Es hätte eine der Sternstunde des Parlaments werden können, die dieses Gremium und die lebendige Demokratie immer wieder benötigt: die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Deutschen Bundestag am vergangenen Donnerstag, 17. März 2022. Doch die Chance wurde stümperhaft vertan. Von Anfang an mutete der Auftritt Selenskyjs wie eine lästige Pflichtübung des Parlaments an – schnell abgehakt am frühen Morgen. Sitzen sonst beim Auftritt eines ausländischen Staatsoberhauptes im Deutschen Bundestag an herausgehobener Stelle im Plenarsaal die Spitzen der Staatsorgane: also Bundespräsident, Bundesratspräsident, Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und Bundeskanzler, war von ihnen am Donnerstag nichts zu sehen. Man fragt sich: Wird der Auftritt eines Staatsoberhaupts in seiner Bedeutung dadurch geringer, dass er per Video zugeschaltet wird? Gerade weil die Ukraine von einem Angriffskrieg überzogen wird und darum Selenskyj nicht persönlich erscheinen konnte, wäre die persönliche Anwesenheit der deutschen Staatsspitze im Bundestag unbedingt erforderlich gewesen.
Dass dann nach der Selenskyj-Rede einfach zur Tagesordnung übergegangen wurde, war genauso peinlich wie die von der CDU/CSU-Fraktion initiierte Geschäftsordnungsdebatte. Man kann sicher unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob eine direkte Reaktion auf die Selenskyj-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz angemessen gewesen wäre. An sich bleiben Reden von Staatschefs zunächst für sich im Raum stehen. Aber dann hätte die Sitzung einer deutlichen Zäsur bedurft – eine Nachdenk-Pause. Danach kann man dann zur Tagesordnung übergehen, so wie wir alle auch angesichts dieses schrecklichen Krieges weiter unseren Geschäften und Tätigkeiten nachgehen. Bleibt die Frage: Gibt es eigentlich niemanden im Bundestagspräsidium, der etwas von Liturgie, Dramaturgie und Empathie versteht?
Dass der Bundestag und die Bundesregierung in ihrer Gänze dem eindrucksvollen, außergewöhnlichen Auftreten Selenskyjs so kalt geschäftsmäßig begegneten, muss uns alle beschämen und alarmieren. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich damit die Chance entgehen lassen, in einer direkten Reaktion auf Selenskyj die unterschiedlichen Perspektiven darzulegen, mit der er und Selenskyj auf die dramatische politische Lage blicken. Natürlich ist nachzuvollziehen, dass Selenskyj das Eingreifen der NATO in das Kriegsgeschehen fordert. Aber es gibt auch gute Gründe, das abzulehnen. Auch hätte Scholz auf die berechtigte Kritik Selenskyjs an zögerlichen Entscheidungen in Sachen Stopp der Gaslieferungen darauf hinweisen können, dass zu Putins Kriegsstrategie die Destabilisierung der europäischen Staatengemeinschaft gehört – einmal durch die Millionen Menschen, die vor seinem Krieg und Terror in die westlichen Nachbarländer flüchten und dann durch soziale Spannungen, die durch Energieknappheit und hohe Preise sehr schnell entstehen können. Ebenso hätte Scholz durchaus ein Wort zu den Fehleinschätzungen der deutschen Politik seit 2008 sagen können und zu dem Problem, dass es kaum eine angemessene politische Friedensstrategie geben kann, wenn man es wie im Fall Putin mit einem kaltblütigen Killer und Kriegsverbrecher zu tun hat.
Doch all das wurde versäumt. Damit wurde auch die Möglichkeit liegengelassen, für die jetzige Politik der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesregierung zu werben. Schließlich hätte Scholz auch ankündigen können, dass er sich in den nächsten Tagen auf den gleichen Weg machen wird wie die Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens und Sloweniens: nach Kiew – und nach ihm Macron und nach Macron … All das hätte der Bevölkerung gut getan, die ihr Engagement für die geflüchteten Unkrainer*innen gerne flankiert sieht von mutigen Friedensinitiativen der Regierenden. Doch all diese Chancen wurden nicht ergriffen. So möchte man diesen Donnerstagmorgen ganz schnell vergessen und hoffen, dass es bald eine nächste Gelegenheit gibt, die fatalen Signale vom verganenen Donnerstag zu überdecken. Allerdings: Niemand weiß, ob Wolodymyr Selenskyj diesen Krieg überlebt und jemals eine persönliche Begegnung mit ihm möglich sein wird. Darum ist eine baldige öffentliche Bereinigung dieses Vorgangs durch den Bundestag und die Bundesregierung dringend geboten.
10 Antworten
HEUTE !
„Die biblische Botschaft fordert uns klar dazu auf, die Zerstörung unseres Planeten aufzuhalten“, so die Evang.Ratsvorsitzende Kurschus heute.
„Ich wünsche mir, dass wir als Kirchen im Klimaschutz vorangehen.“
https://www.ekd.de/nav/jeux-video-et-consoles_figurines/kurschus-hoechste-zeit-dass-sich-etwas-aendert-72487.htm
Die Chance für eine Erneuerung der evangelischen Kirche ist damit ab heute zum globalen Klima-Day gegeben! Ab heute ein Aufruf zum handeln.
Es gibt seit heute einen Appell, dem sich u.a. Menschen wie Heino Falcke, Margot Käßmann, Sebastian Krumbiegel u.v.a.m. angeschlossen haben und den ich unterstütze. Zur Sunde sind es knapp 5.000 Unterzeichner. Wer sich dem anschließen möchte, kann dies unter diesem Link gern tun: https://derappell.de/?fbclid=IwAR3vzMwJzEnXB5O0IR2wWU1a0Zm9LkPnyPJCOGsm4ugzSxqQjIvBOACeYww
„Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.
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Die Abschreckung muss auch gegenüber Staaten funktionieren, die keinem atomaren Block angehören. Außerdem hieße ein Krieg zwischen atomaren Militärblöcken nicht automatisch, dass strategische Atomwaffen eingesetzt werden. Bei taktischen sehe ich das mittlerweile anders. Dass bewaffnungsfähige Drohnen unnütz sind, sollten die Initiatoren dieses Aufrufs Herrn Selenskyi ins Gesicht sagen. Das Wort „Verteidigungsausgaben“ der NATO-Staaten in Parantese zu setzen, ist bösartig.
Der Bundestag scheint gelernt zu haben:
Bundestag erhebt sich in Gedenken an Boris Romantschenko
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw12-de-gedenken-romantschenko-885632
“ … wenn man es wie im Fall Putin mit einem kaltblütigen Killer und Kriegsverbrecher zu tun hat.“ Ich bin ein sehr impulsiver Mensch, aber meine mediatorische Ausbildung sagt mir, dass Scholz und andere Politiker*innen, die Putin zu Verhandlungen bewegen wollen, ihn mit solch einem Vokabular nicht erreichen werden. So verständlich diese verbalen Schwerter sind, zwecks Deeskalation und Verhandlungsbereitschaft sollten wir sie uns so versagen, wie Jesus Petrus das physische Schwert verbot. Mit dem Ziel Deeskalation gilt auch sprachlich Schwerter zu Pflugscharren zu formulieren. Oder wie ich mal irgendwo las: „Affektive Motivation braucht effektive Strategie!“ Als ein ansonsten nicht viel von Scholz haltender Bürger schätze ich seine Art in dieser komplizierten Situation: wenig affektiv effektiv – und damit Eskalation vermeidend – zu agieren. Das ganze Empörungsgeschrei hat auch viel mit persönlicher Katharsis zu tun, die gesellschaftlich auch wichtig ist, aber keine aggressive Dynamik – auch nicht sprachlich – entwickeln sollte.
Und insgesamt denke ich, dass die Regierung in Sachen „militärische Unterstützung der Ukraine“ gut mit dem unausgesprochenen Motto fährt: „Plane und tue Unterstützendes, doch rede nicht drüber!!!“. Denn aller öffentlich gemachter und somit auch von Putin entdeckbarer Support kann von Putin dann auch torpediert, zerstört werden. Wohlfeiles Getöse über das, was wir vielleicht alles liefern/unterstützen, könnte kontraproduktive Wirkung haben. Das Leise muss nicht nicht ineffektiv sein!
Und zu Selenskyjs brillanten Auftritten sei angemerkt, dass ihm hier sicher seine vormalige Schauspielertätigkeit eine große Hilfe zu sein scheint! Und das ist nicht ironisch gemeint!
„Gibt es eigentlich niemanden im Bundestagspräsidium, der etwas von Liturgie, Dramaturgie und Empathie versteht?“
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Zumindest Vizepräsidentin Göring-Eckart dürfte als ehemalige Kirchentagspräsidentin und Präses der EKD etwas von Liturgie verstehen – wenn der Regierungschef schon Atheist ist.
Die Konfessionslosigkeit eines Menschen macht ihn noch lange nicht zur Atheistin, zum Atheisten. Ich selber habe vor genau 50 Jahren in einer Auseinandersetzung im Düsseldorfer LKA als Theologiestudent dem damaligen Superintendenten meines Herkunftskirchenkreises sehr impulsiv gesagt: „Könnte ich mit meinem Studium etwas anfangen ohne in der Kirche zu sein, wäre ich schon längst aus diesem „Laden“ ausgetreten!“. Dieser Überzeugung bin ich 50 Jahre älter mit Anfang 70 in großen Teilen auch heute noch. Etwas abgemildert formuliere ich heute: „Ich lebe mit meiner ev. Kirche in kritischer Solidarität zu ihr. Die Betonung liegt auf „kritisch“! Und was das demonstrative „Gott-vor-sich-her-tragen“ angeht, so orientiere ich mich eher an der Zurückhaltung in Lukas 18, 9-14. Bekenntnispathos ist nicht aller Menschen Sache. In die Jahre gekommen beerdige ich mittlerweile aus meinem Umfeld Menschen, die aus der Institution Kirche ausgetreten waren, aber bewusst christlich lebten, argumentierten und ausdrücklich christlich beerdigt werden woll(t)en.
Vorsicht also mit Pauschalisierungen. Nicht jeder russische Mensch vergöttert Putin und nicht jeder konfessionslose Mensch ist Atheist oder Atheistin!
Ich weiß natürlich nicht, ob Herr Scholz konfessionsloser Christ, Atheist, Agnostiker o. ä. ist.
Bekannt ist nur, dass er die Eidesformel ohne religiöse Beteuerung gesprochen hat.
Ich muss Dir (leider) zu 100 % zustimmen, lieber Christian: es war beschämend, wie unser Parlament auf die Rede von Selenskyj am Donnerstag (nicht!) reagiert hat; wenn man schon keine Debatte wollte, wäre eine z.B. ½ stündige Unterbrechung der Sitzung wenigstens eine Geste des Anstands und der Würde gewesen…
Auch ich würde mir wünschen, dass weitere Spitzenpolitiker*innen sich jetzt nach Kiew begeben, um ein deutliches Zeichen der Solidarität zu setzen. Ebenso stünde uns der Boykott aller russischer Rohstofflieferungen und damit zusammenhängend ein vollumfänglicher Swift-Ausschluss aller russischen Banken gut zu Gesicht und müsste den Deutschen – mit allen damit verbundenen Nachteilen und Einschränkungen – vermittelbar sein. Eine proaktive Kommunikation geeigneter (weiterer) Schritte zur Konfliktlösung könnte Scholz aus seiner momentan eher defensiven /passiven Rolle heraus helfen. Nicht zu vergessen ein Redeverbot für populistische Selbstinszenierer*innen („Tankrabatt“, „Ukrainer*innen fragen nach Job- nicht nach Leistungsangeboten“) zumindest für die Dauer dieses barbarischen Krieges.
Dass es noch einen realistischen Weg gibt, PUTIN an den Verhandlungstisch zurück zu bringen, glaube ich nicht. Mein Vertrauen in das russische Volk, seinen Friedenswillen, seine Offenheit und Gastfreundschaft gegenüber Anderen ist aber nach wie vor ungebrochen! Und die Entschlossenheit und der Mut der Ukrainer*innen, dem Aggressor Widerstand zu leisten, ist absolut bewundernswert!
SLAVA UKRAINI !!!
Die Angelegenheit war in der Tat peinlich. Aber die Verantwortlichkeiten dürften doch recht klar sein. Es wäre an der Bundestagspräsidentin gewesen, hier einen angemessenen Rahmen zu setzen, und es hätte ein Anliegen der Ampel-Regierung sein müssen, dafür zu sorgen, dass der Stimme eines Staatschefs – zumal in dieser Situation – die nötige Achtung zukommt. Die Opposition hatte immerhin schon am Tag vorher einen entsprechenden Antrag gestellt.