Aktuelle
Themen

Aktuelle
Themen

Nicht ad acta legen: das gemeinsame Haus Europa

Es war eine Metapher im politischen Diskurs Ende der 80er Jahre: das gemeinsame Haus Europas. Michael Gorbatschow gebrauchte das Bild von verschiedenen Wohnungen unter einem Dach ebenso wie Willy Brandt oder Erhard Eppler: eine europäische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Sie sollte eines verhindern: dass Interessensauseiandersetzungen mit Krieg „gelöst“ werden. Damit war die Vorstellung verbunden: Unter einem Dach können Menschen und Nationen nur dann friedlich zusammenleben, wenn sie sich in ihrer Verschiedenheit und Vielfalt respektieren. Mit der Friedlichen Revolution 1989/90, der Deutschen Einheit 1990 und der Auflösung des Warschauer Paktes sahen viele Menschen in West- und Osteuropa ein gemeinsames, friedliches Zusammenleben als gesichert hat. Allerdings hat man in den vergangenen drei Jahrzehnten eines vergessen: Das gemeinsame Haus Europa bedarf einer von allen akzeptierten Hausordnung. Dass diese nicht entwickelt wurde, rächt sich jetzt bitter. Spätestens seit 2014 ist vom gemeinsamen Haus Europas kaum mehr die Rede. Damit gerieten die europäischen Staaten, die nicht zur EU und nicht zur NATO gehören, aus dem Blickfeld. Das gilt für die Ukraine, Belarus, Georgien wie für Russland. Die ehemaligen Teilrepubliken der UDSSR streben nach Teilhabe an den Errungenschaften, die zur Idee des gemeinsamen Hauses Europa und zur Überwindung der Spaltung geführt haben: Achtung der Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Strukturen, vor allem aber die Integrität der „Wohnbereiche“. Putin und seine Vasallen aber verfolgten ganz andere Ziele: eine den Menschen von oben oktroyierte Hausordnung für ein autokratisch, diktatorisch regiertes russisches Großreich, das sich zusätzlichen „Wohnraum“ mit Gewalt aneignen darf. Das alles konnte sich in den vergangenen 20 Jahren gegenläufig entwickeln, weil sich die europäische Außenpolitik nicht mehr von der Vision vom gemeinsamen Hauses Europa leiten ließ – ein folgenschweres Versäumnis, nicht nur für die Ukraine, auch für den Zusammenhalt innerhalb der EU.

Jetzt stehen wir in Europa ohne Haus-, ohne eine von allen akzeptierte Friedensordnung da. Jetzt sehen wir in diesem Haus eine Macht wüten, die Eigentumsrechte nicht akzeptiert und sich mit Gewalt anderer Wohnungen bemächtigt. Jetzt diktiert nicht der Freiheitswillen der Menschen das Geschehen, sondern Machthunger und Skrupellosigkeit eines Diktators in Moskau. Jetzt ist das eingetreten, was unbedingt verhindert werden sollte: Krieg. Wie aber soll ein Zusammenleben unter einem Dach möglich sein, wenn dies von einem Hausbewohner nicht nur verweigert wird, sondern dieser seine diktatorischen Vorstellungen mit Bomben-Gewalt durchsetzen will und diese in seiner Wohnung schon brachial durchgesetzt hat? An vier Einsichten kommen wir nicht vorbei:

  1. Autokraten und Diktatoren kennen keine Macht- und Gewaltbegrenzung. Nach innen setzen sie Einförmigkeit durch, nach außen bestimmt Nationalismus, die Keimzelle für Krieg, ihr Handeln. Aus freien Stücken werden sie von ihrer kriminellen Energie nicht ablassen. Verhandlungslösungen sind kaum möglich, solange sich nicht die Menschen von ihren Tyrannen befreien.
  2. Wir müssen Europa weiterdenken als die EU. Russland bleibt unabhängig vom Putin-Regime Teil des Kontinents, Teil des Hauses Europa und damit auch Teil des Hauses Europa.
  3. Die europäische Staatengemeinschaft darf nicht zulassen, dass das Haus Europa, das mehr ist als die EU, durch Putins Krieg von innen zerstört wird. Darum gilt dem ukrainischen Volk, aber auch den Menschen in Belarus, Georgien, Moldavien alle Unterstützung.
  4. Der europäische Widerstand gegen die in jeder Hinsicht maß- und gewissenlose Kriegsarroganz Putins darf das Ziel nicht aus den Augen verlieren: eine Friedensordnung für das gemeinsame Haus Europa, die ein freiheitliches Leben der Menschen ermöglicht und auf Gewaltlösungen verzichtet.

In der Vergangenheit wurde viel versäumt. Es wurden Fehler gemacht: Putins brutaler Killerinstinkt gepaart mit groß-russischen Machtphantasien wurde unterschätzt, die Frieden stiftende Funktion von Wirtschaftsbeziehungen und von wissenschaftlichem wie kulturellem Austausch wurde einseitig überschätzt. Mir ist das auch so ergangen. Eine kritische Revision ist erforderlich. Der maßlose Machtanspruch Putins muss zurückgewiesen werden. Allerdings sollten wir uns hüten, das Ziel vom gemeinsamen Haus Europa ad acta zu legen.

16 Antworten

  1. Lieber M. Käfer – es sei hier erneut vermerkt, dass Sie zu den seriösen, anständigen und bedachten Blog-Kommentatoren gehören; erst denken, dann schreiben. Vor allem am Faktum arbeiten, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen und Erkenntnisse auch sein mögen. Danke!
    Ich erinnere (Stichwort Zeitenwende) doch einmal an die in den Medien als „Schockrede“ apostrophierte Ansprache des Herrn Putin 2007 in München. Damals beklagte unüberhörbar der russische Kreml-Chef – 15 Jahre (!) vor dem Ukraine-Konflikt – vor dem besetzten Auditorium voller NATO- und US-Vertreter die unkontrollierte Ausdehnung des westlichen Bündnisses, dies lt. Putin bis an die Grenzen Russlands reichend. Und er warf geradezu aggressiv den USA vor, ein Machtzentrum schaffen zu wollen, welches unkontrolliert agiere. Alles war geschockt im Publikum, aber Reaktionen?
    Heute – übrigens wie andere jetzt ebenso plötzlich der einstige Chef der Münschner Sicherheits-Konferenz Wolfgang Ischinger kürzlich mit höchstem Bedauern ob auch seiner gravierenden Fehleinschätzungen (!) – ist das Erschrecken enorm, Putin nicht erkannt zu haben, wie er wirklich „tickt“. Aber ich denke, man sollte jetzt agieren, nicht kopfschüttelnd rückwärts schauen und ratlos sein. Allerdings schockierte mich die jüngste Feststellung des MP von Sachsen, M. Kretschmer im Sächs. Landtag (23.03.22): „Die Härte, die wir bei denjenigen zeigen, die jetzt als Kriegstreiber, als Kriegsverbrecher aktiv sind, ist das eine. Diese Sprache muss eindeutig sein.“ Was ist mit „eindeutiger Sprache“ gemeint? Reine Rhetorik kann wohl damit kaum gemeint sei, was dann wohl? Diplomatie ? Waffen ? Militärische Reaktionen ? Wohin geht das ?

    Herzliche Sonntagsgrüße an Chr. Wolff + M. Käfer – Euer Jo.Flade

  2. Seien sie an der ein oder anderen Stelle auch bedenkenswert, ich setze mich mit Thesen, die in Unhöflichkeiten und Anstandsdefizite eingebettet sind, nicht auseinander.
    Von einer „Zeitenwende“ würde ich im Zusammenhang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.2.22 schon bewusst sprechen; man mag gerne und mit guten Argumenten darüber streiten, ob diese Zeitenwende nicht sogar schon viel früher eingesetzt hat… Die Entspannungspolitik Brandts oder Gorbatschows, friedensethische Positionen der Kirchen und der Zivilgesellschaft stelle ich damit aber keinesfalls infrage! Sie waren notwendige Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands, eine Phase friedlicher Koexistenz und Entwicklung in Europa.
    Die Zeitenwende hat aber nicht allein Putin verursacht!
    Wegschauen bei völkerrechtswidrigem Verhalten, Friedensdividende stillschweigend einheimsen, wenig/keine Führungsverantwortung übernehmen, immer nur auf Sicht fahren – diese Verhaltensweisen der letzten Jahrzehnte haben sie mit ermöglicht und die müssen wir uns zurechnen lassen.
    Die neue Bundesregierung ist vor nicht einmal einem halben Jahr angetreten mit der These „Mehr Fortschritt wagen“; in seiner Rede vom 27.2.22 hat Bundeskanzler Scholz Anlass gegeben, diesem Weg oder anders gesagt einer neu zu formulierenden Hausordnung für das Haus Europa einen Vertrauensbonus einzuräumen. Und eine solche (neue bzw. weitergehende) Hausordnung brauchen wir dringend! Wir dürfen die Augen aber auch nicht weiter davor verschließen, dass das Haus Europa seit längerem nicht mehr in allerbester Verfassung ist. Viel zu lange haben wir uns mit Diskussionen aufgehalten wie der „schwarzen Null“, der „Schuldenbremse“, der Vollkaskomentalität, der „faulen Griechen“ oder der „verrückten Briten“, glaubten, uns ein „weiter so“ für immer leisten zu können, dachten, dass die Klimakrise zu komplex für protestierende Schüler*innen und Greta Thunberg eine sich selbst therapierende Autistin sei…
    Um das Haus wieder für alle bewohnbar zu machen, braucht es Führung (-spersönlichkeiten) und eine von allen mitgetragene Hausordnung, in der gemeinschaftliche Aufgaben (Außen-, Sicherheits- und Sozialpolitik), Ruhephasen (Verzicht auf Populismus und Nörgeleien) und Toleranz-Grenzen (gemeinsam akzeptierte Werte, Mehrheits-Prinzip statt Einstimmigkeit) neu geregelt werden.
    Ein echtes und aktiv herbeigeführtes Gasembargo, aufrichtige bzw. ehrliche Unterstützung des Widerstands der Ukraine gegen den Aggressor (ohne selbst Kriegspartei zu werden), europäische Solidarität in Wirtschafts- und Fragen der Lastenverteilung (Außengrenzen sichern, ankommende Flüchtlinge menschlich behandeln und verteilen), aber auch ehrliche Kommunikation der daraus resultierenden Einschränkungen und Belastungen unserer Lebensumstände sind hier gefragt.
    Ich persönlich sehe da hoffnungsvolle Ansätze bei B90/Grüne, mit Einschränkungen bei der SPD, wenige bis gar keine bei der FDP!

  3. Vielleicht kann der nachfolgende Text auch Herrn Schwerdtfeger zumindest anregen, darüber nachzudenken. Ich gebe diese Gedanken einfach mal weiter und betone erneut, dass Krieg niemals das Mittel zum Frieden ist, im Gegenteil.
    Hier der Aufruf, den auch ich wie viele andere unterstütze:
    „Lassen wir uns nicht zu Feinden machen!
    Dieser Krieg ist ein Verbrechen. Er ist durch nichts zu rechtfertigen.
    Auch nicht durch Fehler und Versäumnisse der USA und der NATO in den letzten drei Jahrzehnten. Die hat es ohne Zweifel gegeben. Zu ihnen gehört auch die Zusicherung, die im Februar 1990 bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit die Regierungen in Washington wie auch die in Bonn der Sowjetunion gegeben haben, die NATO werde sich nicht in Richtung Osteuropa erweitern. Dieses im Westen vielfach bestrittene, aber zuverlässig belegte Versprechen wurde nicht eingehalten. Dies kann aber nicht als Legitimation für den Überfall auf die Ukraine dienen.
    Unsere Solidarität gilt den vom Krieg bedrängten Menschen in der Ukraine und den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg ihrer eigenen Regierung wehren. Sie gilt ebenso den Priestern und Gläubigen der Russischen- Orthodoxen Kirche in Russland und der Ukraine, die unter der Zerrissenheit ihrer Kirche angesichts des Krieges leiden.
    In den 1980iger Jahren haben wir in der DDR und in der Bundesrepublik gegen sowjetische und amerikanische Waffen öffentlich protestiert und ein Ende der Abschreckungspolitik in Ost und West gefordert. Nach Ende des Kalten Krieges waren viele Menschen davon überzeugt, dass bei uns die Entspannungspolitik, das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, der „Wandel durch Annäherung“ ein tragfähiges, dauerhaftes neues Miteinander statt des alten Gegeneinander eingeleitet hatte. Diese Hoffnung hat getrogen. Die Politik des „Wandels durch Annäherung“ heute im Kontext des unheilvollen Krieges Russlands in der Ukraine nicht mehr wahrhaben zu wollen und im Nachhinein zu denunzieren, kommt für uns einer Geschichtsverfälschung gleich, gegen die wir Einspruch erheben.
    Wer jetzt von „Zeitenwende“ spricht, stellt infrage, dass unsere Entspannungspolitik sinnvoll war. Er stellt auch alle mühsam erkämpften friedensethischen Positionen in unseren Kirchen und in der Zivilgesellschaft infrage.
    Wir halten es für falsch, wenn jetzt in unserem Land über die notwendige Ausrüstung der Bundeswehr mit Verteidigungswaffen hinaus Aufrüstung für das richtige Zeichen gehalten wird. Sicherheit und Frieden brauchen unverändert eine beispiellose politische Anstrengung. Wir halten es für falsch, wenn jetzt, fast wie in einem Überbietungswettbewerb, russische Künstlerinnen, Wissenschaftler, Sportlerinnen, von denen eine symbiotische Nähe zu Russlands Regime nicht bekannt ist, von lange geplanten Auftritten im Westen ausgeschlossen werden. Das ist das Gegenteil von Deeskalation, für die wir uns einsetzen müssen, um der Gewalt ein Ende zu bereiten.
    Dass Deutschland jetzt angekündigt hat, seine historisch begründete außenpolitische Zurückhaltung gegenüber Russland aufzugeben ist verständlich und problematisch zugleich. Ihr wohnt die Gefahr inne, dass ausgerechnet wir Deutschen gegenüber Russland als die moralisch Überlegenen wahrgenommen werden, wo doch alles darauf gerichtet sein muss, politische
    Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein Rückzug vom Krieg ermöglichen. Ständige Kontakte zwischen Diplomaten und Militärs auf beiden Seiten tragen hoffentlich zur Deeskalation bei.
    Wir dürfen uns nicht zu Feinden machen lassen. Eine angemessene Antwort auf Russlands Aggression darf nicht darauf verzichten darüber nachzudenken, was nach Ende des Krieges bewältigt werden muss, um mit Russland ein vereintes Europa zu schaffen.
    Am 14. März 2022 – Almuth Berger, Heino Falcke, Joachim Garstecki, Ruth Misselwitz,
    Hans Misselwitz, Elisabeth Raiser, Konrad Raiser, Gudrun Rein, Gerhard Rein“ –

    Ein hoffnungsstarkes Wochenende – Jo.Flade

    1. „Zu ihnen gehört auch die Zusicherung, die im Februar 1990 bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit die Regierungen in Washington wie auch die in Bonn der Sowjetunion gegeben haben, die NATO werde sich nicht in Richtung Osteuropa erweitern. Dieses im Westen vielfach bestrittene, aber zuverlässig belegte Versprechen wurde nicht eingehalten.“
      =============================================================0

      Dazu Michail Gorbatschow:

      „Gegenüber der russischen Zeitung „Kommersant“ stellte er im Oktober 2014 klar: „Das Thema ,NATO-Expansion‘ wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in diesen Jahren [1989-1990] nicht aufgeworfen. Ich sage das in vollem Verantwortungsbewusstsein. Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat diese Frage angesprochen, noch nicht einmal nachdem der Warschauer Pakt 1991 aufgehört hatte zu existieren. Westliche Staats- und Regierungschefs haben sie auch nicht erhoben.“

      https://www.baks.bund.de/de/arbeitspapiere/2018/nato-osterweiterung-gab-es-westliche-garantien

      1. Es ist dem unvoreingenommenen Zeitzeugen völlig klar, daß der damaligen Sowjetunion mündlich zugesagt wurde, eine Ausdehnung der Nato und eine ständige Stationierung von Truppen der Nato östlich der damals bestehenden Nato-Grenzen nicht vorzunehmen. Das bestätigt auch Klaus von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen“. Es kann daran kein Zweifel bestehen. Die Zusage, die AM Baker für die USA und auch für die Nato gab, fand allerdings nicht Eingang in Verträge.
        Und: Nein, Herr Plätzsch, es fehlt kein „nicht“. Solange Putin jedenfalls Staatschef Rußlands bleibt, bleibt er ein Player auf dem Schachbrett – und es ist nie gut oder auch nur richtig, eine Schachfigur zu übersehen oder zu ignorieren. Jeder Vernünftige wird das einsehen.
        Andreas Schwerdtfeger

        1. Pardon – ich entschuldige mich: Es fehlt ein „nicht“, Sie haben Recht, Herr Pläztsch. Putin ist eben ein Player auf dem Schachbrett und man darf und muß mit ihm rechnen, solange er eben Staatschef ist.
          A.S.

        2. Herr Schwerdtfeger, ich zitiere den engen Mitarbeiter Genschers, Botschafter Frank Elbe (80), aus dem SPIEGEL vom 28. 2. 22:

          „1997 haben NATO und Russland die NATO-Russland-Grundakte vereinbart. Darin akzeptierte der damalige Präsident Boris Jelzin eine Osterweiterung der NATO und bekam im Gegenzug ein eingeschränktes Mitspracherecht eingeräumt. Damit war das Thema erledigt.“

          Obwohl Russland eine Schachnation ist, spielt Putin dieses hochkomplexe Spiel nicht, denn dafür existiéren strenge Regeln. Er aber hält sich an keinerlei Regeln.

    2. Wenn doch endlich unser Freund Flade sich mal weniger Gedanken machen würde um das „Nachdenken“ anderer, sondern selbst mal denken würde, was ihm offensichtlich schwer fällt (weswegen er auch immer nur andere zitiert). Nun belehrt er uns also über die Tatsache, daß „Krieg niemals das Mittel zum Frieden ist“ – wie originell! Die Frage, die hier kontrovers diskutiert wird, ist die, WIE man den Krieg verhindert bzw möglichst erfolgreich und kurz führt, wenn er einem – wie im aktuellen Fall – aufgezwungen wird. Und das tut man – natürlich neben anderen politischen Maßnahmen -, indem man eine glaubwürdige Abschreckung vorhält, indem man potentiellen Angreifern die Gefahr für sich selbst verdeutlicht, wenn sie es versuchen sollten, indem man eben „wehrhaft“ ist. Und man tut es nicht, indem man Vakuen entstehen läßt. Und auch nicht, indem man glaubt, daß Vokabeln alleine – „Friedensordnung“, zB – solche Vakuen füllen.
      Dem Aufruf selbst kann man ja im wesentlichen nur zustimmen: Natürlich darf man Rußland – nicht mal Putin – aus Überlegungen zum künftigen „Haus Europa“ ausschließen. Und natürlich braucht das Haus Europa interne und äußerliche Verteidigungsfähigkeit mit starken Streitkräften, eben genau um den Krieg zu verhindern. Hier liegt der einzige Fehler in dem Aufruf, der hier den üblichen kenntnislosen Clichés folgt: „Wir halten es für falsch, wenn jetzt in unserem Land über die notwendige Ausrüstung der Bundeswehr mit Verteidigungswaffen hinaus Aufrüstung für das richtige Zeichen gehalten wird.“ Was qualifiziert die Unterzeichner, das Wort „notwendig“ hier zu definieren (was sie ja auch nicht tun und deshalb eher vage bleiben)? Wer stellt fest, wo die Grenze zwischen Aus- und Aufrüstung ist – eine Grenze, die sowieso in realiter nicht existent ist? Wer definiert, welche Waffe der Verteidigung oder dem Angriff dient? Hier sind die Deutschen – wie im Fußball – allesamt große Experten und haben doch keine Ahnung. Und der zweite Satz „Sicherheit und Frieden brauchen unverändert eine beispiellose politische Anstrengung“ ist ja völlig unbestritten, denn auch hier geht es ja nicht um das Ziel, sondern um die Mittel und Wege: Eine beispiellose politische Anstrengung ist eben die, die unter anderem Verteidigungsfähigkeit herstellt.
      Ja, nachdenken wäre also gut, Herr Flade!
      Andreas Schwerdtfeger

      1. „Natürlich darf man Rußland – nicht mal Putin – aus Überlegungen zum künftigen „Haus Europa“ ausschließen.“
        ====================================================================

        Fehlt hier ein „nicht“?

    3. Das sehe ich auch so. Es darf keine neuen Feindbilder und keine Hochrüstung geben.
      Empfehle Appell #Der Appell zu unterstützen.

  4. Aus dem Beitrag spricht eine nachvollziehbare Empörung. Ich finde ihn aber nicht hilfreich. Es ist keine Frage, dass Putin einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, der zu verurteilen ist. Das reicht aber es so zu erwähnen. Ich halte eine Dämonisierung seiner
    Person für schädlich. Man wird ihn noch brauchen. Außerdem zeigen die Erfahrungen mit dem Irak Krieg, dass eine Dämonisierung der Führer später auf die Bevölkerung überspringt. Das irakische Volk musste mitleidlos an den Sanktionen leiden. Ich würde auch nicht alle Diktatoren und Autokraten über einen Kamm schehren, von denen sich die Menschen sofort befreien müssten. Vielleicht würden die Weltgemeinschaft heute mit den früheren Diktatoren von Libyen und Irak (Folge IS) besser fahren. Über die zeitlos vorhandenen Charaktereigenschaften von Herrn Putin mag ich nicht spekulieren. Jedenfalls hat der Westen seine nach dem Mauerfall ausgestreckte Hand nicht angenommen und seine Warnungen gegen die Osterweiterung der Nato auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 eher belächelt. Wenn in dem Beitrag von dem Bestreben nach Rechtsstaatlichkeit gesprochen wird, muss man doch erwähnen, dass gerade Polen mit Millionen Bußen wegen des Mangels an dieser seitens der EU belegt wird. Es geht doch immer um Entwicklungsprozesse, die zu beschreiben und zu fördern sind. Mit Pauschalisierungen und Wünschen der Hoffnung allein kommen wir nicht weiter. Will denn der Westen nun einen Sturz des Tyrannen Putins in Russland. Jedenfalls liest sich der Text so. Was käme denn danach?

  5. Lieber Christian, hoffen wir, dass das jetzige Desaster alle EU-Länder aufschrecken lässt und die gewünschte Gemeinschaft wachsen lässt, das hat Putin ja wohl nicht im Sinn.
    Leider hast Du bei Deinen richtigen Gedanken, den Westlichen Balkan, sprich die Länder des ehem. Yugoslawien und Albanien vergessen,umgeben von EU-Mitgliedsstaaten in einem schwarzen Loch. Auch dort nehmen die Probleme – trotz Waffenruhe seit vielen Jahren eher zu als ab – und das hat auch etwas damit zu tun, dass das Gebiet von der EU seit langem marginalisiert wird.

    1. Danke für den wichtigen Hinweis – er belegt, dass wir sehr viel mehr über das Haus Europa debattieren müssen. Wir müssen aufpassen, dass wir mit der „Zeitenwnede“ nicht alle Kontinuitäten entsorgen.

  6. Lieber Christian,
    es ist gut, dass Du an das gemeinsame Haus in Europa nicht nur erinnerst, sondern uns alle ermutigst, an diesem Haus zu bauen. Die Interessenkonflikte sind präzise geschrieben und auch die Fehleinschätzung von vielen, auch von mir, Europa wäre selbstverständlich. Seit Jahren merken wir, wie es knirscht. Nun müssen wir ehrlich benennen, was Sache ist: vom Umbau der Rechtsstaaten in manchen Ländern bis zu dem sehr brutalen Krieg, Autokraten sind in ihrem Machtgebaren nicht einzugrenzen. Darum müssen wir für begrenzte Machtstrukturen in den Demokratien kämpfen.
    Vielen Dank für Deinen Artikel
    Hans Scheffel

  7. Das ist nun mal ein Beitrag, lieber Herr Wolff, den man in jeder Hinsicht unterschreiben kann – als Zielsetzung, die nicht aus dem Auge verloren werden darf. Und wir sollten uns zukünftig daran erinnern, daß hier sicherlich breite Übereinstimmung herrscht.
    Es geht also um WEGE zum Ziel des „Hauses Europa“ und seiner Friedensordnung.
    Und da, so glaube ich, muß man die Realitäten sehen:
    1. Es besteht kein Zweifel, daß die Menschen in den Ländern und Staaten am West- und Südrand Rußlands ALLE Unterstützung verdienen. Zu bedenken bleibt aber, daß eine solche Unterstützung sinnvoller Weise unterhalb der Schwelle einer Mitgliedschaft in NATO oder EU bleiben sollte, wenn dadurch die Nuklear- und Vetomacht Rußland besser in dieses Haus integriert werden kann und somit aus diesem Hause heraus auch, zB über die UNO, mehr für globale Einigkeit und „Weltmanagement“ getan werden kann (auch übrigens auf dem Sektor Klima).
    2. Es ist richtig, daß Autokraten und Diktatoren schwer zu vertreiben sind. Sie kennen logischerweise nur schwarz oder weiß, nur sein oder nichtsein, und stützen sich auf „korrupte Eliten“ unter dem Verfahren einer Pseudodemokratie. Ganz überwiegend aber sind sie durch öffentliches Anprangern von außerhalb ihres Machtbereichs nicht vertreibbar, wie uns im letzten Jahr insbesondere das Beispiel Belarus mit seinen beeindruckenden aber wirkungslosen Demonstrationen gezeigt hat. Diktatoren vertreibt man nur durch wirtschaftliche Schwächung, die indirekt deren militärischen und polizeilichen Machtapparat untergräbt. Die Wende 1989/90 ist dafür herausragendes Beispiel.
    3. Eine Friedensordnung muß wehrhaft sein. Europa als einiges Haus muß eine militärisch starke Komponente besitzen, die in erster Linie seiner eigenen Verteidigung dient. Darüber hinaus aber muß diese Komponente auch glaubhafte und konkrete Abschreckung bereit halten gegen jene, die entweder „hausintern“ (wie jetzt in der Ukraine) oder auch von außen durch Überzeugung alleine nicht einzuhegen sind. Diplomatie ohne Stärke ist unwirksam und Stärke wiederum ist – wie alles in unserer Welt – nicht nur auf Idealen aufbaubar sondern muß auch projektionsfähige Druckmittel bereit halten.
    4. Und schließlich erfordert das „Haus Europa“ auch eine große Kompromißbereitschaft in Feldern, auf denen eigentlich Kompromisse weh tun, zB bei Menschenrechtsinterpretationen, Klimafragen und generell der Frage, wo und wie Demokratie (jedenfalls in unserem sehr weit gefaßten Sinne) überhaupt möglich ist. Länder wie Rußland oder China mit ihren riesigen Ausdehnungen und zahlreichen Ethnien sind nach meiner Überzeugung kaum demokratisch regierbar – die Einführung von Demokratie würde also einen Zerfall dieser Länder in mehrere selbständige Staaten bedeuten. Daß sich hieraus dann wieder neue Konflikte ergäben, erscheint mir ziemlich sicher. Einmal abgesehen davon, daß die Autokraten dieser Welt eine solche Entwicklung nicht wollen, ist wohl nicht so sicher, ob eine solche neue Ordnung wirklich „mehr Friedensordnung“ wäre.
    5 Und schließlich die „friedensstiftende Wirkung von Wirtschaftsbeziehungen“ : Man sieht gerade jetzt, daß diese dramatisch überschätzt wird. In der EU hat sie sich bewährt, obwohl es ja auch viel Kritik am deutschen Übergewicht und deutscher rücksichtsloser Durchsetzung eigener Interessen gibt. In den Beziehungen zu Rußland und China hat sie offensichtlich keinen Frieden gestiftet: Rußland setzt Hegemonie über Frieden und China nutzt den westlichen Glauben an diese Theorie zur Unterwanderung seiner Gegner (und wir sind „Gegner“ für China!) und zu erkennbarer Erpressung, die sich noch erheblich steigern läßt – und wie Abhängigkeiten Politik beeinflussen, sehen wir gerade. Bei wissenschaftlichem und kulturellem Austausch mag das anders sein (allerdings sind die Konfuzius-Institute sichtbar ein Mittel der strategischen Unterwanderung), aber man darf diesen in der Realpolitik eben nicht überschätzen.
    Es ist schön, daß die Ukraine sich in diesem ihr aufgezwungenen Krieg so großartig wehrt und den Diktator auf der anderen Seite sicherlich sehr hoffen läßt, daß er endlich etwas findet, daß er als „Erfolg“ verkaufen und die Kriegshandlungen also einstellen kann. Die Ukraine tut dies mit Waffen und ist dankbar, daß sie sie hat. Ich bin auch dankbar, daß unsere jetzige Regierung erkannt hat, wie unverzichtbar Waffen sind, wenn es um Freiheit und um Frieden geht. Das gemeinsame Haus Europa wird sie brauchen.
    Andreas Schwerdtfeger

    1. “ Länder wie Rußland oder China mit ihren riesigen Ausdehnungen und zahlreichen Ethnien sind nach meiner Überzeugung kaum demokratisch regierbar – die Einführung von Demokratie würde also einen Zerfall dieser Länder in mehrere selbständige Staaten bedeuten. Daß sich hieraus dann wieder neue Konflikte ergäben, erscheint mir ziemlich sicher. Einmal abgesehen davon, daß die Autokraten dieser Welt eine solche Entwicklung nicht wollen, ist wohl nicht so sicher, ob eine solche neue Ordnung wirklich „mehr Friedensordnung“ wäre.
      ===================================================================

      Ich habe meine Probleme damit, dass Sie, Herr Schwerdtfeger, einigen Staaten und ihren Bevölkerungen eine demokratische Entwicklung apodiktisch absprechen. Nehmen Sie Indien, das fast so viele Einwohner wie China hat und wo wahrlich keine Demokratie nach westlichen Maßstäben herrscht – aber es wenigstens ein Mindestmaß an Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit gibt. China ist zwar wirtschaftlich viel entwickelter, von Pressefreiheit oder unabhängiger Justiz aber weit entfernt. Und die Kommunistische Partei verfolgt einen expansiven Kurs, auch militärisch. Ich war 1997 kurz vor der Übergabe Hongkongs an die Chinesen dort. Die kleine Reiseleiterin war euphorisch, dass die Briten bald abzögen. Ich dachte mir, du wirst dich noch umgucken…
      Ich kann auch dieses Vorurteil nicht hören, dass die russische Mentalität Demokratie nicht zulässt, sondern immer nur einen Führerstaat will. Natürlich darf niemals diese amerikanische Arroganz vom Demokratieexport Platz greifen. Aber auch nicht das Gegenteil – als hätten wir Angst vor demokratischen Entwicklungen in anderen (auch sehr großen) Ländern.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert