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Ansprache beim Friedensgebet „Nach Chemnitz und Köthen: Zeit für Klarheit“

Wenige Tage nach den rechtsextremistischen „Trauermärschen“ in Chemnitz und Köthen gestaltete die Stiftung Friedliche Revolution am 17. September 2018 das wöchentliche Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Sie baten mich, die Ansprache zu halten. Bei der Vorbereitung stieß ich auf meine Ansprache beim Friedensgebet am 1. Mai 1998 in der Thomaskirche. Dieses fand im Vorfeld eines Aufmarsches des Hamburger Neonazi Christian Worch statt. Diese Ansprache hätte ich auch heute vorlesen können – zumal ich ihr auch einen Vers aus dem Galaterbrief zugrundgelegt hatte (Galater 6,7). Denn die Probleme mit dem Rechtsextremismus in Sachsen waren schon vor 20 Jahren offenkundig – ohne Geflüchtete. Hier kann die Ansprache nachgelesen werden:
Ansprache beim Friedensgebet in der Thomaskirche am 1. Mai 1998

Auf einem großen Pappkarton, von zwei jungen Leuten bei einer der Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus in Chemnitz getragen, war zu lesen: „Wir haben keine Flüchtlingskrise, wir haben eine Humanitätskrise.“ Ja, wir haben eine Krise der Moral. Das ist kein Wunder. Zum einen zeitigt der dramatische Bedeutungsverlust der Kirchen auch gesellschaftspolitische Folgen. Biblische Grundwerte erodieren: die Überzeugung, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, mit Recht und Würde gesegnet; Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Gewaltlosigkeit, Ehrfurcht vor Leben. Zum andern wird seit Jahren versucht, das Beharren auf Grundwerten als überflüssig, als im politischen Alltag hinderlich zu deklarieren und sie der politischen Opportunität preiszugeben.

Für diese Ent-Moralisierung des öffentlichen Diskurses steht das schreckliche Wort vom „Gutmenschen“. Auch in den Kirchen sind die falschen Propheten unterwegs. Sie wollen uns einreden, Kirche verfehle ihren Auftrag, wenn sie sich in der Migrationsfrage eindeutig positioniert oder Kirchenasyl gewährt. Kein Wunder also, dass bei allen Pegida/AfD-Kundgebungen seit Jahren die Maxime befolgt wird, die Tatjana Festerling 2015 ausgerufen hat: „Ich scheiß‘ auf Anstand.“ Entsprechend treten die Redner/Innen seit 2014 bei Pegida/AfD auf. Entsprechend hören sich die sattsam bekannten Schlachtrufe an. Entsprechend wird im Netz gehetzt und gepöbelt.

Was aber wird den Menschen stattdessen angeboten? Es sind zum einen die Begriffe, die dann Hochkonjunktur erfahren, wenn das Selbstbewusstsein vieler Menschen angeknackst ist und der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit nicht entsprochen werden kann: Volk, Heimat, Nation, Rasse, Identität, deutsche Leitkultur. Im Ergebnis läuft das auf Abschottung („Festung Europa“ oder „America first“)und einen angstbesessenen und neiderfüllten asozialen Egoismus hinaus, der keinen Raum lässt für Vielfalt und Andersartigkeit. Dem dient – und das ist das Zweite – die Strategie: Problemlösung durch Problemvernichtung. Wenn keine Geflüchtete zu uns kämen, hätten wir keine Probleme. Also müssen die Menschen, die uns stören, beseitigt werden. Das ist – biblisch gesprochen – die Kain-Strategie: Kain ermordete seinen Bruder Abel, den Grundanständigen, den „Gutmenschen“ – wurde dann aber durch Gottes Gnade nicht nur vor Lynchjustiz bewahrt, sondern von seiner fatalen Vernichtungsphantasie befreit. Diese Befreiung soll uns ermutigen, einen anderen Weg zu gehen, als unseren Vernichtungsphantasien zu folgen. Jesus hat ihn aufgezeigt. Der Apostel Paulus hat ihn verdeutlicht. In seinem Brief an christliche Gemeinden in Galatien (hier handelt es sich um die Gegend des heutigen Ankara, der Hauptstadt der Türkei) notiert er erstaunliche Gedanken:

25 Wenn wir nun durch Gottes Geist ein neues Leben haben, dann wollen wir auch aus diesem Geist unser Leben führen. 26 Wir wollen nicht mit unseren vermeintlichen Vorzügen voreinander groß tun, uns damit gegenseitig herausfordern oder einander beneiden. 1 Brüder und Schwestern, auch wenn jemand unter euch in Sünde fällt, müsst ihr zeigen, dass der Geist Gottes euch leitet. Bringt einen solchen Menschen mit Nachsicht wieder auf den rechten Weg. Passt aber auf, dass ihr dabei nicht selbst zu Fall kommt! 2 Einer trage des Andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. 3 Wer sich dagegen einbildet, besser zu sein als andere, und es doch gar nicht ist, betrügt sich selbst. 7 Macht euch nichts vor! Gott lässt keinen Spott mit sich treiben. Was der Mensch sät, wird er ernten. (Galater 5,25-26;6,1-3.7 – Gute Nachricht Bibel)

Paulus skizziert hier, worauf es im Leben eines Christenmenschen ankommt, welche Verhaltensweisen sich aus dem Geist Gottes ergeben. Er entwickelt damit eine Ethik des Geistes. Diese besteht aber nicht aus einem Katalog neuer Gebote oder Gesetze. Die Ethik des Geistes entsteht in der lebendigen Begegnung zwischen Gott und den Menschen, die nach Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens von sehr unterschiedlichen Menschen suchen. Vier Elemente machen die Ethik aus: Freiheit, Versöhnung, Solidarität, Glaubwürdigkeit. Diese Elemente dürfen weder sozial noch national verengt werden. Schließlich verdanken wir sie einem Menschen, der in der jüdischen Glaubenstradition groß geworden ist, aus Israel stammte, in Europa unterwegs war und die Gaben des Heiligen Geistes – Freiheit, Versöhnung, Solidarität und Glaubwürdigkeit – Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen vermitteln wollte. Für Paulus werden durch den Glauben alle Unterschiede eingeebnet: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28)

Darum legt Paulus großen Wert auf ein gleichberechtigtes Miteinander aller, möglichst ohne Konkurrenzkampf und Neid. Das gilt auch im Blick auf, die wir gerne aus der Gesellschaft aussondern: „Brüder und Schwestern, auch wenn jemand unter euch in Sünde fällt, müsst ihr zeigen, dass der Geist Gottes euch leitet. Bringt einen solchen Menschen mit Nachsicht wieder auf den rechten Weg.“ Viele unter uns machen sich Gedanken darüber, wie wir mit der sog. Spaltung unserer Gesellschaft umgehen. Wie wir dem begegnen sollen, dass sich plötzlich Verwandte, Nachbarn, Freunde als Pegida-nah outen. Sollen wir sie rechts liegen lassen? Sollen wir uns gegenseitig verfeinden? Vielleicht erinnern sich noch einige an die Diskussion zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein am 8. März in Dresden. An dieser beteiligte sich der Chefideologen des Rechtsextremismus, Götz Kubitschek. Er behauptete, dass der „Riss, der durch die Gesellschaft geht, unbedingt sein muss.“ Und dann rief er aus: „Ich bin strikt dafür, dass der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deutlicher, noch konkreter wird.“ Von heute her gesehen hört sich das an wie die Fanfare zu dem, was wir in Kandel, Chemnitz, Köthen erlebt und erlitten haben. Es bedurfte nur noch eines Anlasses, damit die Dämme brechen und gesellschaftliche Vielfalt offen bekämpft wird. Der Rechtsradikalismus lebt von der Spaltung und Ausgrenzung. Er lebt von Feindbildern und davon, die ausgemachten Feinde zu vernichten. Darum die dauernden Drohgebärden, die – wie wir aus der Geschichte des Rechtsextremismus wissen – in Taten umgesetzt werden.

Paulus verfolgt einen völlig anderen Ansatz: Menschen sind unterschiedlich, aber sie sollten diese Unterschiede nicht zum Anlass nehmen, sich gegenseitig zu verteufeln. Vielmehr ist es Aufgabe von uns Menschen zusammenzukommen – und vor allem zusammenzubleiben, auch dann, wenn einer durch sein Handeln gemeinschaftliches Leben zu zerstören versucht. Das geschieht durch jede Straftat, insbesondere durch Mord. Wir sollen aber nicht in die Kain-Strategie zurückfallen: Problemlösung durch Problemvernichtung. Nichts wird dadurch besser, dass Täter exekutiert werden. Allein durch Versöhnung kann Heilung eines Schadens entstehen. Versöhnung aber beinhaltet beides: Strafe und das Angebot, weiter in der Gemeinschaft zu leben. Das macht den Rechtsstaat aus. Oder auf den Diskurs bezogen: Klarheit in der Position und Bereitschaft zum Gespräch.

Um diesen Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, schärft Paulus den Christen ein: „Passt … auf, dass ihr dabei nicht selbst zu Fall kommt!“ Paulus weiß: Ein versöhnender Umgang mit denen, die „unter die Sünde“ gefallen sind, ist weder selbstverständlich noch einfach. Zum einen gilt es, jedem Straftäter seine Menschenwürde zu belassen, also auch im größten Sünder einen Menschen zu sehen und sich nicht zur Lynchjustiz hinreißen zu lassen. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006) hat bei der Trauerfeier für die Opfer des Massakers in Erfurt 2002 ausgerufen: „Was immer ein Mensch getan hat: Er bleibt ein Mensch.“ Das soll uns vor jeder Form von Selbstgerechtigkeit bewahren und uns daran erinnern, dass wir selbst an den eigenen Maßstäben scheitern können. Zum andern dürfen wir nicht vor lauter Verständnis für den Sünder selbst zu Fall kommen, indem wir seine Handlungsweise übernehmen. Es ist das eine, Sorgen und Ängste von Menschen ernst zu nehmen. Es ist das eine, wütend über eine Straftat zu sein. Das andere ist, sich klar von Menschenfeindlichkeit, von Hass, von Rassismus abzugrenzen und sich nicht vom Virus des rechtsextremistischer Verhaltensmuster anstecken zu lassen und die Pogromstimmung „besorgter Bürger“ auch noch zu rechtfertigen.

Zugegeben: das fordert uns viel ab. Darum schreibt Paulus: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Das alltägliche Zusammenleben kann nur gelingen, wenn wir uns gegenseitig zum Lastträger werden. Übrigens: auch das viel beschworene „Zuhören“ ist eine Form des „Lasttragens“. Diese Solidarität, von Paulus als „Gesetz Christi“ bezeichnet, soll das Aushängeschild der christlichen Gemeinden sein und auf die Gesellschaft ausstrahlen. Das ist unser Beitrag, um der humanitären Krise zu begegnen. Der Geist der Solidarität verbietet die Ausgrenzung derer, die Probleme machen, die schwächer sind, die sich verfehlt haben. Das aber bedeutet nicht, dass damit die Last des anderen mit einem Heiligenschein versehen wird. Wenn ich zuhöre, dann muss ich nicht richtig finden, was der andere sagt – und kann ihm das auch sagen. Und: Auch der, dem ich zuhöre, möge mir zuhören – mir mit Respekt begegnen.

Denn für alles, was wir tun und lassen, gilt, was Paulus abschließend betont: „Was der Mensch sät, wird er ernten.“ Nichts ist zufällig. Alles hat Folgen. Die gesellschaftspolitische Großwetterlage in Sachsen ist keine Naturkatstrophe, die über uns hereingebrochen ist. Wer eine Gesellschaft sät, in der Reichtum und Armut gleichermaßen wachsen, der darf sich nicht wundern, dass er eine Gesellschaft erntet, in der sich ein erheblicher Teil der Menschen nicht mehr verstanden und anerkannt fühlt – und die mit uns und dem, was uns wertvoll und heilig ist, auch nichts mehr zu tun haben wollen. Wer über Jahrzehnte politische Bildung vernachlässigt und die Demokratie verkümmern lässt, der erntet Verachtung – auch Verachtung der Grundwerte der Verfassung. In Chemnitz und Köthen ist eine Saat aufgegangen, die vor Jahrzehnten angelegt wurde.

Nun erliegen wir Menschen immer wieder dem großen Missverständnis, dass Gott schon richten wird, was wir anrichten – oder säkular gesprochen: Es wird schon irgendwie gutgehen. Nein, sagt Paulus: „Macht euch nichts vor! Gott lässt keinen Spott mit sich treiben.“ Es ist nicht gleichgültig, wie wir leben, wie wir reden, welche Haltung wir zeigen. Ich fand sehr gut, was der katholische Bischof von Görlitz, Wolfgang Ipolt, gesagt hat (und wünschte mir diese Klarheit von unserer Landeskirche und ihrem Bischof): „Sonntag Gottesdienst feiern und am nächsten Abend bei einer Pegida-Demonstration mitmarschieren – das ist ein Widerspruch.“ Der Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Aber das bedeutet, dass wir klar bleiben in dem, was wir tun, wofür wir einstehen, was wir säen. Dazu kann uns der Geist der Freiheit, der Versöhnung, der Solidarität und Glaubwürdigkeit helfen und den Weg weisen. Amen.

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