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Jetzt wird es ernst

Der Rechtsextremismus ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – nicht als Phänomen, nicht als Unglücksfall der Demokratie, sondern als in den drei Jahrzehnten nach der Friedlichen Revolution und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewachsene politische Einstellung bei zu vielen Wähler:innen und jenseits der demokratischen Parteienlandschaft. Die, die vor 25 Jahren als Jugendliche bei neonazistischen Umtrieben mitmachten, sind inzwischen Familienväter und -mütter und beantragen in Kitas und Grundschulen, dass nur noch deutsche Lieder gesungen werden. Allein das unterstreicht, dass Rechtsextremismus nicht gleich Linksextremismus ist. Letzterer hatte und hat keine Basis in der Bevölkerung, der Rechtsextremismus sehr wohl. Hinzu kommt: Der Rechtsextremismus ist weniger Ausdruck einer Protesthaltung als vielmehr einer Überzeugung. Immer wieder gilt es daran zu erinnern: Die AfD liegt bei Umfragen bundesweit nicht deswegen bei 18 Prozent, weil es diese Partei gibt, sie ein besseres Politikangebot bereithält bzw. die demokratischen Parteien falsche Politik machen. Die AfD findet diese Zustimmung und kommt bei Landratswahlen in Ostdeutschland an die 50 Prozent-Marke, weil sie von Bürger:innen gewählt wird. Und diese wählen die AfD nicht „gezwungenermaßen“, sondern weil sie deren Programmatik teilen und in dieser Partei das rechtsnationalistische Gedankengut aufgehoben sehen, das sie selbst und Gruppierungen wie Reichsbürger, NPD, Freie Sachsen noch unverhohlener vertreten als die AfD. Erst wenn wir das begreifen, werden wir uns des Ernstes der Lage bewusst.

Auch der Wahlaufruf des AfD-Kandidaten für die Landratswahl in Sonneberg/Thüringen Robert Sesselmann zeugt von dieser rechten Programmatik. Da werden alle sattsam bekannten AfD-Positionen aufgelistet. An erster Stelle steht der Ukrainekrieg. Robert Sesselmann fordert „Friedensverhandlungen und ein Ende der Sanktionspolitik“. Warum? Weil „ansonsten … der Kreis ein Aufnahmeproblem von Ukraineflüchtlingen haben (wird)“. Sodann plädiert er für den „Erhalt der Heimat“, für „ein Ende der Energie- und Wärmewende ins Nichts und den Enteignungsphantasien der Altparteien“, „eine sofortige Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber ohne Bleibeperspektive, denn wir sind nicht das Weltsozialamt“, „eine bürgerfreundliche Politik ohne Parteifilz, Ämterpatronage und Korruption“. Laut „Tageszeitung“ (taz) will Sesselmann „den Rundfunkbeitrag abschaffen, aus dem Euro austreten, die Russlandsanktionen aufheben, die Abschiebung ‚krimineller‘ Geflüchteter beschleunigen, überhaupt ‚sichere Grenzen‘ und ein Ende der ‚linksgrünversifften Verbotspolitik‘.“  – übrigens alles Dinge, für die ein Landrat nicht zuständig ist. Damit werden aber die Narrative bedient, die derzeit völlig losgelöst von der tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Lage bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen: die Bürger:innen (natürlich nur die deutschen!) müssen sich ihr Land, ihr Recht, die Demokratie „zurückholen“, die Grenzen dicht machen (das ist ja mit „Heimatschutz“ gemeint) und die Alt-Parteien verjagen. Denn diese sind korrupt und wollen das Volk entmachten. Eigene politische Vorstellungen zu den anstehenden politischen Problemlösungen werden kaum kommuniziert.

Die AfD kann sich derzeit eine ganz merkwürdige Stimmungslage zunutze machen: Obwohl die Bildung der Ampel-Koalition nach der Bundestagswahl 2021 von vielen Bürger:innen als ein Befreiungsakt von der bleiern-lähmenden Merkel-Zeit empfunden wurde, sehnen sich jetzt eine erhebliche Anzahl von Wähler:innen zurück zu einer deutsch-nationalen Politik, ohne europäische Perspektive, ohne das Pariser Klimaschutzabkommen, ohne Reformen in der Energiepolitik, ohne große gesellschaftspolitische Debatten, ohne gelebte freiheitliche Demokratie und gesellschaftliche Vielfalt. Man möchte unter sich bleiben und das, was sich in ihren Augen bewährt hat, behalten – und sei es den alten Heizungskessel der Öl- oder Gasheizung oder den PKW mit Verbrennermotor. Darum werden auch eine Koalition, die ein breites Meinungsspektrum der Bevölkerung abbildet und allein deswegen als ein Abbild gesellschaftlicher Vielfalt erscheint, als Bedrohung angesehen und kontroverse Debatten innerhalb der Regierung als unnötiges Gezänk. Diese Gemengelage, leider von vielen Medien bereitwillig bedient, ist höchst gefährlich und lässt sich nur auflösen durch Bürger:innennähe der demokratischen Parteien, demokratische Beteiligungsprozesse in der Kommune und glaubwürdiges politisches Handeln der Mandatsträger:innen. Vor allem aber kommt es darauf an, dass vor Ort die Machenschaften der Rechtsnationalisten durchschaut, entlarvt und ihnen unmissverständlich entgegengetreten wird. Dieses Entgegentreten darf aber die eigenen Ziele nicht konterkarieren. Darum gilt beides: klare Abgrenzung gegen den Rechtsnationalismus, aber ebenso unmissverständlich: Keine Gewalt! Niemals!

Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung: Vor Ort, in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Schule, beim Elternabend in der Kita, in der Kirchgemeinde, in Vereinen und Verbänden, im Lions Club und bei den Rotariern, in der IHK und Handwerkskammer, im Betriebsrat und im Gewerkschaftsapparat müssen wir uns rechtsextremistischem Gerede, Verschwörungsvorstellungen, nationalistischen Provokationen und Handlungen mutig entgegenstellen und die Zivilcourage Einzelner stärken. Das ist gerade im ländlichen Raum schwer, aber dringend notwendig. Hier muss allen, die ihre demokratische Verantwortung wahrnehmen, der Rücken gestärkt werden. Darum gehört alles, was vorfällt – in die Schulbank eingeritzte Hakenkreuze, Hetze gegen Migranten und Geflüchtete, Drohgebärden gegen demokratische Politiker:innen, rechte Zeichensprache in den Netzwerken – an die Öffentlichkeit gezerrt. Nichts darf verheimlicht oder verschwiegen werden. Wer allerdings die rechtsnationalistischen Narrative ausdrücklich bedient, wie es am vergangenen Wochenende Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und vor allem sein Vize Rudolf Aiwanger (Freie Wähler) auf einer Kundgebung im bayerischen Erding getan haben, der macht alles Bemühen zunichte, die Gefahr des Rechtsnationalismus zurückzudrängen. Denn solche Auftritte stärken die Sesselmanns und zermürben die, die die Demokratie verteidigen.

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