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„Pacification“ oder pacem facere

Am vergangenen Sonntag war ich in Lidice – ein kleiner Ort im Bezirk Kladno, gut 20 Kilometer nord-westlich von Prag gelegen. Lidice sollte 1942 von der Landkarte getilgt werden. Das war die mörderische Absicht der Nazis – aus Rache für das Attentat auf Reinhard Heydrich am 27. Mai 1942. Heydrich war Leiter des Reichssicherheitshauptamts. Als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren war er für viele Gräueltaten in der Tschechoslowakei verantwortlich. Er leitete auch die Wannseekonferenz im Januar 1942, auf der die systematische Vernichtung der Juden, die sog. „Endlösung“, beschlossen wurde. In der amtlichen Mitteilung vom 10. Juni 1942 heißt es: „Nachdem die Einwohner dieses Dorfes durch ihre Tätigkeit und durch die Unterstützung der Mörder von SS-Obergruppenführer Heydrich gegen die erlassenen Gesetze schärfstens verstoßen haben, sind die männlichen Erwachsenen erschossen, die Frauen in ein Konzentrationslager überführt und die Kinder einer geeigneten Erziehung zugeführt worden. Die Gebäude des Ortes sind dem Erdboden gleichgemacht und der Name der Gemeinde ist ausgelöscht worden.“ Letzteres ist den Nazis allerdings nicht gelungen. Denn nach dem 2. Weltkrieg entstand unweit des alten Dorfkerns das neue Lidice. Darüber hinaus haben weltweit Orte den Namen Lidice übernommen. Heute steht Lidice stellvertretend für das verbrecherische Wüten der Nazis gegen die Zivilbevölkerung. Am 10. Juni 1942 wurden 173 Männer von den Nazis erschossen, 195 Frauen wurden, nachdem man sie von ihren Kindern getrennt hatte, in das KZ Ravensbrück deportiert.

Blick über die Gedenkstätte Lidice. Rechts ist ein Altartisch zu sehen. Er steht an der Stelle der Chorraums der zerstörten Dorfkirche.

Als ich am vergangenen Sonntag die eindrucksvolle Gedenkstätte Lidice besuchte, fand ich das Museum leider verschlossen vor. Es wird derzeit erneuert. Dafür waren unter den Arkaden der Anlage einige Schautafeln aufgestellt. Auf diesen wurde exemplarisch an das Schicksal von über 400 polnischen Dörfern während des nationalsozialistischen Terrors 1939ff erinnert. Die Beschreibungen sind in Tschechisch und Englisch. Immer wieder taucht das Wort „Pacification“ auf – ein Begriff, der das Vernichtungsverbrechen der Nazis, die Ausrottung ganzer Ortschaften, brutal verschleiert. Immer gingen die Nazis nach dem gleichen Muster vor: Unter dem Vorwand, einen Überfall auf deutsche Soldaten zu rächen, wurden Dörfer eingekreist, die Männer standrechtlich erschossen, die Frauen in Konzentrationslager deportiert und die Kinder in Heime gebracht. Viele von ihnen wurden dort ermordet.

Das erschütternde Altarbild in Lidice: Madonna ohne Kind, aber mit Leichentuch.

Erschüttert stand ich vor den Tafeln: „Pacification“ – Befriedung? Wer das Verbrechen zum Prinzip macht, vergewaltigt auch die Sprache. Natürlich dachte ich sofort an die ukrainische Ortschaft Butscha, inzwischen zum Synonym für die Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg geworden, und an die vielen Dörfer im Donbas, die jetzt von der russischen Armee überfallen, zerstört, entvölkert werden. Die russische Regierung spricht nicht von „Pacification“, aber von „Entnazifizierung“. Auch dieser Begriff dient nur dazu, denen, die die Verbrechen ausüben, das Gefühl zu vermitteln, sie beteiligten sich mit ihrem mörderischen Handeln an einer gerechten Sache. Irgendwann aber werden auch in diesen Ortschaften Gedenkstätten entstehen, die an das Verbrechen des Angriffskrieges im Jahr 2022 erinnern, die mahnen. Aber wird das etwas nutzen? Wird das weltweit die Menschen dazu veranlassen, sich dem nächsten Waffengang zu verweigern, weil es auch dann um nichts anderes gehen wird als um „Pacification“?

Derzeit werden viele Vergleiche gezogen zwischen dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und dem Vernichtungskrieg der Nazis u.a. gegen die Sowjetunion einschließlich der Ukraine, zwischen der Kriegführung der Alliierten und dem militärischen Widerstand der Ukraine. Die Vergleiche dienen vor allem dazu, Waffenlieferungen an die Ukraine als absolut notwendig zu kommunizieren. Der Aggressor Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen und keinen Vorteil aus seiner Aggression ziehen, wird argumentiert. Dafür ist in Europa und in den Vereinigten Staaten ein gigantisches Aufrüstungsprogramm in Gang gesetzt worden. Aber wird das dazu führen, dass diese Waffen eines Tages nicht dem Verbrechen dienen und Kriegsverbrechen in Zukunft nicht mehr ausgeübt werden?

„Nie wieder!“ hieß es nach dem 8. Mai 1945. Es dauerte aber nur drei Monate, da warfen die Amerikaner Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ab mit noch heute spürbaren verheerenden Folgen. 1950 brach der Korea-Krieg aus und es folgten weltweit annähernd 200 kriegerische Auseinandersetzungen mit ungeheuren Verbrechen. Großmächte wie die USA und die Sowjetunion haben sich ihren sog. „Vorhof“ durch kriegerische Übergriffe freigehalten. In Aggressionskriegen wurde immer wieder dem mörderischen Drehbuch von Lidice gefolgt: Man stilisiert Menschen zu Tätern, setzt sie rassistisch herab, vergleicht sie mit Ungeziefer, schiebt ihnen die Verantwortung für angebliche Verbrechen zu, versucht ihr Leben und Lebensumfeld auszulöschen. Für all diese Waffengänge gilt das, was die Initiative „Ohne Rüstung leben“ kürzlich erschreckend realistisch beschrieb: „Krieg macht Menschen zu Monstern. Er ist grausam, zerstörerisch und niemals gerecht. Krieg ist Folter, Vergewaltigung und Massaker; Unvernunft, Lüge und unkontrollierbares Chaos. Und er trifft immer jene am härtesten, die am wenigsten dafür können. Das galt in Nagasaki, Saigon und Sarajewo ebenso wie jetzt im Jemen, in Syrien und in der Ukraine. Was bleibt ist Entsetzen; Wut und Hilflosigkeit.“ (Ohne Rüstung leben, informationen 180/2022, S. 1).

Es ist eine himmelschreiende Tragik: Aus all den Kriegen und Verbrechen werden auf der politischen Ebene bis heute keine Lehren gezogen – jedenfalls keine, die dem umfassenden Verbrechen Krieg Einhalt gebieten würde. Wenn es anders wäre, müssten die Regierungen dieser Welt sehr viel ziviler auf militärische Aggressionen reagieren, als das jetzt der Fall ist. Noch immer lassen sie sich auf die Ebene vernichtender Gewalt ziehen. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: In keiner kriegerischen Handlung verbirgt sich ein emanzipatorischer, friedfertiger Effekt – auch 2022 nicht. Wer das glaubt oder Glauben machen will, der sitzt einem fatalen Irrtum auf. Wer Lidice und jetzt die Schreckensbilder aus dem Donbas betrachtet, der kann nur zu dem Schluss kommen: Wer solche Verbrechen verhindern will, kann sich nur dem Krieg und der Hochrüstung grundsätzlich verweigern. Was das politisch bedeutet, was uns das abverlangt, darüber müssen wir endlich offen debattieren – damit aus „Pacification“ pacem facere, Frieden machen, wird. Der Ukraine können noch so viele „schwere“ Waffen geliefert werden – es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass dies zu einem Erfolg gegen Russland führt. Eine Atommacht wie Russland lässt sich durch Krieg nicht „besiegen“. Darum müssen wir diese Ebene und damit die Ebene der Hochrüstung verlassen. Wenn überhaupt, dann lässt sich Putin-Russland nur durch radikale Sanktionen und durch massenhafte personale Präsens der politischen Entscheidungsträger*innen von Regierungen und Parlamenten im Kriegsgebiet bezwingen – bis Verhandlungen beginnen. Eine verrückte, naive, kindliche Vorstellung? Vielleicht, aber auf jeden Fall Erfolg versprechender, Leben erhaltender und Ressourcen schonender als das Füttern des Krieges durch Hochrüstung. Denn alles, was in diesem Krieg an Waffen nicht verbraucht wird, fördert die nächste militärische Intervention … eine Keimzelle für das nächste Lidice. Wollen wir das wirklich?

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P.S. Über dem christlichen Pfingstfest steht als Motto ein Wort aus dem Prophetenbuch Sacharja: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Die Bibel: Sacharja 4,6b) Auch das sollte wenigstens die Kirchen dazu veranlassen, die erschreckend bedenkenlose Einseitigkeit militärischer Konfliktlösungsansätze aufzugeben.

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