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Das Fanal der NRW-Wahl: 44,5 % Nichtwähler*innen

Eigentlich müssten alle Parteien unabhängig von ihrem jeweiligen Wahlergebnis seit Sonntagabend in Schockstarre verharren: Nur noch 55,5 % der Wahlberechtigten beteiligten sich an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW). Das sind 10 % weniger Wähler*innen als bei der Landtagswahl 2017 und über 20 % weniger als bei der Bundestagswahl 2021. In Großstädten wie Duisburg und Wuppertal ist noch nicht einmal jede*r Zweite*r zu Wahl gegangen. Demgegenüber ist die durch die Wahl verursachte neue parteipolitische Gewichtung in NRW und deren Folgen fast zweitrangig. Denn die niedrige Wahlbeteiligung nimmt sich noch dramatischer aus, wenn man bedenkt: Parteien wie die AfD und DIE LINKE, die sog. Protestwähler*innen binden könnten, haben bei den diesjährigen Landtagswahlen erheblich an Stimmen verloren und konnten nicht in die Landtage einziehen. Die niedrige Wahlbeteiligung hat in NRW auch dazu geführt, dass nur Bündnis 90/Die Grünen an absoluten Wähler*innenstimmen hinzugewinnen konnten. Auch die CDU als stärkste Partei hat trotz prozentualem Zuwachs von 2,5 %  absolut ca. 250.000 Stimmen verloren. Wir müssen festhalten: 45 % der Wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger haben sich – aus welchen Gründen auch immer – im bevölkerungsreichsten Bundesland der Stimmabgabe verweigert. Deutlich ist: In Stadtteilen, in denen viele Menschen in sozial prekären Verhältnissen leben, war die Wahlbeteiligung besonders gering.

Allerdings dürfen wir unabhängig von allen Gründen, die für die geringe Wahlbeteiligung angeführt werden, eines nicht aus den Augen verlieren: Für das Nichtwählen sind vor allem und in erster Linie die Menschen verantwortlich, die nicht zur Wahl gehen. Es ist ihre freie Entscheidung. Mündigkeit ist keine Frage des sozialen Status. Dennoch müssen wir uns mit dem Problem auseinandersetzen, dass sich gerade diejenigen nicht (mehr) an demokratischen Prozessen beteiligen, die auf Verbesserung ihrer sozialen Lage und damit auf Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse in besonderer Weise angewiesen sind. Ebenso sollten wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Denn so erfreulich der Niedergang der rechtsnationalistischen AfD ist – die Nichtwähler*innen bieten ein riesiges Potential für die ständig lauernde Gefahr eines nationalistischen Autokratismus.

Was also kann zu der niedrigen Wahlbeteiligung beigetragen haben? Noch liegen genauere Untersuchungen nicht vor. Dennoch können Gründe ausgemacht werden. Ich nenne vier:

  • Die Lähmung des gesellschaftlichen Lebens und der Eigeninitiative durch vielfältigen Einschränkungen während der Corona-Pandemie. Sie haben langfristige Auswirkungen auf die Lebenseinstellung vieler Menschen. Hinzu kommt: In der Pandemiezeit waren die Lasten sehr ungleich verteilt. Von den Auswirkungen der Corona-Pandemie waren/sind in besonderer Weise die Menschen betroffen, die in prekären Verhältnissen leben: enger Wohnraum, Verlust des Kontaktes zu den Bildungseinrichtungen, Digitalisierung ging an ihnen vorbei.
  • Die Anzahl der Menschen, die sich völlig aus dem öffentlichen politischen Diskurs ausgeklinkt haben, wird immer größer. Sie sind nur noch schwer erreichbar. Das gilt auch für die sog. neuen Medien. Sie führen ja nicht zur Vernetzung unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft, sondern eher zur Blasenbildung. Es gibt immer weniger Kommunikation zwischen den unterschiedlichen ideologischen Welten außerhalb des traditionellen Parteienspektrums.
  • Der Ukrainekrieg hat dazu geführt, dass die politische Debatte fast ausschließlich um sog. Waffenlieferung ging. Milliarden Euro werden ohne große Debatte für Rüstung aufgewandt. Hinzu kommt die Botschaft, dass die Ukraine deswegen so viel Unterstützung benötigt, weil sie gegen Putin-Russland die Demokratie und die offene Gesellschaft verteidigt. Doch das bleibt für viele Menschen sehr abstrakt – während die galoppierende Inflation, die steigenden Preise, die Auswirkungen der Energiekrise sehr konkret geworden sind. Mit der ernüchternen Feststellung, dass mein Geld nicht reicht, werden viele Menschen allein gelassen.
  • In der wachsenden Anzahl der Bürger*innen, die nicht (mehr) zur Wahl gehen, spiegelt sich am deutlichsten die abnehmende Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen wider, die in der Breite den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Diskurs geprägt und gefördert haben: Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Vereine, Parteien. Bis jetzt ist weder institutionell noch ideologisch für das Vakuum ein Ersatz sichtbar – jedenfalls keiner, der Menschen zur Beteiligung am gesellschaftlichen Leben animiert.

Wohlgemerkt: Diese vier Punkte beziehen sich auf diejenigen, die nicht zur Wahl gegangen sind, und nicht auf die, ihre Stimme abgegeben haben. Es hilft uns wenig, auf die Problemlage der Nichtwähler*innen mit dem Hinweis auf  die Wähler*innen zu antworten, bei denen vieles anders aussieht. Wir werden und in der kommenden Zeit parteiübergreifend und verstärkt mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wie wir den gesellschaftspolitischen Diskurs unter und mit denen führen und initiieren können, die sich nicht (mehr) an der Demokratie beteiligen wollen. Denn es nutzt uns wenig, wenn die Ukraine die Demokratie verteidigt, die wir im eigenen Land ausfransen lassen.

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