirken zu können. Die Bibel wirkt ja nicht von selbst. Ich verstehe sie als Mahnung, Aufforderung und Erinnerung an meine ganz persönliche Verantwortung und Besinnung vor Gott. Pfingsten kann wohl nicht kollektiv erleuchten , aber vielleicht mich etwas konkreter und bewusster zu meiner ganzen Wirklichkeit in diesem Erdenleben , als Mensch unter Menschen vor Gott führen. Es gibt keine Motivation ohne persönliche Anrührung. Danke nochmal, dass Du mich immer wieder anrührst, ohne mir zu schmeicheln!
Ich möchte gern F. Schorlemmer in seiner Dankesrede zum Friedenspreis 1993 zitieren „Den Frieden riskieren“ : „…wie wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirksamen Weg zum Frieden den Frieden verlieren.“
Verbrechen am Menschenbruder „…das ist unser wiederkehrendes Schicksal, von dem wir uns befreien können, wenn wir rechtzeitig aufsehen, im Gesicht des anderen uns selbst entdecken, auch in der Fratze des anderen, die aus Angst Angst macht, aus Wut Gewalt werden lässt, aus Verletzung verletzt, aus Ungerechtigkeitsgefühl ungerecht wird, sich Gerechtigkeit „holt“. Wo wir im anderen uns selbst – mit all unseren Schatten – wiederentdecken, können wir es lernen , Differenz zu ertragen, einander leben zu lassen!“
Schorlemmer schließt seine Rede: „Könnten wir doch hören, heißt es im Psalm 85, dass Gott Frieden zusagt, damit wir nicht in Torheit geraten, dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen, und unser Land seine Frucht gebe.
– und unserer Erde Nahrung gebe, allen, allen. Könnten wir doch hören! Wir können.
Danke für diesen nachdenklichen und ermutigenden Text zum Pfingstfest- und auch die Assoziation zum 23.Mai- man könnte wirklich meinen, dass diese Präambel und Artikel 1GG das Wehen des Heiligen Geistes symbolisiert…
Lasst uns in diesem Sinne ein nachdenkliches und doch hoffnungsvolles Pfingstfest miteinander feiern