Als Sozialdemokrat kann man sich nur schämen für das, was sich jenseits der politischen Auseinandersetzungen um einen Koalitionsvertrag in der Führungsetage der SPD abgespielt hat. Doch dieses Schmierentheater währt schon viel länger und darum viel zu lange. Schon die Ouvertüre war peinlich genug. Über ein Interview (!) im STERN gab Sigmar Gabriel Ende Januar 2017 bekannt, dass er als Kanzlerkandidat nicht zur Verfügung steht und dass er auch den Parteivorsitz an Martin Schulz abgeben will. Das normale Partei-Mitglied hat dies damals als Befreiungsschlag empfunden: endlich Klarheit, endlich ein Neuanfang. Bis zum Parteitag im März 2017 hielt dieses Gefühl an und wurde durch viele Eintritte und steigende Umfragewerte für die SPD bestätigt. Doch dann trat etwas ein, vor dem sicher nicht nur ich noch heute fassungslos stehe: ein faktisches Abtauchen des Kanzlerkandidaten Schulz bis zum Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai 2017. Kein Programm, keine Vision. Lediglich die Wahlniederlagen durfte er kommentieren. Wer das zugelassen oder gar befördert hat? Entweder hat man (aber wer ist „man“?) schon damals Martin Schulz bewusst ins Leere laufen lassen, oder aber es war Ausdruck politischer Unfähigkeit des Kandidaten und des Parteiapparates. Wie dem auch sei: Es wurde offenbar, wie verheerend der Gesamtzustand des Willy-Brandt-Hauses geworden ist nach acht Jahren konturloser, sprunghafter Politik ohne Fundament und Substanz. Das erklärt auch, warum es 2015/16 nicht eine grundlegende, richtungsweisende, aufrüttelnde Rede/Ansprache eines/einer führenden Sozialdemokraten/in zum Thema Flucht, Integration und Umgang mit dem aufkommenden Rechtsradikalismus gab.
Jedoch: Zu jeder Entwicklung gehören zwei – einer, der sie betreibt, und einer, der das alles mit sich machen lässt. Klar ist: Spätestens nach dem 24. September 2017 wurde offenbar, dass Schulz der Aufgabe und den Herausforderungen nicht gewachsen ist. Er hat es nicht vermocht, für sich eine strategische und inhaltliche Machtposition in der SPD aufzubauen. Das ist seine Schwäche. Schließlich vereinsamte er als Getriebener. Sein Anstand hat ihn dann noch die Koalitionsverhandlungen führen lassen – durchaus erfolgreich. Jetzt stehen wir vor einer absurden Situation: ein erstaunlich sozialdemokratisch geprägter Koalitionsvertrag und eine unter dem Parteivorsitz von Martin Schulz innerhalb eines Jahres um über 10 Prozent an Mitgliedern gewachsene SPD. Gleichzeitig wird der, der wesentlich für den erbärmlichen Zustand der Parteizentrale verantwortlich ist, Sigmar Gabriel, plötzlich mit medialen Sympathiebekundungen überschüttet: glänzender Außenminister, beliebter Politiker. Aus dem Shootingstar Schulz ist eine tragische Figur, aus dem Opportunisten und gekränkten Gabriel ist einer geworden, der tatsächlich noch einmal seine Chance wittert und sich darum als Opfer inszeniert. Einsicht möge ihn eines Besseren belehren.
Nun aber die entscheidende Frage: Was steht eigentlich hinter dieser, nicht nur für die SPD katastrophalen Entwicklung? Ein Politikbetrieb, dem etwas Wesentliches abhandengekommen ist: das Fundament, von dem aus abseits aller Opportunität Politik betrieben wird. Die Folgen sind offensichtlich: Nicht die Programme, auch nicht die nächsten Wahlen bestimmen die Politik – es ist der gerade geschriebene Kommentar, das gerade veröffentlichte Umfrageergebnis, der gerade losgetretene Shitstorm im Netz, die Likes und Clicks. Diese Kurzatmigkeit und 280-Zeichen-Sprache machen aus Politiker/innen Eintagsfliegen und aus ihren Botschaften Belanglosigkeiten ohne Haltbarkeitswert. Die weitere Folge: Lappalien und Befindlichkeiten werden plötzlich wichtiger als Grundwerte. Da verblasst völlig, dass unter Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel der Kriegstreiber Nummer 1, die Rüstungsproduktion und –exporte, seit 2013 so stark angewachsen sind wie lange nicht. Aber die Aussage von Martin Schulz „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten“ wird zum Bekenntnis hochstilisiert und gerät zum Totschlagargument. Da sind sich plötzlich ganz viele einig: Wer das einmal gesagt hat, darf jetzt nicht Minister werden. Doch dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Moralismus ohne Moral. Statt die wesentlichen Grundwerte im politischen Alltag wirksam werden zu lassen, wird die Etikette zum unumstößlichen Gesetz. Wehe, wer das verletzt. Der wird mit inhaltsleerer Gnadenlosigkeit abgestraft. Leider merken viel zu wenige, dass diese Art von Moralismus substanzlos ist. Wenn aber Moralismus ohne Moral den politischen und medialen Alltag bestimmt, dann wird genau denen der Weg bereitet, die noch nicht einmal über einen Moralismus verfügen, sondern nur damit beschäftigt sind, die demokratischen Grundwerte umzuwerten und zu verbiegen. Man muss sich nur die entsprechenden Tweets und Mails unzähliger AfD-Abgeordneter zu Gemüte führen, um zu erahnen, was für ein verbissen-militanter Verdruss sich da breit macht – ein Verdruss, der sich zumeist als braune Brühe über unsere Wirklichkeit ergießt: „Die Alternative zum Nicht-Widerstand gegen diese Dirne der Fremdmächte (gemeint ist Angela Merkel) ist der sichere Bürgerkrieg, den wir ab spätestens 2018 dann verlieren werden.“ so Peter Boehringer, AfD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Haushaltsausschusses.
Was da sichtbar wird: Der rasante Säkularisierungsschub der vergangenen Jahrzehnte, den mancher als Befreiung erfahren haben mag, entpuppt sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, aber auch in den Parteien, eher als Erosion fundamentaler Grundwerte, als dass neue Anknüpfungspunkte für eine Politik mit Moral gefunden werden. Vor allem aber führt er zu einer Ich-Bezogenheit, die kein Gegenüber als sich selbst kennt und duldet. Mir ist bewusst, dass mancher, der das liest, aufheulen wird. Aber wer glaubt, dass der Abschied vieler Menschen von den Kirchen ohne tiefgreifende gesellschaftspolitische Folgen bleibt, irrt gewaltig. Darüber müssen wir offen reden. Denn die Kurzatmigkeit der Politik und eine um sich greifende Egomanie sind ein riesiges Problem. Dieses wird nicht kleiner durch die Digitalisierung des Lebens. In früheren Jahrzehnten gab es mit Gustav Heinemann, Hugo Brandt*, Johannes Rau, Regine Hildebrandt, Hermann Scheer, Renate Schmidt, Erhard Eppler Politiker/innen (nicht ganz zufällig in der Kirche verankert), die in entscheidenden Situationen das Fundament freilegen konnten, von dem aus sie Politik betrieben haben. Sie bekleideten nicht unbedingt Spitzenämter, aber sie bewahrten andere davor, sich in Inhaltsleere zu verlieren, und warben für eine Politik mit Moral. Diese Menschen fehlen uns derzeit, ihr moralischer Kompass auch. Stattdessen dominieren die intellektuellen Eintagsfliegen – auch in den Medien. Das muss sich ändern, wenn Erneuerung gelingen und Glaubwürdigkeit wachsen sollen.
*Den kennt leider kaum jemand mehr. Hugo Brandt (1930-1989) war Bundestagsabgeordneter und SPD-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz. Ein glänzender und begnadeter Redner und großartiger Demokrat und Innenpolitiker.
6 Antworten
So richtig verständlich ist mir das Lamento über die jüngsten Kapriolen in der SPD nicht. Seit Jahr und Tag gibt es genügend Stimmen, die mit guten Argumenten die zunehmende Substanzlosigkeit der deutschen Sozialdemokratie kritisieren. Das unglückliche und unprofessionelle Herumhampeln eines Martin Schulz ist nur oberflächlicher Ausdruck des in dieser Diskussion zu Recht bemängelten Fehlens von Fundament und Kompass. Dieses aber an einem Defizit von Moral und Sittlichkeit oder gar fehlender christlicher Gesinnung führender politischer Akteure festzumachen, erscheint mir aber doch sehr kurz gegriffen. Sicherlich habe bestimmte Medien Interesse daran, den Rummel um Personalien und Intrigen aufzuheizen. Inhalte interessieren dabei wenig. Wenn sich aber die Mitglieder und Sympathisanten der SPD nicht bald daran machen, solche Inhalte zu benennen und einzufordern, die für eine Existenzberechtigung dieser Partei stehen, wird ein „Projekt 18 %“ eine genau so große Herausforderung sein wie seinerzeit für Guido Westerwelle.
Man kann es nur ständig wiederholen. Die SPD muss deutlich machen, wessen Interessen sie vertritt und gegen welche sie gegebenenfalls bereit ist, Front zu machen. Es muss zu erkennen sein, mit welchen Konzepten sie gegen den marktliberalen Zeitgeist eine stabile, gerechte Gesellschaft gestalten will. Und wie gedenkt die SPD die Integration hunderttausender Migranten zu bewerkstelligen, ohne dass das einheimische Prekariat zu kurz kommt? Man könnte auch Ideen erwarten, welchen Beitrag Deutschland für ein Einhalten des immer bedrohlicher werdenden Rüstungswettlaufs leisten kann. Wird die SPD als Partner in einer GroKo es schaffen, dass Arbeiter und Arbeitslose wieder SPD statt AfD wählen? Wird sie dafür sorgen können, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder schließt? Inwieweit kann die sich ausbreitende Altersarmut gebannt werden? Mit besseren Redenschreibern im Willy-Brandt-Haus wird es nicht getan sein.
Zu Dr. v. Heydebreck: Ihr sachlicher Kommentar zu Chr. Wolffs Analyse, welche uns allesamt sehr nachdenklich stimmen muss, stimme ich Ihnen auch insofern zu, als mir diese Ihre Sachlichkeit sympathisch und dem Augenblick angemessen ist. Das Parlament offenbart seit längerem Ohnmacht und fatale Sprachlosigkeit. Erstaunlich nur, dass dies sich der Souverän einfach so gefallen lässt…
Und zu R. Rennert: derzeit erkenne ich große Momente nicht in der politischen Arena (obwohl diese dringenst wären!). Vielmehr sehe ich zunehmend Gefahr in der höchst bedenklichen Distanz zwischen machtverliebten Parteistrategen, denen Machtverluste wegen abhanden gekommener Ressorts mehr zu schaffen machen, als dem Volk zu dienen, von ihm gefahren abzuwenden und der Stadt bestes zu tun. Alles, was momentan in Fahrlässigkeit da angerichtet wird an, liefert den populistischen Parteien zu Hauf Argumente auf dem Silbertableau und stärkt extreme Gesinnung. Ein „Weiter so“ ist jetzt mehr als unzulässig, ich weiß nur mit vielen anderen nicht, woher starke Geschlechter kommen sollen. Alle Parteien versäumten es, Nachwuchs zu fördern. Jetzt haben wir den Salat !!
Lieber Herr Wolff, auch als Konservativer, der nicht an der Lauterkeit, sondern nur am Erfolg sozialdemokratischer Politik zweifelt, muss ich Ihrer Klage über unsere gegenwärtigen politischen Verhältnisse zustimmen. Zu den von Ihnen genannten integren sozialdemokratischen Spitzenpolitikern der Vergangenheit würde ich gerne noch Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer hinzu fügen. Diese Männer haben nach schwerster Zeit in der Emigration demokratisch für ihre Überzeugung gekämpft und um Mehrheiten dafür gerungen, ohne ständig ihr Mäntelchen nach dem Wind der aktuellsten Meinungsumfragen umzuhaengen, wie es heute leider nicht nur in der SPD, sondern in allen Groko-Parteien der Fall ist. Dieser Verlust des Kompasses, wie es eine Tageszeitung neulich treffend genannt hat, laesst die Wähler an den klassischen Volksparteien zweifeln und treibt sie den linken und rechten Flügeln zu. Richtig daher auch die Frage von Herrn Flade nach dem Wort des Parlaments. Hoffnung ließ mich dazu die Aussage eines CDU-Abgeordneten fassen, er werde nicht einfach allen im Groko-Vertrag vereinbarten Gesetzesvorschlägen zustimmen!. Moege sich auf diese Weise das Parlament langsam seine Rechte zurück erobern!
Lieber Christian, auch mir als „Nichtchristen“ wölben sie Zehennägel nach Oben. Wenn auch aus anderen Gründen. Der Generationswechsel nach Willy Brandt ging komplett in die Hose. Da wurde die „Enkelgeneration“ ausgerufen und die Generation der Söhne ignoriert. Solche Generationssprünge können eigentlich nur misslingen. Wurde ja auch von Scharping, Lafontaine und Schröder überdeutlich bewiesen.
Besonders Letzterer mit dem „Outsourcing“ des Arbeitnehmer-Flügels ist ja nicht zu übertreffen. Das kann ich nur als Lust am Untergang verstehen. Mein „politisches Bauchgefühl“, mit dem mehr geschlagen als gesegnet bin hat auch beim Rücktritt von „Siechmar“ Gabriel sich heftig gemeldet. Er wollte/musste unbedingt Aussenminister werden nachdem Walter Steinmaier Bundespräsident wurde. Allein schon seine „Begründung“, er benötige mehr Zeit für die Familie war ja regelrecht entlarvend. Da Martin Schulz in der EU keine Anschlussverwendung finden konnte, bot es sich ja geradezu an ihn zum Vorsitzenden vorzuschlagen und auch zu wählen. Warum aber zeitgleich die Kanzlerkandidatur durch ihn“ausgerufen“ werden musste blieb bis heute ein Rätsel. Mein damaliger „Eindruck“: man startet eine einstufige Rakete ohne sich Gedanken zu machen wo der 2.Treibsatz herkommen soll. Das war doch Sylvester im falschen Monat.
Ich habe seinen Auftritt auf dem Nikolaikirchhof in der 1. Reihe erlebt, das war sicher auch Balsam auf die „geschundene Seele“ der Partei, aber mit den falschen Regisseuren im WBH. Wurde ja auch schon vorher mal als „Hort des Grauen’s benannt. In der Zeit der Bonner Barracke waren ja regelrecht Fachleute am Werke, wenn auch Herbert Wehner als Zuchtmeister der SPD benannt wurde. Aber solcher Dilletantismus war zu dieser Zeit unvorstellbar.
Der von Chr. Wolff beschriebene Real-Zustand der SPD ist ja nicht allein eine Zustandsbeschreibung von unaufhaltsamer Demoralisierung in der parteipolitischen Wirklichkeit, sondern ich erkenne da unschwer in seiner Wortmeldung auch eine längst nicht mehr nur subjektiv empfundene, entsetzende Erschütterung ob dieses unsäglichen Sittenverfalls, der momentan fast nur noch ohnmächtiges Kopfschütteln produziert.
Heinrich Heine muss mit seiner nächtlichen Sorge gar nicht mehr zitiert werden – wir allesamt sind fassungslos.
Fassungslos auch deshalb, weil dieser Zustand nicht mehr nur auf die Sozialdemokraten, sondern auf die CDU/CSU, um notwendiger Weise ebenfalls den Antipoden zur SPD zu sezieren, gleichlautend zutrifft.
Das heftige Rumoren in den sich unübersehbar aufbäumenden, christsozialen Reihen nimmt zu und ich frage mich, wie lange diese Kritiker eigentlich noch benötigen, um klar und eindeutig den Glaubwürdigkeitsverlust der von Frau Merkel narkotisierend „geführten“ Volkspartei zu einem Generationswechsel zu führen in der Lage sind.
Und die Vorstellung, dass ein Herr Seehofer vermutlich ein Superministerium (Innen, Bau, Digitalisierung…) führen soll, ringt einem schon fast Mitleidsgefühle ab; wer diese Idee gebar, muss in den letzten Jahren den Blick bayrischer Politsatire falsch interpretiert haben.
Dass die CDU/CSU während des SPD-Dilemmas fast aus dem breiten Blickfeld gerät, alles momentan auf deren Katastrophe fokussiert wird, bedeutet lediglich eine temporäre Atempause; wir alle sollten uns nicht nur auf die SPD kaprizieren!
Kurz:
Chr. Wolff hat den Finger drauf, und den Jungsozialen und anderen SPDern müsste jetzt endlich, endlich klar werden, dass dem konstatierten Sittenverfall mit den elementar-moralischen Begriffen wie Werte, Rechte, Pflichten, Disziplin, Güterabwägung begegnet werden muss, und zwar sehr rasch. Ansonsten läuft es Gefahr mit dieser wankenden Demokratie durch die derzeit praktiziert politische Unkultur, dem Hasten nach Eitelkeiten und persönlicher Vorteilsnahme auf Kosten des Souveräns diese Gesellschaft an die Wand zu fahren. Dies darf nicht sein!
Übrigens:
Wo bleibt eigentlich das Wort des Parlamentes zu all diesen benannten Unsäglichkeiten? Wenn es Stimmen gibt (Wolff hat auch hier den Finger drauf), schallen sie aus den AfD-Reihen (auch einen Victor Klemperer würde es grausen) – ansonsten fast Stagnation.
Lieber Jo Flade, zu diesen „Berliner Vorfällen“ fällt mir nur der Satz ein: Ein großer Moment trifft auf ein kleines Geschlecht.
Deutschland schafft sich wirklich ab.