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Weihnachten feiern: sich erinnern und ergriffen werden

Vor und an Weihnachten wird viel telefoniert. Viele Telefongespräche haben eine ähnliche Liturgie: Es beginnt mit der Frage nach dem Wohlergehen derer, die man schon lange hat anrufen wollen. Danach folgt das allgemeine Lamento über die katastrophale Weltlage und darüber, was alles schiefläuft in der Gesellschaft. Um das Gespräch nicht depressiv enden zu lassen, kommt man auf die Gestaltung der Feiertage zu sprechen: welche Besuche anstehen, was es zum Essen gibt und wie es um die Familie steht. Schließlich wird das Telefonat mit den besten Wünschen für ein frohes Fest beendet. Heute führte ich einige dieser Gespräche. Als wir auf die entsetzlichen Kriege im Gaza und in der Ukraine und all die grausamen Gewalttaten zu sprechen kamen, richtete eine Bekannte, die selbst dem Glauben sehr distanziert gegenübersteht, die klassische Frage an mich: „Wie kann Gott das alles zulassen?“ Ich erwiderte ihr: „Vor dieser Frage stellt sich für mich noch eine andere, die zunächst eine ebensolche Ratlosigkeit auslöst wie deine: ‚Wieso können Menschen so brutal gegen ihre Bestimmung leben? Wieso missachten sie den Auftrag, die Erde zu bewahren und zu bebauen, Leben zu fördern und zu erhalten, auch im Nächsten ein Geschöpf Gottes zu erkennen? Wieso löscht ein 24-Jähriger in Prag das Leben von 15 Menschen aus – einfach so? Darauf finde ich auch nur schwer eine Antwort.‘“ Wir haben die Fragen im Raum stehen lassen und sind zum dritten Teil der Gesprächsliturgie übergegangen: die eigenen Befindlichkeiten …

Im Nachgang habe ich dann das Gespräch noch einmal bedacht. Auch wenn ich keine schlüssige Antwort auf die Frage finde, wieso Menschen so bestialisch handeln, so kaltblütig Menschen massakrieren können, und damit zunächst in der Ratlosigkeit verbleibe – es gibt eine Möglichkeit, aus dieser herauszufinden: Weihnachten feiern, das Fest der Geburt Jesu richtig feiern! Sich also dorthin auf den Weg machen, wo wir an unsere Bestimmung, an unseren Auftrag erinnert werden – eine Bestimmung und ein Auftrag, die uns nicht von irgendwelchen Herrschern oder Ideologen aufgedrückt werden, sondern dem göttlichen Ursprung alles Lebens entspringen. Mitten im Wüten der Brutalitäten wurde Jesus in Krippe und Stall geboren – als Zeichen der Hoffnung, als Los-Lösung aus der Ratlosigkeit und Befreiung von Fremdbestimmung. Mit ihm wurde und wird all das neu ins Recht gesetzt, was auf Straßen, in Häusern, in Städten und Wüsten bis zum heutigen Tag zerschossen, zerbombt, zermalmt wird: Frieden, Gerechtigkeit, gewaltfreies Zusammenleben, Vielfalt, Barmherzigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Erinnerung tut not! Denn nichts gerät so schnell in Vergessenheit wie das, was uns von Anfang an verheißen ist: dass wir Menschen unser eigenes Leben wie das Leben eines jeden Menschen als Geschenk annehmen können, auf das wir keinen Anspruch haben, mit dem wir aber verantwortlich umgehen sollen. Diese Grundbestimmung des Lebens tritt mit Weihnachten aus dem Ungefähren, dem Dunkel, wieder ins Licht. Das sollte bei jedem Menschen einen ähnlichen Aha-Effekt auslösen wie damals bei Maria und Joseph, den Hirten und den Weisen aus dem Morgenland – und später bei all den Menschen, die Jesus begegnet und gefolgt sind. Die alte Weihnachtsgeschichte berichtet davon, dass die Menschen, die das erlebt haben, davon ergriffen wurden. Diese Ergriffenheit führte zu zwei Reaktionen: Die Menschen konnten ihr eigenes Leben wie die gesellschaftlichen Umstände in einem neuen Licht sehen und sie wollten diese Erfahrung nicht für sich behalten, sondern weitertragen.

Um diese Erfahrung von lebendiger Erinnerung und Sich-ergreifen-lassen geht es an Weihnachten. Beides ist aber kein Selbstläufer, schon gar nicht in einer säkularen Gesellschaft. Insofern ist es ein Segen, dass wir Weihnachten, die Geburt Jesu, jedes Jahr neu feiern können – mitten in einer Welt voller Zerwürfnisse und großer Vergesslichkeiten. Mit der Weihnacht bekommen wir wieder eine Ahnung von dem, worauf es wirklich ankommt und was unsere vornehmste Aufgabe ist: immer wieder zu den Ursprüngen zurückzukehren, um mit neuer Kraft und neuen Aussichten in den Alltag aufzubrechen und unserer Bestimmung gerecht zu werden. Dabei erweist sich die Botschaft der Engel als nicht versiegende Kraftquelle: Gott die Ehre, der Erde Frieden, den Menschen Gerechtigkeit. Keine Gedankenlosigkeit und kein Gewaltakt von Menschen können das jemals auslöschen!

4 Antworten

  1. Lieber Christian,

    Gretchen und ich danken Dir. Vor allem der erste Teil Deines Textes kann in Gesprächen weiterhelfen – gerade mit jungen Menschen. Wir freuen uns auf neue Begegnungen.

    Herzlich
    Wolfgang Geisler

  2. „Und das nicht nur zur Weihnachtszeit ….“:

    Die menschlichere Welt

    Der christliche Glaube ist diejenige menschliche Einstellung zu Gott,
    in der sich der Mensch darauf verlässt, dass Gott Mensch geworden ist und bleibt,
    damit der Mensch menschlich sein und immer menschlicher werden kann.
    Kürzer: Das Wesen des christlichen Glaubens ist die rechte Unterscheidung zwischen Gott und Mensch,
    nämlich zwischen einem menschlichen Gott und einem immer menschlicher werdenden Menschen.
    Und man muss hinzufügen, dass der christliche Glaube über diese Unterscheidung von Gott und Mensch froh ist,
    weil es dem Menschen und seiner Welt wohltut, dass der Mensch kein Gott ist und sein wollen muss. –
    Insofern kann man noch kürzer sagen:
    Das Wesen des christlichen Glaubens ist Freude an Gott und deshalb Sorge für eine menschlichere Welt. (Eberhard Jüngel)

    Angesichts der überbordenden Weihnachtsemotionalität und steilen Weihnachtsgedanken christlicher und säkularer Zeitgenossen*innen „in diesem unserem Lande“ ist das mein eher nüchternes Weihnachtsempfinden.
    In diesem Sinne allseits Segen erzeugende und bringende Weihnachten.
    Norbert Sinofzik, Krefeld-Uerdingen

  3. Mit dem Kind in der Krippe als Manifestation des göttlichen beginnt eine Geschichte des Antihelden, der sich nicht mit Kraft ,Energie und militärischer Gewalt engagiert und so neue Verhältnisse schafft. Leider werden beim Tun der Gewaltigen immer die vergessen, die verstümmelt, an Leib und Seele beschädigt oder gar ums Leben gebracht zurückbleiben. Die Sieger von heute schaffen Hass und Rachegedanken, die erst zur Ruhe kommen, wenn die einstigen Sieger selbst besiegt und unterlegen sind. Wie kann diese Geschichte endlich zur Ruhe kommen und ein lebensfreundliches Ende finden ? Ich glaube die Geschichte vom sich selbst entmachtenden Gott, der als Kind zur Welt kommt und sich allen Gefahren und Bedrängnissen aussetzt, ist die beste und überzeugendste Antwort.

  4. Lieber Herr Wolff, Ihre überzeugenden Worte zu Weihnachten haben mich so ergriffen, dass ich sie eben meiner Frau noch einmal laut vorgelesen habe. Wir beide stimmen Ihnen voll zu und danken Ihnen sehr für diesen Aufruf. In diesem Sinne auch Ihnen FROHE WEIHNACHTEN!

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