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„Nie wieder!“ – oder doch? Rede auf der Kundgebung am 9. Mai 2022

Am 9. Mai 2022 hatte die Stiftung Friedliche Revolution zu einer Kundgebung auf dem Nikolaikirchhof aufgerufen unter dem Motto „8. Mai, Tag der Befreiung vom Faschismus – 9. Mai, Tag der Mahnung und Solidarität“. Es gab vier sehr differenzierte Redebeiträge. Nachfolgend veröffentliche ich meinen.

„Nie wieder!“ – oder doch?

Viele von uns treibt es täglich um: das Entsetzen, Erschrecken, die Wut über diesen Krieg, über die unvorstellbaren und doch so sinnlosen Zerstörungen von Natur, Kirchen, Kulturgütern, über das elende Sterben und Leiden von unzähligen Frauen, Männern und Kindern. Sicher sind wir uns darin einig: Dieser Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine ist ein großes Verbrechen. Dieser Krieg ist auch nur deswegen möglich, weil Putin in zwei Jahrzehnten der russischen Gesellschaft ein faschistisch-autokratisches Korsett verpasst hat. Natürlich hoffe ich mit vielen anderen darauf, dass Putin und seine Vasallen keinen nachhaltigen Erfolg haben werden mit ihrer nationalistischen, militaristischen Gewaltpolitik nach innen und nach außen. Aber mit solchen Feststellungen ist der Krieg nicht beendet. Er wütet weiter. Niemand verfügt derzeit über die eine richtige Lösung, die eine verheißungsvolle Perspektive – auch die nicht, die ihr Handeln leiten lassen von der Option, Russland militärisch zu besiegen. Darum müssen wir weiter ringen um den Frieden in der Ukraine, um eine neue Friedensordnung für Europa, um eine vor Gott und den Menschen zu verantwortende Politik …

… auch an Gedenktagen wie diesen – 77 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom nationalsozialistischen Terror und nach dem Ende des von Deutschland begonnenen 2. Weltkriegs mit unvorstellbaren Verbrechen; aber auch mitten in einem aktuellen Angriffs- und Vernichtungskrieg, von Russland begonnen und in aller Brutalität gegen die Ukraine – und wie wir heute von Putin gehört haben – gegen Europa geführt. Hat sich damit das „Nie wieder!“ von 1945 erledigt? Ist damit alles gescheitert, was nach 1945 an Verständigung und Aussöhnung mit Frankreich, mit den Beneluxstaaten, mit Großbritannien, mit Polen und Tschechien, mit der Sowjetunion und später mit der Russischen Föderation, der Ukraine, Belarus, Georgien und Moldawien initiiert wurde? Nein! Auch heute, auch angesichts eines Krieges mitten in Europa, bleibt die Eindringlichkeit des „Nie wieder!“ so aktuell wie vor 77 Jahren: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Nationalismus! Nie wieder Diktatur! Nie wieder Völkermord! Nie mehr bei uns, nie mehr in Europa! Denn dieses „Nie wieder!“ sagt ja auch aus: Wir wissen, dass aus Kriegen nichts Gutes entstehen kann. Wir wissen, dass in Kriegen alles Menschliche unter den Soldatenstiefeln zertrampelt wird. Wir wissen, dass Kriege aus jedem Menschen, aus Freund und Feind, ein mordendes, plünderndes, vergewaltigendes Monster machen kann.

„Nie wieder!“ ist also mehr als ein Traditionsslogan für Gedenktage. „Nie wieder!“ ist die tägliche Mahnung an das Wissenkönnen und die tägliche Mahnung für die Demokratie, für die Freiheit und gegen den elenden, nationalistischen Autokratismus einzutreten, zu kämpfen – im eigenen Land, in Europa, weltweit. Darum möchte ich uns allen an diesem Tag zwei Dinge ans Herz legen:

  • Das „Nie wieder!“ hat seine Gültigkeit und Richtigkeit weder durch die über 200 kriegerischen Auseinandersetzungen, mit denen seit 1945 Mensch und Natur drangsaliert und unendliches Leid verursacht wurde, verloren noch durch den schrecklichen Angriffskrieg Putins. Dass jetzt Krieg geführt wird und wir in ihn involviert sind, darf kriegerische Gewalt nicht gesellschaftsfähig machen, darf uns nicht bedenkenlos in eine neue Spirale der Hochrüstung führen.
  • Die entscheidenden zivilisatorischen Fortschritte sind nicht durch kriegerische Gewalt erzeugt worden, sondern durch Menschen, Bürgerrechtsinitiativen, Bewegungen, die auf die Kraft der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und auch der Gewaltlosigkeit gesetzt haben.

Vor 33 Jahren ging von dieser Stelle der Ruf aus: „Keine Gewalt!“. Dieser Ruf schallte über den Nikolaikirchhof und über den Ring. Damals saßen die Menschen nicht im Ohrensessel. Sie waren umzingelt von einem martialischen Gewaltapparat. Jesus hat seine Bergpredigt inmitten der Wirklichkeit von Gewalt, Unterdrückung, Bürgerkrieg gehalten – und nicht in einer orientalischen Traumwelt von „Tausend und einer Nacht“. Die kirchliche Friedensethik ist nicht in einer Ponyhof-Atmosphäre westlicher Provenienz entwickelt worden, sondern im Angesicht der ungeheuren Schrecken des 2. Weltkrieges, der horrenden Zerstörungen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki nur drei Monate nach dem 8. Mai 1945 und all der Kriege, die seit 1945 geführt wurden – aber auch im Angesicht des Versagens gerade der evangelischen Kirche bis 1945. Bis dahin hatte die Kirche einem militaristischen Hurra-Patriotismus gehuldigt, in blasphemischer Verblendung Waffen gesegnet und überzeugte Pazifisten ans Messer geliefert. Darum muss uns die schreckliche Kriegsrhetorik des russisch-orthodoxen Patriarchaten Kyrill I. heute so empören und mahnen, niemals mehr zurückzufallen, Kriege und Militärische Gewalt in Gottes Namen zu rechtfertigen.

Wann begreifen wir endlich, dass Pazifismus nichts zu tun hat mit blauäugiger Tatenlosigkeit, mit Unterwerfung unter Gewaltherrschaft, mit der Sehnsucht, sich nicht die Finger schmutzig zu machen, nicht schuldig zu werden? Pazifismus ist ein Kampf um und auf Leben und Tod, aber mit dem einen Ziel: die eigenen Werte nicht durch Gewaltmaximierung zu beschädigen, sondern Leben zu erhalten. Pazifismus ist die aktive Strategie, mit dem geringst möglichen Aufwand an Gewalt das größtmögliche Ziel an Menschlichkeit, Würde, Frieden zu erreichen.

Noch einmal: Es geht nicht darum, sich einem Kriegsverbrecher Putin zu unterwerfen, willenlos auszuliefern. Niemals! Aber wir müssen alles tun, um die kriegerischen Handlungen, die Zerstörung des Menschlichen im Menschen, um die elende Aufrüstung einzudämmen. Denn eines haben die Kriege der vergangenen 77 Jahre gezeigt: Sie hinterlassen Wüsten der Zerstörung, auch in uns Menschen. Sie zertrümmern alle kulturellen Werte. Unsere Aufgabe aber ist, Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen, Feindschaften zu überwinden, neue Friedensordnungen auszuloten.

Für die politische Arbeit bedeutet dies: Selbst wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass aktuell die Ukraine militärisch ertüchtigt werden muss, um der russischen Aggression zu widerstehen, entbindet das niemanden von der Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Bombardieren, Morden, Vergewaltigen aufhören muss. Es verpflichtet uns, in und mit unserem Handeln Demokratie, Vielfalt, Meinungs- und Pressefreiheit, zu wahren, zu verteidigen und die Bedingungen dafür zu schaffen – bei uns, in Europa, in der Ukraine, in Russland.

Lösen wir uns bitte von einer irrigen Vorstellung: wir könnten Probleme dadurch lösen, indem wir sie vernichten. Diesem Irrtum saß schon Kain auf, als er seinen Bruder Abel erschlug (Die Bibel: 1. Mose 4). Das funktioniert im Kleinen nicht. Das ist auch keine Strategie in der großen Politik. Frieden ist nur möglich, wenn Kain und Abel sich gegenseitig respektieren. Lasst uns also dabeibleiben, was vor 77 Jahren ausgerufen wurde: „Nie wieder!“

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