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Immer dasselbe – oder: die andere Perspektive

Das schreckliche Messerattentat eines syrischen Geflüchteten in Solingen am Abend des 23. August 2024 hat wieder die immer selbe politische Debatte ausgelöst: Schuld an der schrecklichen Bluttat sei eine „verfehlte Migrationspolitik“. In allen Variationen findet sich dieser Vorwurf in Kommentaren und Statements wieder – je nach Parteicouleur – an CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP gerichtet, versehen mit dem Unterton, wenn diese oder jene Maßnahme früher getroffen worden wäre, dann könnten die drei in Solingen auf so brutale Weise ermordeten Menschen noch leben. Jedoch: Keine Maßnahme, kein Gesetz wird schuldhaftes Verhalten von Menschen verhindern. Wer sein Leben verwirken will, indem er andere Menschen tötet, wird dazu immer einen Weg finden. Darum ist die eigentliche Herausforderung, der wir uns nach einer solchen Tat wie in Solingen stellen müssen: Was können Bürger:innen, was können Politiker:innen, was können Institutionen, Vereine und Verbände dazu beitragen, dass Menschen sich gegenseitig in ihrer Unterschiedlichkeit ertragen und tragen, ohne ihren jeweiligen Vernichtungsphantasien freien Lauf zu lassen? Im Kern geht es um Bedingungen für Liebe und Solidarität, für Würde und Menschenrechte. Letzteres mag sich für manchen naiv anhören – aber ohne diese Bedingungen werden Demokratie, Vielfalt und ein friedliches Zusammenleben nicht gelingen.*

Darum müssen wir sehr klar benennen: Das Verbrechen von Solingen ist nicht deswegen so horrend, weil es vermutlich ein Syrer verübt hat. Das Verbrechen ist unendlich schrecklich, weil ihm drei Menschen zum Opfer gefallen sind und acht weitere Männer und Frauen schwer verletzt wurden. Das Verbrechen ist deswegen so verwerflich, weil mit ihm alle Werte, die uns friedliches Zusammenleben ermöglichen, von den Tätern zerstört werden sollen. Darum sind jetzt zwei Dinge vordringlich:

  • Über den politischen Debatten dürfen die Menschen, die jetzt in tiefe Trauer und Verzweiflung gestürzt wurden und deren Lebensperspektive zerstört worden ist, nicht aus den Augen verloren werden. Das sollten alle bedenken, die jetzt nach schnellen „Lösungen“ rufen und gleichzeitig mit Parolen wie „nationale Notlage“ (so der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz) Untergangsszenarien beschwören und rechte Narrative  bedienen.
  • Nüchtern müssen wir festhalten: Seit vergangenem Freitag werden in unserem Land leider wieder schreckliche Gewalttaten verübt – von Menschen an Menschen. Sie müssen verfolgt und geahndet werden – und gleichzeitig dürfen wir uns nicht auf die Ebene des und der Täter, auf die Ebene von Rache und Gewalt, religiös-ideologischem Fundamentalismus und politischer Enthemmung ziehen lassen. Gerade weil der mörderische Angriff auf Menschen in Solingen auch der Art und Weise des freiheitlichen, demokratischen, solidarischen Zusammenlebens galt, muss in der Reaktion auf die Tat diese Lebensweise im Vordergrund stehen und sichtbar werden.

Dies bedenkend gilt es, der derzeitigen Stimmungsmache sehr selbstbewusst entgegenzutreten: Wenn Friedrich Merz mal so eben das Grundrecht auf Asyl (Artikel 16a Grundgesetz) und europäisches Recht aushebeln will, Sahra Wagenknecht ein „Scheitern der Willkommenskultur“ ausruft (von den unsäglichen Hass-Tiraden im Netz ganz zu schweigen), dann ist das genauso daneben wie die Radikalforderung der AfD, überhaupt keinen Geflüchteten mehr in Deutschland aufzunehmen. In der Konsequenz kommt das der absurden Forderung gleich: Weil ein Mensch einen anderen umbringt, wäre es am besten, wenn gar kein Mensch mehr geboren würde … . Nun stammen wir Menschen – von der biblischen Überlieferung her gesehen – nicht nur von Adam und Eva ab, sondern auch von Kain, der seinen Bruder Abel umgebracht hat (Die Bibel: 1. Mose 4). Also ist unsere Aufgabe eine andere: Wir haben gerade angesichts von Gewalttaten in den Mittelpunkt zu stellen, dass alles Leben zunächst und vor allem auf Gnade beruht. Das Besondere in unserem Leben ist nicht, dass es durch Krankheiten, Gewalt, Mord, Totschlag zerstört werden kann. Das Besondere und Außergewöhnliche ist, dass wir trotz der selbstzerstörerischen Kräfte im Menschen dem Nächsten mit Würde und Respekt begegnen und ihn als Geschöpf Gottes achten und dafür die Kraft aufbringen können: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“ so der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006) in seiner Rede bei der Trauerfeier für die Opfer des Massakers an der Gutenbergschule in Erfurt 2002. Wer sich auf das christliche oder biblische Menschenbild beruft, der muss davon reden und dieses beachten.

Gott sei Dank ist der demokratische Rechtsstaat in Deutschland von diesem Geist durchaus durchdrungen. Aber derzeit wollen sich politische Kräfte wie eine AfD und ein BSW davon lösen bzw. haben sich schon längst gelöst. Doch damit wird Unmenschlichkeit politisch sanktioniert – ein brandgefährlicher, unmenschlicher Weg! Wenn Sahra Wagenknecht eine „Zeitenwende“ in der Flüchtlingspolitik fordert und die Willkommenskultur für gescheitert erklärt, dann surft sie damit nicht nur auf der rechtsradikalen AfD-Welle – ihre Feststellung ist eine bodenlose Unverschämtheit und Beleidigung gegenüber den Hunderttausenden Bürger:innen, die sich seit Jahren und mit großem Erfolg für die Integration von Geflüchteten in Städten und Gemeinden einsetzen. Frau Wagenknecht kann sich einmal fragen, wer ihr die Pakete von Amazon, Hermes, DHL ins Haus bringt; wer in den Krankenhäusern als Ärzt:innen und Pflegepersonal tätig ist, wer den Bus- uind Straßenbahnverkehr aufrecht- und wer als Reinigungskraft Kliniken, Verwaltungs- und Betriebsgebäude funktionsfähig erhält. Es sind Zehntausende Geflüchtete nicht zuletzt aus Syrien und Afghanistan, die einen wertvollen Dienst in und für unsere, für ihre Gesellschaft ausüben – und das trotz täglicher Angriffe und Beschimpfungen (gerade in Bussen und Straßenbahnen) und den vielfältigen, würdelosen Signalen: Eigentlich wäre es besser, wenn ihr nicht hier leben würdet. Darum: Es ist grotesk, wie schnell ein autokratisches Staatsverständnis auch hochintelligente Menschen in den Tunnel menschenverachtender Seelenlosigkeit führt.

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Wer in diesen Zeiten Haltung bewahren möchte, der kann am Sonntag in Sachsen und Thüringen nur die Parteien wählen, die sich der Würdelosigkeit im Umgang mit Menschen verschließen. Einer der wenigen aktiven Politiker, der sich wirklich angemessen geäußert und sich an dem, was ich zu skizzieren versucht habe, orientiert hat, ist der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD): https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/solingen-anschlag-migration-waffenrecht-100.html

* Was konkret gemeint ist, illustriert das Interview mit dem islamischen Theologen Mouhamad Khorchide in der neuen Ausgabe der ZEIT: https://wolff-christian.de/wp-content/uploads/2024/08/ZEIT_2024_37_00050.pdf

18 Antworten

  1. „wer ihr die Pakete von Amazon, Hermes, DHL ins Haus bringt; wer in den Krankenhäusern als Ärzt:innen und Pflegepersonal tätig ist, wer den Bus- uind Straßenbahnverkehr aufrecht- und wer als Reinigungskraft Kliniken, Verwaltungs- und Betriebsgebäude funktionsfähig erhält“
    In der Regel tun Messerstecher genau nichts davon.
    Ein Problem ist die blinde Gleichheit, mit der in Deutschland seit Jahren ‚Fachkräfte‘ und gemeingefährliche Tagediebe behandelt werden. Ein weiteres Problem ist die blinde Wut, mit der auf jeden Versuch reagiert wird, beide (auch begrifflich) zu unterscheiden, um sie ganz unterschiedlich behandeln zu können.

  2. Die Abfolge nach einem solchen Anschlag war immer: Betroffenheitsorgie, ein Schwall von phrasenhaften Bekundungen (Verurteilen… Müssen… Sollen… Härte des Rechtstaates…) irgendwann beruhigt sich alles wieder. Dann der nächste Anschlag. Wie oft hat sich das bereits wiederholt?
    Jetzt mit Solingen ist hoffentlich endgültig Schluss mit diesem Irrsinn.
    Seit Jahrzehnten wird die deutsche Gesellschaft destabilisiert durch eine völlig falsche, verantwortungslose (rot-grün, auch Merkel) Migrationspolitik, speziell nach 2015. Das Asylrecht war ursprünglich anders gedacht, ist aber zu einem weit offenen Scheunentor verkommen, das zum Missbrauch regelrecht einlädt.
    Das Hauptproblem sind junge, männliche Migranten aus Nordafrika/Subsahara bis Afghanistan, in streng patriarchalen, gewaltaffinen Gesellschaften sozialisiert und indoktriniert durch eine totalitär-faschistoide Ideologie (streng konservativer, radikaler Islam). Das ist der Nährboden für Integrationsverweigerung und Schlimmerem.
    Kommt nun endlich eine zielgerichtete Strategie? Etwas mehr als die Klingenlängen-Diskussion, welche den mündigen Bürger nur verhöhnt? Oder muss es noch mehr Tote geben?
    „Höcke oder Solingen“. Dort unten sind wir angelangt. Erbärmlich.

    DANK an Herrn Schwerdtfeger, ausgezeichnet geschrieben, es gibt noch Stimmen mit klarem Verstand und guten Argumenten !

    1. Nur zwei Bemerkungen:
      1. Das Grundrecht auf Asyl war nie anders gedacht. Das Einzige, was sich verändert hat: Es gibt leider sehr viel mehr Länder, in denen Menschen aufgrund ihrer politischen, religiösen, weltanschaulichen Überzeugung verfolgt werden.
      2. Die meisten Menschen, die um Asyl bitten, flüchten vor dem, was Sie als Sozialisation und Indoktrination bezeichnen.
      3. Niemand, der für eine menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten eintritt, rechtfertigt in irgendeiner Weise Straftaten. Natürlich müssen Straftäter vor Gericht gestellt, verurteilt und so möglich in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden. Aber der Kampf gegen Kriminalität muss deutlich unterschieden werden von der Integration der Geflüchteten und von der Migrationspolitik.

      1. Zu 1) Gibt es wirklich so viel mehr Länder mit brutaler Diktatur? Ich erinnere an faschistische Militärdiktaturen in Südamerika, Spanien oder Griechenland. Der gesamte Ostblock war früher eine kommunistische Diktatur.

        Zu2) Die meisten Asylanten kommen schlicht deswegen, weil sie sich ein besseres Leben versprechen; die wenigsten, weil sie individuell verfolgt sind. Hinzu kommt, dass für eine Schleusung z. B. aus Afghanistan 3000 $ nötig sind; extrem Arme gar keine Chance haben.

        Zu 3) Die Behörden und die Gesellschaft sind durch die schiere Masse der Ankömmlinge überfordert; deshalb muss das Asylrecht überarbeitet werden.

        1. zu 1) Ich hätte noch ergänzen sollen: … und mehr Möglichkeiten, das eigene Land zu verlassen.
          zu 2) Ich bin immer wieder überrascht darüber, was die Leute so alles wissen …
          zu 3) Ich kenne keinen Ort in Sachsen, der wegen Geflüchteter objektiv überfordert ist. Wohl aber kenne ich viele Ortschaften, in denen das behauptet wird und in denen es keine Asylunterkunft gibt. Leider sind die Ausländerämter zu keinem Zeitpunkt so ausgestattet worden, wie es notwendig wäre.

  3. Lieber Christian,

    herzlich danke ich Dir für diesen guten, weitsichtigen und helfenden Beitrag. Es ist einfach erschreckend, wie ein schreckliches Ereignis instrumentalisiert wird – bis hin zu dieser Aussage: „Wir schaffen es nicht!“ Du zeigst Wege des Miteinanders auf, ohne die schreckliche Tat zu verkleinern. Ich werde Deinen Beitrag weiterleiten an Freunde.
    Herzliche Grüße
    Hans

    1. Ja, dann würde ich doch vorschlagen, Herr Scheffel, dass Sie meine erste Reaktion (ganz unten) auf diesen Beitrag mitschicken. Dann hätten Ihre Freunde das ganze Bild eines lebendigen demokratischen Diskurses vor Augen und nicht nur eine einseitige Meinung aus der Echokammer, die sie sowieso wahrscheinlich teilen. Das wäre doch was!
      Andreas Schwerdtfeger

  4. Es ist ja schon traurig, wie in diesem Blog die meisten in ihrer Blase leben und nicht über den Tellerrand schauen können. Es gäbe sicherlich Blogs, in denen meine Ansichten und Argumente (wie in Umfragen ja nur allzu deutlich bestätigt) überwögen, aber welcher Sinn bestünde darin, sich dort zu beteiligen. Also schreibe ich hier, in der Wolff’schen Echokammer. Ich tue das polemisch, polarisierend, deutlich und klar. Ich verstehe, dass das einigen nicht gefällt.
    Aber Politik und politische Diskussionen sind doch wohl auf Problemlösung ausgerichtet – und Problemlösung bedeutet Reaktion; Reaktion auf offensichtliche Mißstände – und dann: Weiterentwicklung.
    In NRW, so der unzweifelhaft kompetente und ausgewogene Innenminister Reul, gab es 2023 rund 3500 Messerattacken im öffentlichen Raum und davon etwa 45% von Menschen verübt, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Ich verstehe und teile die Reaktion, man dürfe jetzt das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und seine Grundprinzipien also nicht aufgeben. Die Reaktion aber, stets nur auf die bestehenden Regeln und Grundsätze zu verweisen und quasi aus Mangel an Bereitschaft, auch das Schwierige, das Umstrittene, das oberflächlich in Zement Gemauerte anzupacken und infrage zu stellen – diese Reaktion scheint mir den Stillstand zu fördern und Stillstand ist nicht das, was Politik und Gesellschaft zu leisten haben. Grundrechte, Menschenwürde und Menschlichkeit sind hohe Güter, aber sie gelten eben auch für Opfer und nicht nur für Täter (wie Wolff uns ja unaufhörlich in Sachen „Bürger der Ukraine“ vorhält, deren Opferung im Kriege er für vorrangig vor dem Versuch gleichzeitiger und übergeordneter Diplomatie hält, dass man ja mit dem Kriegsverbrecher Putin nicht reden könne, dessen Menschenwürde ihm nicht zu wichtig ist). Also verweise ich darauf, dass die Würde der hinterbliebenen und verletzten Opfer von Messerattacken es erfordert, über unsere Prinzipien, Regeln und augenblicks festgeschriebenen Paragraphen hinauszudenken – und dass uns vielleicht diese Würde wichtiger sein sollte als die der Täter, wenn eine solche Wahl sich stellt.
    Niemand muss diese Ansicht teilen; es gibt sicherlich Gegenargumente. Aber die Methode Käfer und Wolff, sich nicht damit auseinanderzusetzen, reicht wohl kaum. Und die Argumentation, dass es hierzulande sehr viele gesetzestreue und integrierte ausländische Menschen gibt, ist ja nicht bestritten – sie nützt nur den Hinterbliebenen nicht.
    Ich habe im Zusammenhang früherer Diskussionen über Kriegsvölkerrecht darauf hingewiesen, dass dieses dringend umfassender Reformen und Neuregelungen bedarf angesichts der veränderten Realität von Kriegen heute. Wenn es eines Beweises bedürfte, dann liefert ihn derzeit die Hamas, die ihre eigene Bevölkerung massenhaft zur Schlachtbank führt. Und ebenso ist es auch mit dem Asyl- und Migrationsrecht. Stillstand reicht nicht und führt zu Radikalismus. Veränderung muss her – und wenn nach Auffassung einiger hier Schreibenden bestimmte Vorschläge dazu zu weit gehen, dann ist das in Ordnung. Es darf nur nicht dazu führen, dass man den Stillstand predigt und mit religiösen Postulaten unterfüttert – und damit die betroffenen Menschen abspeist. Politik ist eben – im Gegensatz zur reinen und schönen Lehre – der Kompromiss, und dies auch, leider, in Grundsatzfragen wie Recht und Würde!
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Man muss den steten Aufopferungswillen des großen Denkers der Gegenwart bewundern!
      Seine (selbst auferlegte) Sisyphusaufgabe, Unerleuchteten sein Licht schenken zu wollen, statt es sich, wie z.B. Trump in einem selbst betriebenen Socialmedia-Kanal bequem zu machen, gibt allen, die nicht über den eigenen Tellerrand hinausblicken können, eine echte Chance auf (Fake-) Erkenntnis.
      Ich selbst bin ja in seinen Augen wohl die Inkarnation des Unerleuchteten, des würde- und hirnlosen Don Quijote; lange habe ich über seine Gedanken zur Täter-Opferwürde nachgedacht, und muss gestehen, sie überfordern meinen Intellekt.
      „Hohe Güter (Grundrechte, Menschenwürde und Menschlichkeit) … gelten eben auch für Opfer und nicht nur für Täter“. Wer hat wann und wo je Gegenteiliges behauptet? So wie ich das verstehe, ist das Beispiel der „Bürger der Ukraine“ vs. Putin in der Argumentation von Christian Wolff ja auch gerade ein Beleg für deren Gleichgewichtigkeit.

      §1 des GG sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar; nach meinem Verständnis ist sie auch nicht skalierbar!
      Vermutlich deshalb verstehe ich auch nicht die wiederholte Häme gegen den früheren BP Rau nach dem Amoklauf in Erfurt wegen seines Satzes: „ Was immer ein Mensch auch getan hat, er bleibt ein Mensch“.

  5. Lieber Christian Wolff,
    vielen Dank für den neuen Blog. Insbesondere dem letzten Absatz möchte ich ausdrücklich zustimmen. Jeder der im Bereich von Wirtschaft und Sozialwesen unterwegs ist weiß, wie wichtig und unverzichtbar die Mitwirkung von Migrant*innen in diesen Bereichen ist. Wer Migrant*innen nur noch als Belastung und Problem beschreibt, und kein Wort über ihren Nutzen für unsere Gesellschaft verliert, blendet einen wichtigen Aspekt von Migration aus.
    Einen Aspekt, der bei der gegenwärtigen Inflation von Vorschlägen zur Begrenzung von Migration zu wenig bedacht wird, möchte ich hinzufügen, dass nämlich Menschlichkeit unteilbar ist.
    Es wird ja jetzt wieder unterschieden zwischen „drinnen“ und „draußen“. Und es wird behauptet, man müsse nach außen mit „Härte“ handeln, um Menschen auf der Flucht abzuschrecken, zu uns zu kommen. Dabei wird vorausgesetzt, dass man Menschlichkeit und Nächstenliebe in einem Bereich aussetzen oder herabfahren und gleichzeitig die Menschlichkeit in anderen Bereichen bewahren kann. Also: weniger Menschlichkeit und mehr Härte gegenüber den Geflüchteten. Und zugleich Solidarität und Wärme nach innen gegenüber der eigenen Gesellschaft. Ich glaube, dass das ein fataler Irrtum ist. Wer die Menschlichkeit in einem Bereich aussetzt, der wird der Menschlichkeit insgesamt Schaden zufügen. Man kann nicht in einem Bereich unmenschlich und in einem anderen Bereich menschlich sein. Wer sich der Wut und dem Zorn auf die geflüchteten Menschen hingibt, der beschädigt zugleich die Menschlichkeit nach innen. Wer die Sprache aufmerksam hört, die mittlerweile von manchen gegenüber Geflüchteten benutzt wird, kann sich über diesen Zusammenhang keine Illusionen machen.
    Es bleibt ein Dilemma: Unsere Menschlichkeit bewegt uns dazu, Menschen auf der Flucht zu helfen und sie ggf. in einem geregelten Verfahren bei uns aufzunehmen. Zugleich ist unsere Gesellschaft nicht unbegrenzt aufnahmefähig. Dieses Dilemma ist nach keiner Seite hin aufzulösen. Wir können und dürfen die Grenzen um der Menschlichkeit willen nicht einfach schließen. Wir können sie aber auch nicht unbegrenzt und für alle öffnen. Innerhalb dieses Spannungsfeldes muss Politik agieren. Seit 2015 agiert unsere Politik sehr verantwortungsbewusst in diesem Spannungsfeld. Sicher wurden dabei auch Fehler gemacht und Möglichkeiten nicht wahrgenommen. Wie sollte das bei einem so komplexen Thema auch anders sein? Jedes selbstgerechte Urteil vom Seitenrand aus sollte man sich verbieten. Insgesamt sind Politik und Gesellschaft (nicht zuletzt durch die geschmähte Willkommenskultur vieler Bürger*innen) ganz gut mit diesem Dilemma umgegangen. So wurde das menschliche Gesicht unsere Gesellschaft bis heute gewahrt. Geben wir dem Täter von Solingen doch nicht die Macht, die Menschlichkeit in unserem Land zu zerstören!
    Mit freundlichen Grüßen
    Rolf Fersterra

  6. In Solingen geschah ein fürchterliches Verbrechen. Es waren hinterhältige Morde eines Islamisten, der entweder vom IS eingeschleust wurde oder sich hier in D – vielleicht gar nicht unbemerkt (?) – radikalisiert hat bis zur Raserei. Wir wissen noch nicht alles. Es ist erschreckend und leider auch Wirklichkeit, dass es zu solchen Katastrophen kommt.

    Wir leben zunehmend unsicherer in unserer liberalen Demokratie wegen Kriegshandlungen und Kriegen, die eskalieren und schwierigen Verhältnissen und Krisen in den Nachbarländern Europas. Gewalttäter können im Strom von Flüchtingen und Migranten eingeschleust werden und unterschlüpfen und populistische Volksverhetzer nutzen die Gelegenheit bei der Enttarnung und strafbaren Handlungen den demokratischen Parteien vorzuwerfen, sie würden eine „Umvolkung“ zulassen und betreu und so Deutschland auslöschen zu wollen.

    Wie also reagieren? Wer auf unser GG vertraut, der wird niemals das Asylrecht antasten, weil ein abgelehnter Asylbewerber nicht abgeschoben wurde und dann gemordet hat.

    Wo also ansetzen? Wir sollten zunächst
    intensiver prüfen, ob auch Asylanspruch vorliegt. Das kann kaum ad hoc hinreichend geprüft werden. Ich meine, dass wir bis zu einer Entscheidung über Asyl oder subsidiären Schutz, die Bewegungsfreiheit und das Fernmeldegeheimnis der Antragsteller einschränken sollen und nicht blind vertrauen dürfen. Der IS führt einen Krieg gegen die westlichen Demokratien und es gibt hinreichend Beispiele für Selbstmordattentäter. Die Aufklärung sollte in einer solchen Situation ständig optimiert werden.. Dafür brauchen wir einen klaren Kopf.

    Kommentare aufgeladen mit Emotionen und Feindbildern ( siehe oben bei Schwertfeger) bei solchen Ereignissen und Morden – gegen demokratische Parteien, sind schädlich, ablenkend und haben letztlich auch nur das Ziel, der AfD noch schnell noch ein paar Hasen in die Scheuer zu treiben.

  7. Ich möchte konkret wissen, warum Issa al Hasan nicht nach Bulgarien abgeschoben werden konnte. Es ist nicht selbstverständlich, dass dieses Land seinen Verpflichtungen aus den Dublin-Verträgen nachkommt. Wenn dies in diesem Fall also vorbildlich geschehen ist, warum belassen es die Mitarbeiter der Ausländerbehörde Bielefeld im Juni 2023 bei nur einem vergeblichen Versuch, den Syrer in seiner Unterkunft anzutreffen? Warum wurde er nicht zur Festnahme ausgeschrieben? In diesem Fall wäre eine Abschiebung nach Bulgarien nicht nur innerhalb von 6, sondern innerhalb von 18 Monaten möglich gewesen. So lief die Frist im August 2023 ab, und Deutschland war von nun an für Issa al Hasan zuständig. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gewährte dem Syrer subsidären Schutz, und er kam in die Unterkunft in Solingen.

  8. Danke, lieber Christian, für diesen eminent wichtigen Beitrag in diesen Zeiten. Es ist schon alarmierend zu sehen, wie sehr viel zu viele Verantwortungsträger:innen in panikartigen Routinen gefangen zu sein scheinen, die die Opfer des schrecklichen Anschlags intrumentalisieren und andererseits die Mühlen aller rechten Demokratiefeinde bedienen. Danke für die klare Sicht!

  9. Danke sehr für Ihre andere, wichtige Perspektive in diesen sehr speziellen Zeiten!

    Könnte diese Erde reden und würde sie so denken wie all diejenigen, die jetzt das Asylrecht abschaffen wollen für alle Landsleute des mutmaßlichen Straftäters aus Solingen, würde sie sinngemäß formulieren: „Weil Menschen Menschen umbringen und dabei sind, diesen Erdball zu vernichten, wäre es am besten, wenn gar kein Mensch mehr geboren würde bzw. wenn gleich alle Menschen von dieser Erde abgeschoben werden.“
    Ob sich die Sippenhaft-Propagierer von AfD, BSW und Co. dann auch gleich vorne am Abschiebegate einfinden würden?

    Es bleibt die leise Hoffnung, dass nach dem 1.9. in Berlin doch ein wenig weniger Wahlkampfreflexe die Suche nach zielführenden Lösungen zur Stärkung innerer und äußerer Sicherheit in Deutschland konterkarieren als im Moment!

  10. Kürzestfassung, weil ich am Arbeiten bin: Wolff hat völlig recht, sehr treffsicher analysiert und vor dem christlichen Menschenbild gut reflektiert!

  11. Welch ein Beitrag wieder einmal: Wolff will uns weismachen, dass unser christliches Menschenbild uns eben dazu verpflichtet, solche Mordtaten wie Solingen hinzunehmen, weil ja schuldhaftes Verhalten nun mal nicht zu verhindern sei. Er schwatzt von „Bedingungen für Liebe und Solidarität, für Würde und Menschenrechte“ als Voraussetzungen für „Demokratie, Vielfalt und ein friedliches Zusammenleben“ und vergisst darüber (bzw will es nicht wahrhaben), dass auch „Wehrfähigkeit“ Voraussetzung für Solidarität. Demokratie, Würde und Rechte aller Art ist. Und dann tut er das, wovon er uns abrät: Er verliert die betroffenen Menschen, die Opfer, aus den Augen und speist sie ab mit wohlfeilen Allgemeinplätzen: Man müsse „der Stimmungsmache entgegentreten“. Ein bemerkenswertes Demokratiekonzept!
    Dass ein demokratisches Staatswesen mit repräsentativ gewählten Politikern die Verpflichtung hat, seine Bürger zu schützen, kommt nicht vor. Dass eine Gesellschaft das Recht und auch die Pflicht hat, die Allgemeinheit zu schützen, insbesondere auch den gesetzestreuen Bürger vor dem gesetzlosen, kommt nicht vor. Stattdessen erneut die Plattitüden eines ehemaligen Präsidenten, der eigentlich hätte erkennen müssen, dass es gilt die Würde eines jeden Menschen zu schützen, insbesondere der Opfer, und nicht nur die krimineller Täter.
    Ihr Beitrag, Herr Wolff, ist ein Schlag gegen die Würde und gegen die Trauer der in Solingen betroffenen Menschen. Denn Allgemeinplätze lösen das Problem ebenso wenig wie nach Ihrer Auffassung überzogene Forderungen aus von Ihnen ungeliebten politischen Kreisen. Allemal jedoch scheint es in der politischen Realität besser und richtiger, auf die notwendige Anpassungsfähigkeit von Gesetzen und Verträgen zu bauen, Wehrfähigkeit und Schutz des Lebens und der Gesundheit entsprechend den Notwendigkeiten weiter zu entwickeln als den Stillstand zu loben. In den letzten Tagen hat sich besonders Nouripour hervorgetan mit so scheinheiligen Fragen wie „ich bin gespannt, wie die CDU ihre Forderungen im Lichte der Gesetze erklären will“. Besser und glaubwürdiger wäre er wohl, wenn er selbst tätig würde, um Schaden zu wenden, wozu Kritik an anderen nicht ausreicht, der Entschluss zu grundlegendem Wandel an der Wurzel (also über Klingenlängen hinaus) dagegen Voraussetzung wäre.
    Richtig ist, dass man Anschläge dieser Art nicht wird vollständig verhindern können. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass Nächstenliebe weiterhilft und VOR dem konkreten Schutz der Bevölkerung zu rangieren hat, weil unser Menschenrechtskonzept alles weitere verhindert, ist Stillstand, hoffentlich nur „Übergang“ im Nouripour’schen Sinne, Menschenverachtung und in jeder Hinsicht unpolitisch und undemokratisch. Was ist nur aus der SPD geworden, deren Vorsitzende Esken sinngemäß mit dem Satz politisch abdankt, man könne nichts aus Solingen lernen? Und in der ein Polit-Pfarrer unterwegs ist, auf den Steinbrücks Feststellung („Unterm Strich“, S. 444) zutrifft: „Es gibt eine Schicht von Parteiaktivisten, die einem intoleranten Jakobinismus anhängen und Meinungsoffenheit bereits für einen Verrat an Prinzipien halten.“
    Andreas Schwerdtfeger

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