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„Nichts ist gut in Afghanistan …“

In diesen Tagen wird sich manche*r an den einen Satz aus der Neujahrspredigt von Margot Käßmann in der Dresdner Frauenkirche am 1. Januar 2010 erinnern: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ (https://www.ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm) Damals war Käßmann noch Landesbischöfin und Vorsitzende des Rates der EKD. Ein Sturm der Entrüstung entlud sich über sie. Aber entsprang ihr Ausruf vor 11 Jahren nicht prophetischer Geistesgegenwart? Vor allem, wenn man sich die dem Ausruf folgenden Sätze der Predigt in Erinnerung ruft:

All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Das wissen die Menschen in Dresden besonders gut! Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas zynisch, ich meinte wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen. …

Wahrhaft prophetische Sätze – nicht weil das Erfolg gehabt hätte, was Käßmann damals forderte: „mehr Fantasie für den Frieden“. Vielmehr ist das eingetreten, wovor sie warnte: „Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan.“ Seit einigen Wochen werden Truppen der USA und der NATO aus Afghanistan abgezogen, darunter auch die Soldaten der Bundeswehr. Die Folgen sind dramatisch: Die Taliban, deren Gewalt-Herrschaft durch den von der UNO legitimierten Militäreinsatz „International Security Assistance Force (ISAF)“ 2001 gebrochen werden sollte, erobern in kürzester Zeit eine Provinzhauptstadt nach der anderen. Jetzt stehen sie – genau 20 Jahre nach ihrer Entmachtung – vor Kabul und werden auch die Hauptstadt Afghanistans einnehmen. Niemand kann genau vorhersagen, wie die politischen Folgen aussehen werden. Aber eines ist offensichtlich: All die Rechtfertigungen für die Beteiligung am Krieg in Afghanistan fallen nun wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“, sagte 2003 der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD). In seinen Erinnerungen ergänzte er:

Jeder, der leichthin davon spricht, dass die Bundeswehr sich schnellstens zurückziehen müsse, sollte wissen, dass dies genau das Ziel der Terroristen ist. Sie würden diesen Rückzug nicht als humanitären Erfolg für die Menschen in Afghanistan sehen, sondern als Sieg in einer Auseinandersetzung, die für sie ein Krieg sowohl gegen das afghanische Volk als auch gegen die westlichen Truppen ist. (Peter Struck, So läuft das. Politik mit Ecken und Kanten, Berlin 2011, S. 110 ff)

Doch wie hören sich diese Sätze zehn Jahre später an? Was ist aus der Behauptung geworden, dass durch die Anwesenheit der westlichen Truppen gesellschaftliche Veränderungen in Afghanistan ermöglicht werden sollten: Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen und Bildungseinrichtungen insbesondere für Frauen? Unbestritten ist, dass in vielen Ortschaften eine soziale Infrastruktur entstanden ist, Schulen gebaut wurden, der Benachteiligung von Mädchen und Frauen entgegengewirkt werden und ansatzweise so etwas wie eine offene Gesellschaft entstehen konnte. Doch was nicht gelungen ist: Lebensverhältnisse aufzubauen, die nicht angewiesen sind auf eine Dauerpräsens des Krieges. So bleibt am Schluss die bittere Erkenntnis, dass sich in Afghanistan die militärische Interventionspolitik selbst ad absurdum geführt hat: zu glauben, man könne mit einem riesigen Militärapparat eine Gesellschaft transformieren. Was vielleicht noch durch eine militärische Intervention gelingen mag: einen bewaffneten Konflikt/Bürgerkrieg zum Stillstand zu bringen, um so Bedingungen zu schaffen für zivilgesellschaftliche Veränderungen. Aber zu glauben, innerhalb eines jahrzehntelangen Krieges ein Staatswesen aufbauen zu können, dass die Menschenrechte zur Grundlage hat, ist eine gefährliche, vor allem sehr teure Illusion.

So steht zu befürchten, dass in wenigen Wochen in Afghanistan wieder die Verhältnisse herrschen, die 2001 zur militärischen Intervention geführt haben. Genau diese Gefahr hatte Margot Käßmann 2010 im Blick. Sie und viele andere aus der Friedensbewegung haben den Anspruch der USA und NATO-Staaten infrage gestellt, als sei eine Befriedung Afghanistans nur durch kriegerische Gewalt möglich. Denn unabhängig davon, wie ein bewaffneter Konflikt ausgeht – zwei Dinge bleiben: die Menschen vor Ort müssen auch nach einem Krieg in Frieden leben, existieren können; und: zu diesen Menschen gehören auch diejenigen, gegen die der Krieg geführt wurde. Denn Frieden bedeutet: auch mein Feind lebt. Dafür ist aber die Fantasie nötig, die Margot Käßmann 2010 eingeklagt hat – und zwar nicht am Ende eines Kriegs, sondern zu Beginn eines drohenden militärischen Konfliktes, um diesen zu vermeiden und mögliche Gewalt zu minimieren. Darum: Nicht der Abzug der Truppen aus Afghanistan ist der Fehler, sondern der Beginn des Waffengangs am Hindukusch ohne Friedensperspektive war der große Irrtum. Die dramatische Frage bleibt: Wer übernimmt nun Verantwortung dafür, dass sich Afghanistan jenseits von Terror und Krieg entwickeln kann?

16 Antworten

  1. „Er wisse nicht, wie man es hätte schaffen können, den Abzug angesichts dieser Lage „ohne Chaos“ zu meistern, sagte Biden am Mittwoch in einem Interview des Fernsehsenders ABC.“ – FAZ

    Da hieß es immer, Biden verfüge über eine jahrzehntelange außenpolitische Erfahrung.

  2. Lieber M. Käfer – ja, was tun mit diesem Herrn aus der Ferne (ich meine nicht lokal, sondern geistig und überhaupt)?
    Man lese sehr genau und man stellt permanent und immer wieder fest: elendiger Narzissmus, unzählige Theorien und KEINERLEI konstruktive Angebote oder wenigsten ansatzweise Lösungsvorschläge. Damit ist nichts, aber auch gar nichts veränderbar und offenbart permanente Ohnmacht, gepaart mit widerlicher, rhetorischer Waffenrasselei.
    Frieden ist damit niemals möglich!!!
    Wir allesamt verfügen über subjektive Wahrnehmungen von den uns umgebenden Realitäten, irren ganz gewiss auch mal an der einen oder anderen Stelle unserer Analysen, weil eben unsere Sichtweisen von unterschiedlichen Kenntnissen und Erfahrungen ausgehen. Aber wir sind bemüht, die Dinge an uns ran zu lassen, sie sachlich und aufmerksam zu bewerten, um daraus dann unsere Schlüsse zu ziehen mit dem Willen, ggf. aktiv zu werden – Möglichkeiten dazu gibt es.
    Eines allerdings pflegen wir: Den Respekt und den souveränen Willen, die Ansichten des Anderen mindestens genauer zu betrachten, niemals aber zu diffamieren.
    Nicht nur Ihnen machen diese erschütternden Ergüsse von IHM zu schaffen. Aber ich bitte Sie sehr, Herr Käfer: Weit wichtigere und kluge Andere Kommentatoren in diesem Wolff-Blog sind gut, auch kritisch, meistens nachdenkenswert und konstruktiv – daran sollten Sie sich halten: Alles andere ist destruktiv und nicht erfreulich, was da verbal „produziert“ wird.
    Behalten Sie Ihren Mut und vor allem herzliche Grüße – Ihr Jo.Flade

  3. Ich frage mich:
    Soll man rüpelhaftes Argumentieren/Benehmen verurteilen oder doch besser schweigen, um Eskalationsstufen zu verhindern?
    Soll man offensichtliche Falschaussagen korrigieren oder schenkt man ihnen dadurch nur ungerechtfertigte Aufmerksamkeit?
    Steigt die Zahl der „Unkundigen und Ideologen“ wirklich deshalb sprunghaft, weil kluge Köpfe jetzt Aspekte des Militär-Einsatzes in Afghanistan kritisch hinterfragen?
    Haben wir in unserem Land nicht erst vor knapp 90 Jahren erlebt, wohin es führen kann, wenn die Verteidigung der eigenen Interessen und der vermeintlich eigenen Sicherheit Militär-Einsätze rechtfertigen sollen?
    Kann man dann heute den Wunsch nach mehr Phantasie für den Frieden schon wieder derart infam diskreditieren?
    Ist es nicht entlarvend, wenn knapp 6 Wochen vor einer entscheidenden Wahl behauptet wird, sozialdemokratische Außenminister hätten den Unterschied zwischen politischer und militärischer Strategieebene nie begriffen und Außenpolitik immer nur nach innenpolitischen und wahltaktischen Aspekten betrieben?
    Soll man sich überhaupt immer wieder mit den gleichen (allenfalls mit kleinen Variationen vorgetragenen) Schmähungen auseinandersetzen?

    Ende und Bilanz des „Bündnisfalls“ Afghanistan sind ernüchternd, beschämend, katastrophal…. Erreicht wurde allenfalls, Rückzugsgebiete für Terroristen einzuschränken – aber um welchen Preis????
    Wir brauchen dringend eine selbstkritische Fehleranalyse (nicht nur) des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, um unser Selbstverständnis als eine der führenden Nationen in der globalen Politik, Wirtschaft und der Verteidigung elementarer Menschenrechte aufrecht zu erhalten.

  4. Immer wieder verwundert die selbstgerechte Rechtschaffenheit, in diesem Fall noch zusätzlich das durchdringende Triumphgeschrei, die durch solche Beiträge schimmern. Fast könnte man glauben, daß das jetzt eintretende Unglück bestimmte Leute befriedigt, weil es ihnen wichtiger ist, Recht gehabt zu haben, als daß ein positives Ende zu vermelden wäre. Aber das will ich nicht unterstellen – es wäre eine Beleidigung und unentschuldigte Beleidigungen kann sich, wie die Erfahrung zeigt, nur der Herr des Blogs leisten. Kommen wir also zu unserer prophetischen Bischöfin.
    Was Käßmann vorzuwerfen war – und das haben ihre Kritiker immer deutlich gemacht – war nicht ihre Friedenssehnsucht, die wir ja alle teilen. Es waren Sätze wie der hier zitierte: „Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.“ Es sind eben solche infamen Sätze, die die hohe moralische Warte repräsentieren, die Verantwortung auf andere abschieben und die eigene weiße Weste hervorheben und die gleichzeitig insofern Nullsätze sind, als sie keinen einzigen Lösungsansatz aufzeigen, nichts zur Wende zum Besseren beitragen und gleichzeitig die Verantwortung für die reale Lösung dort abladen, wo ihre Erfinder sie gerne sehen – bei den anderen, die bitte schön die Drecksarbeit machen sollen und auf die man hinterher einschlagen kann. Das war Käßmann und ihr Satz und ihre Predigt enthält eigentlich nichts Prophetisches, spiegelt aber die Unkenntnis der Lage und die Unfähigkeit und Unwilligkeit zu eigenen Lösungsbeiträgen. Ich habe damals Herrn Wolff geschrieben, daß Streitkräfte als Instrument der politischen Entscheidungsträger es gerne sähen, wenn statt ihrer evangelische Pastoren mit der Bergpredigt die Taliban und Co von Frieden und Menschenrechten überzeugen könnten – er hat wohlweislich nie geantwortet.
    Die NATO hat in AFG eingegriffen, weil sie als ganze am 11. Sept. 2001 angegriffen wurde. Das war politischer Konsens (gerade gestern noch einmal vom damaligen AM Fischer bestätigt). Daß die NATO und damit auch Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird, bestreiten nur Unkundige: In einer globalen Welt ist Verteidigung der eigenen Interessen und der eigenen Sicherheit selbstverständlich eine globalen Herausforderung. Alleine die deutsche Abhängigkeit vom Export begründet dies und daß Offenheit maritimer Verbindungs- und allgemeiner Handelsrouten wesentliches Merkmal von Sicherheit ist, bestreiten nur Unkundige oder Ideologen.
    Die NATO und ihre Verbündeten, einschl Deutschland, haben politische Fehler gemacht. Sie haben ein militärisches Ziel ausgegeben – Verhinderung weiteren Terrorismus‘ aus diesem Raum – und dieses Ziel mag erreicht worden sein. Sie haben aber aus innenpolitischen Gründen zusätzlich politisch-kulturelle Ziele aufgegeben, die erstens von Streitkräften nicht erreicht werden können und die zweitens nach den Kriterien Zeit, Raum und Ressourcen auch nicht einmal politisch erreichbar waren. Sie haben, in anderen Worten, sich nicht getraut, realistische Ziele zu formulieren und Defizite im Lande zu akzeptieren, die auch in die Bereiche Menschenwürde und -rechte gingen.
    Den Puristen im Westen – man sieht es hier im Blog – gelten nur 100% oder gar nicht, ablesbar an dem Satz „Menschenrechte seien nicht verhandelbar“, wo nur die eigene Interpretation derselben als Maßstab gilt und keine andere Tradition, Geschichte, Entwicklung Gnade findet.
    Kurz vor der Invasion AFGs 2001 hatten die Taliban schwere Menschenrechtsverletzungen, Entführungen (auch von Nonnen, übrigens – aber das ist ja die andere Fakultät, erregte aber immerhin die deutsche Öffentlichkeit besonders), Zerstörung von Kulturgütern, etc begangen. Und wie immer eiferten unsere Puristen, man müsse doch „was“ tun – das ist Käßmanns „Phantasie“. Und wie gut läßt sich dann hinterher sagen, man hätte schon was tun müssen, aber eben nicht das.
    Der Westen hat versucht, in der kurzen Zeit einer Generation in AFG Freiheiten und Chancen westlichen Zuschnitts zu institutionalisieren. Daß dies militärisch abgesichert werden mußte – abgesichert, nicht erreicht – ist offensichtlich. Daß dies eine politisch-kulturelle Aufgabe war und ist, in der Streitkräfte nur die Zeit und die äußere Sicherheit, nicht aber den Inhalt bereitstellen können, war auch klar. Aber wenn man ein Parlament hat, das einmal jährlich eine große Debatte führt und dann das Thema vergißt, wenn man eine Regierung hat, die unter sozialdemokratischen Außenministern (einmal auch einen Liberalen) den Unterschied zwischen der politischen und der militärischen Strategieebene nicht begreifen und zudem das ganze Problem nur unter innenpolitischen und wahltaktischen Aspekten sehen, dann kann so etwas nicht gelingen.
    Und insofern, lieber Herr Wolff, sind sie aus Versehen durchaus zu richtigen Erkenntnissen gekommen: Es war zwar keine militärische Intervention sondern eine politische, aber die Rolle und Möglichkeiten der Streikräfte wurden politisch nicht begriffen und auch jeweils nach der Parlamentsdebatte schnell vergessen. Es war in der Tat für ein solches politisches Ziel ein zu kurzer Zeitraum, aber die Politik hat ja auch nach Wahlterminen im Inland und nicht nach den Bedürfnissen der Zielsetzung entschieden. Der große Irrtum war nicht der Beginn ohne Friedensperspektive, sondern der Beginn ohne strategisches Konzept – und die aufgrund des innenpolitischen Drucks gefundene abwegigen, wechselnden Begründungen für das Engagement, um die Käßmanns dieser Welt zufriedenzustellen.
    Und der Satz „Frieden bedeutet: auch mein Feind lebt“ wird Ihnen, so fürchte ich, noch um die Ohren fliegen. Schon jetzt werden die Frauen wieder unterdrückt und die Klugen erschossen – bald wird es wieder eine Käßmann geben, die Sie wärmstens unterstützen, und die Phantasie fordert, ein tolles Mittel gegen Gewalt.

    1. Ich will es bei einer Anmerkung bewenden lassen. Mein Satz „Frieden bedeutet …“ wird mir nicht um die Ohren fliegen. Er ist eine ständige Herausforderung, auch Provokation, der wir uns alle stellen müssen. Ich könnte auch sagen: Frieden bedeutet, dass Kain und Abel mit ihrer Rivalität und Feindschaft leben lernen müssen. Problemlösung durch Problemvernichtung funktioniert langfristig eben nicht.

    2. Herr Schwerdtfeger, Sie werfen den „Käßmanns dieser Welt“ vor, sich moralisch über diejenigen zu erheben, die die „Drecksarbeit“ (Drohnenmorde, nächtliche Kommandooperationen gegen Zivilisten, Bombardierung von Dörfern, Schändung Gefallener usw.) zugunsten einer Sache erledigen, die an anderer Stelle von den „Käßmanns“ vehement eingefordert wird. Also z. B. die Voraussetzungen dafür zu schaffen, „einer Generation in AFG Freiheiten und Chancen westlichen Zuschnitts zu institutionalisieren“. Hier auf dem Blog wurde argumentiert, dass „Drecksarbeit“, d. h. mit Gewalt von außen Demokratie etablieren, grundsätzlich nicht erfolgversprechend ist und zu keinen „realen Lösungen“ führt. Empirische Belege dafür gibt es zuhauf (Die Rolle der Taliban heute ist kaum ohne die Zerschlagung des sowjetisch unterstützten afghanische Zentralstaats in den 1980ger Jahren zu verstehen). Leider gehen Sie darauf nicht ein.

      Dem Satz von Margot Käßmann, „Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.“, ist voll zuzustimmen. Der Vorwurf, „keinen einzigen Lösungsansatz auf(zu)zeigen, nichts zur Wende zum Besseren bei(zu)tragen“, ist dagegen billig. Bemerkenswert ist doch, dass eine ernsthafte Diskussion niemals stattgefunden hat, wie mit zivilen Mitteln Despoten vom Schlage eines Muammar al-Gaddafi, Saddam Hussein oder Baschar al-Assad neutralisiert werden könnten. Seinerzeit hatten die von Franz Josef Strauß herbeigeschafften zwei Milliarden DM für die DDR immerhin bewirkt, dass die Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenzen abgebaut wurden. Was hätte sich nicht alles mit den Milliarden regeln lassen, die für die Kriege in Libyen, Irak, Syrien und eben auch Afghanistan ausgegeben worden sind? Meines Erachtens wird die Frage deshalb nicht diskutiert, weil es in den meisten Fällen letztendlich um Macht und Einfluss in den Krisenländern geht, sei es, um den Zugriff zu Rohstoffen zu gewährleisten, Transitwege abzusichern (z. B. für Ölpipelines) oder strategische Rivalen wie Russland und China auszubremsen bzw. zu destabilisieren. Und dafür ist eben jede Militärintervention recht. Das Wohl der Menschen steht dabei nicht wirklich im Vordergrund.

  5. Die Beiträge von heute treffen den „Nagel auf den Kopf“. Beginnen wir beim finanziellen Aufwand. Mit 12,5 Mrd. € (J. Flade) beziffert die Bundesregierung die einsatzbedingten Zusatzkosten (bpb, 7.6.21), also nur die Mehrkosten für Material. Die gesamten militärischen Einsatzkosten sind mit 47 Mrd. € (WELT, 26.5.20, ZDF,23.05.20) wohl noch vorsichtig beziffert. Das Pentagon nennt Einsatzkosten der US-Armee von 825 Mrd. USD (8.7.21) und 83 Mrd. USD für Ausrüstung und Ausbildung der afghanischen Armee.
    Zum Vergleich: Das BIP Afghanistan lag bei 6 Mrd. USD (2005), aktuell werden 20 Mrd. USD genannt (WKO Länderprofil Aug 21).
    Preisbereinigt kann man in etwa annehmen, dass das BIP bei Beginn des Einsatzes bei ca, 1/4 -1/3 des heutigen Niveaus lag. Die Mehrheit der Bevölkerung (67% leben von der Landwirtschaft) hat vom „Wachstum“ eher nichts abbekommen, aber die Kriegsfolgen zu tragen. Vorgeführt bekommen wir gern die wenigen reich gewordenen im Inland, die Gewinner des Wachstums im reichen Westen werden nicht gern gezeigt. Die Weltmarkintegration nach westlichem Gusto führt zu nominalem Wachstum, mehr Ungleichheit und Kapitalabfluss. Auf den Feldern der Bauern, in den Werkstätten der Handwerker landet eher nichts, sie verlieren oft noch ihre Existenz durch subventionierte Billigimporte. Wer sich wundert, dass die bestens ausgestattete und personell hoch überlegene afghanische Armee in wenigen Tagen die Waffen niederlegt, hat nur nicht hinsehen wollen.
    Nichts ist gut, der Westen hat fertig, nicht nur in Afghanistan. Leider lebt aber die „sehr teure Illusion“ fort, der Westen könne durch Weltmarktintegration, also die endgültige Unterwerfung der Völker dieser Welt unter die Gesetze entgrenzter Märkte, nicht nur gute Geschäfte machen und sich die für seine Verschwendungswirtschaft benötigten Rohstoffe sichern, sondern diese Unterwerfung auch noch als Demokratie verkaufen.
    Militärinterventionen bringen Krieg. Sonst nichts, wie Herr Lerchner bestens belegt hat. Schon gar keine Zustimmung der bekriegten Bevölkerung. Nicht nur, weil ohne Frieden ist alles nichts ist.
    Die Antwort auf Christian Wolffs letzte Frage, wer nun die Verantwortung übernimmt, ist unbequem. Vereinfacht lautet sie: China, die „Weltmacht ohne missionarisches Bedürfnis nach Universalisierung ihrer Gesellschaftsordnung“ (Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie, 492).
    Nicht nur in den USA glaubt man, auch dafür gäbe es eine militärische Lösung. Herr Lerchner hat auch hier den Nagel auf den Kopf getroffen.

  6. Lieber Herr Lerchner –
    D´accord für Ihre Kommentierung!
    Und dieses absolute Desaster mit diesen erschütternden, katastrophalen Bildern von Jetzt, ein totales Versagen der westlichen Allianz, das völlige Daneben der realen Situationseinschätzung in einem Land, was historisch, kulturell, politisch, militärisch und landestypisch von dieser westlichen Denkweise weit, weit entfernt ist – diese himmelschreiende Katastrophe, die auch eine Frau Käsmann mit ihren Möglichkeiten und Gaben nicht verhindert hat und kaum verhindern konnte, wird vermutlich geostrategisch, geopolitisch enorme Auswirkungen zeitigen, von denen wir heute keine Vorstellung haben.
    Stellt der bescheidene Kanzler-Ambitionist A. Laschet angesichts des völligen Zusammenbruchs Afghanistans in militärischer, politischer und infrastruktureller Hinsicht fest, ein 2015 darf sich nicht wiederholen (er meint wohl Frau Dr. Merkels: Wir schaffen das), dann offenbart auch diese seine Geisteshaltung eine armselige Denkweise mit fataler Ignoranz detaillierter Kenntnisse, über die er nicht zu verfügen scheint.
    Die Unsummen, die in den letzten 20 Jahren via Afghanistan geflossen sind, wie jetzt klar wird nur für eine Momentaufnahme einer wie sich jetzt zeigt nur temporärer wohltuender Verschnaufpause für fortschrittlich denkende Afghanen und Afghaninnen in den Bereichen Politik, Bildung, Kultur, Kunst, Medien, Religion…zerfließen gerade für jeden genau Hinsehenden im Nichts. Hoffnungen zerschellen, die Gelder (allein für den militärischen Einsatz 12,5 Milliarden) für eine politische Neuordnung nach westlichen Vorstellungen verschwanden in finstersten Kanälen, und der Regierungschef flieht, lässt alles hinter sich und es graust einen in der nur wagen Vorstellung, was wohl ab heute dort am Hindukusch passieren wird.
    Dass Frau AKK, Verteidigungsministerin, noch vor Tagen während eines Interviews im DLF sagen konnte, dass es zu einem geordneten Rückzug unter allen Sicherheitsvorkehrungen sowohl für deutsche Einsatzkräfte wie eben auch für all diejenigen geben wird, die für DEU arbeiteten, dokumentiert angesichts weniger Tage späterer Ereignisse, wie alle Welt sie jetzt sehen muss, eine absolute Fehleinschätzung dieser unserer Regierung. Und dies alles wenige Wochen vor der Bundestagswahl.
    Auch FDP-Enthusiasten fordern politische Aufklärung für diese jahrelangen Unsäglichkeiten und die AfD bekommt auf dem Silbertablett „beste“ Nahrung für elendige Debatten und Wahlkamäpfe serviert.
    All das wird nicht kalkulierbare Auswirkungen haben und Diskussionen provozieren, die ungemütlich werden dürften!
    Oh, oh, oh – hier wird es den einen und die andere nachts um den Schlaf bringen.
    Jetzt können wir allesamt nur hoffen, dass die Würde und das Leben aller dort in Afghanistan unantastbar bleiben und keine weiteren Tragödien geschehen.
    Ich grüße Sie nach Leipzig.

    1. Noch eine kleine Ergänzung: Heute morgen konterte die Abgeordnete des Europäischen Parlaments Özlam Demirel (DIE LINKE) den nicht nur von Armin Laschet kolportierten Satz „Ein 2015 darf sich nicht wiederholen“ mit der trefflichen Feststellung: „Ein 2001 (Beginn der militärischen Intervention in Afghanistan) bzw. 2011 (Syrien-Krieg) darf sich nicht wiederholen.“ Wie recht sie damit hat! Wir müssen endlich wieder friedenspolitisch darüber debattieren, welchen Beitrag die EU leisten kann, damit sich ein Land wie Afghanistan jenseits von religiösem Fundamentalismus, Korruption und privatisierter Gewalt (Erhard Eppler) entwickeln kann. Klar ist, dass ein solcher Beitrag nur mit den Menschen vor Ort entwickelt werden kann. Christian Wolff

      1. Ihr letzter Satz klingt ziemlich naiv. In Afghanistan haben die Deutschen mit offiziellen Organisationen ebenso wie mit Nichtregierungsorganisationen Brunnen, Schulen etc. gebaut, Polizei und Soldaten wie Lehrerinnen ausgebildet. Dies war nur unter dem militärischen Schutz der NATO möglich. Sobald dieser abgezogen wurde, implodierte dieser (korrupte) Staat.
        .

        1. Was nützen die besten Initiativen und Projekte, die von außen kommen, wenn die Menschen vor Ort sie nicht mit entwickeln und als ihre Sache betrachten? Militärisch kann so etwas nur sehr bedingt abgesichert werden. Insofern ist die Implosion nicht Folge des Abzugs der westlichen Truppen, sondern Folge davon, dass offensichtlich ein großer Teil der afghanischen Gesellschaft das westliche Lebensmodell nur sehr sporadisch als überzeugend angesehen hat. Darin liegt die Fehleinschätzung des Westens – abgesehen von allen geo- und machtpolitischen Konstellationen. Christian Wolff

          1. Sie haben recht. Hinzu kommt noch die weitverbreitete Korruption. Die Soldaten sollen nur sporadisch ihren Sold erhalten haben. Da ist die fehlende Kampfmoral nicht verwunderlich.
            Es waren noch 2.500 amerikanische Soldaten in Afghanistan; Terroranschläge sollen sich kaum noch ereignet haben. Eine weitere Präsenz der Truppen wäre ohne weiteres vertretbar gewesen – nur eben innenpolitisch in den USA nicht. Es war schon ein Fehler, dass der frühere US-Präsident Trump mit den Taliban über einen konkreten Abzugstermin seiner Truppen verhandelt hat.

  7. Es ist gut, im Zusammenhang mit dem Fall Kabuls an die damaligen Worte von Margot Käßmann zu erinnern. Die Ereignisse in Afghanistan bestätigen ein weiteres Mal, dass die Erfolgsaussichten für einen demokratischen Interventionismus, das heißt die Etablierung einer demokratischen Ordnung in einem Land durch externe Gewalt, nahe null sind. Die Analyse von rund einhundert externen Umsturzversuchen seit den Napoleonischen Kriegen hat gezeigt, dass es bei einem militärisch erzwungenen Regimewechsel weniger auf die Macht des Intervenierenden als auf die Voraussetzungen im Zielland ankommt: Relative Homogenität seiner Bevölkerung, keine tiefen ethnischen oder religiösen Konflikte, Grad der Urbanisierung, hinreichend funktionierende Verwaltung, historische Erfahrung mit demokratischen Institutionen, ökonomischer Wohlstand der Mehrheit der Gesellschaft (Reinhard Merkel, FAZ-Net 02.08.2013), Voraussetzungen, die in Deutschland nach der Zerschlagung des Nazi-Regimes durch die Alliierten sicherlich gegeben waren, aber kaum in Ländern wie Afghanistan oder auch Syrien heute.

    Da das alles als bekannt vorausgesetzt werden kann, liegt die Frage nahe, inwieweit die Errichtung einer demokratischen Ordnung in Afghanistan nicht nur Vorwand war, um geopolitische Ziele durchzusetzen. Wie wenig es um Menschenleben und um die Durchsetzung „westlicher Werte“ ging, zeigt der abrupte, nicht mit den Verbündeten abgestimmte Abzug der US-Truppen aus diesem Land. Wer es noch nicht begriffen hat, könnte spätestens jetzt erkennen, dass es nationale Interessen sind, die das Handeln der USA vorrangig bestimmen. Im vorliegenden Fall, unnötigen Ballast abzuwerfen und die Kräfte auf eine Auseinandersetzung mit dem strategischen Rivalen China zu konzentrieren.

  8. „Nicht der Abzug der Truppen aus Afghanistan ist der Fehler, sondern der Beginn des Waffengangs am Hindukusch ohne Friedensperspektive war der große Irrtum.“
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    Al-Qaida war für die Terroranschläge am 11. September 2001 verantwortlich. Ihr Füher, Osama Bin Laden, operierte von Afghanistan aus. Die Vereinten Nationen ermächtigten die USA und ihre Verbündeten, dort militärisch zu intervenieren. Dieser Teil der Operation war erfolgreich. Wie man heute sieht, sind die Milliardeninvestitionen in Bildung, Sicherheit etc. und die Opfer der gefallenen und verwundeten Soldaten umsonst gewesen.Zuletzt hatten die USA noch 2.500 Soldaten in Afghanistan. Durch den überstürzten Abzug, den US-Präsident Biden zu verantworten hat, waren auch die Verbündeten wie auch die Bundeswehr zum sofortigen Abzug gezwungen.
    Man hätte nach Zerschlagung von Al-Qaida die Truppen abziehen sollen und die weitere Terrorbekämpfung mit Luftschlägen sichern sollen – so wie es jetzt geplant ist.
    Ich würde nicht sagen, dass die USA und ihre Verbündeten keine Friedensperspektive für Afghanistan gehabt hätten. Sie haben auch durchaus Fortschritte bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft zumindest in einem Teil des Landes erzielt. Sie haben allerdings die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens angesichts der Strukturen in diesem Land nicht gesehen. „Die Taliban“ gibt es nicht. Man hat noch nie von einem Führer gehört, sondern es bestimmen Warlords über Teile des Territoriums. Daher gab es auch keine kompetenten Verhandlungspartner für die Amerikaner.

  9. An zwei Stellen würde ich den schönen Kommentar etwas deutlicher formuliert sehen.

    1) „Die Taliban, deren Gewalt-Herrschaft durch den von der UNO legitimierten Militäreinsatz „International Security Assistance Force (ISAF)“ 2001 gebrochen werden sollte, erobern in kürzester Zeit eine Provinzhauptstadt nach der anderen.“
    Es scheint nicht so zu sein, dass es sich um eine „Eroberung“ im Kampf gehandelt hat.
    Nein, mit den staatlichen Streitkräfte wurde je regional verhandelt. Und ganz rational kamen diese Streitkräfte zu der Meinung, dass die Sache entschieden sei, Kampf nicht mehr stattzufinden habe. Das ist sehr rational.
    2) Mir scheint, eine gesonderte Evaluierung der letzten 10 Jahre seit Übergabe der Verantwortung an die Afghanische National Armee (ANA) ist angesagt – angesichts dessen, dass die ANA ihre von den westlichen Alliierten erhaltenen Waffenbestände sämtlich an die Taliban übergeben hat, Da haben wir ein konzeptionelles Versagen von „Militärhilfe“ und „Militärausbildung“ ehrlich zu konstatieren und Lehren draus zu ziehen. Im Ergebnis ist nun so, dass der Westen die Taliban, den Feind, militärisch modern ausgerüstet hat. Das ist mit „Feindesliebe“ vermutlich nicht gemeint.

  10. es lohnt sich, in Erinnerung zu rufen, daß M.K.unter dem Eindruck des “ shitstorms“ auf ihre Predigt, einer Einladung des GI der Bundeswehr ins Verteidigungsministerium folgte und dort in bisher nicht veröffentlichten Gesprächen ihre Predigtworte offensichtlich so“ interpretierte“, daß sie von der Bundeswehr und der Verteidigungspolitik als „kompatibel“ mit dem Einsatz der Bundeswehr“ in A. interpretiert werden konnten“, Es blieb also wenig übrig von der mutigen Predigt in Dresden. karl-wilhelm,lange @t-online.de

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