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„Geht’s noch?!“

So fragte vergangene Woche auf Twitter der Ministerpräsident von Niedersachsen Stephan Weil (SPD) den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Dieser hatte vorgeschlagen, Niedersachsen solle doch Fracking-Gas produzieren. Geht’s noch?! kann man auch fragen angesichts einer seit einigen Wochen geführten Geisterdebatte: Die Laufzeit der drei letzten in Deutschland noch aktiven Atomkraftwerke, die am 31.12.2022 endet, solle verlängert werden. Im Windschatten dieser von CDU, CSU und FDP angeheizten Auseinandersetzung kriechen all diejenigen aus ihren Löchern, die am liebsten auch noch die bereits stillgelegten AKWs reaktivieren und in den nächsten Jahren neue Atomkraftwerke bauen wollen. Die Absicht dieser Erregungsdebatte ist leicht durchschaubar:

  • Zum einen will die neue Atomlobby die gegenwärtige Energiekrise nutzen, um die Atomkraft wieder gesellschaftsfähig zu machen. Dabei kommt ihnen die Verknappung der Gaslieferungen aus Russland in Folge des Ukrainekrieges propagandistisch sehr gelegen.
  • Zum andern soll verschleiert werden, dass die gegenwärtige Energiekrise in erster Linie nicht durch den Ukraine-Krieg entstanden ist, sondern durch die seit 20 Jahren währende Verhinderung der Energiewende im Schulterschluss von Regierungspolitik und Wirtschaft bis zur Neubildung der Bundesregierung Ende 2021.

Über Jahrzehnte haben Bundes- und Landesregierungen und die deutsche Wirtschaft auf das billige Gas aus Russland gesetzt – und gleichzeitig den Ausbau der erneuerbaren Energien Wind und Sonne faktisch auf Null gefahren. Man kann nicht oft genug daran erinnern: 80.000 (!) Arbeitsplätze gingen allein in Ostdeutschland zwischen 2010 und 2015 in der Solarindustrie verloren. Diese hat man ohne Not nach China auswandern lassen! Gleichzeitig wurde weiter auf den Braunkohleabbau gesetzt. Noch 2019 wollte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) den Braunkohleabbau bis 2050 gesichert sehen. Er war (ist?) bereit, dafür weitere geschichtsträchtige Dörfer in Sachsen abbaggern zu lassen. Und jetzt? Jetzt fordert Kretschmer im Einklang mit Söder, dass Deutschland Fracking-Gas in Niedersachsen fördern solle – wohl wissend, dass niemand die Folgen dieser Technologie wirklich abschätzen kann. Warum? Weil gerade Bayern und Sachsen jetzt die Quittung serviert bekommen für ihre verfehlte Energiepolitik in den vergangenen 30 Jahren.

Aber das ist noch nicht alles. Im Interview mit der Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom 04. August 2022 erklärt Kretschmer – bezeichnenderweise unter einem Foto, das ihn im abgebrannten Wald der sächsischen Schweiz zeigt: „Was wir an Einsparungen erbringen können, wird das Problem nicht klären … Ich finde es mehr als zynisch, den Bürgern jetzt auch noch den Tipp zu geben, sie sollten Energie sparen.“ Energiesparen ein Zynismus? Geht’s noch? Dabei ist – wiederum unabhängig vom Ukrainekrieg, aber angesichts des Klimawandels – das Energiesparen gebotener denn je, insbesondere:

  • im privaten Bereich,
  • durch ein Tempolimit auf den Autobahnen,
  • durch konsequente energetische Gebäudesanierung,
  • durch Dezentralisierung der Energieversorgung vor allem im ländlichen Bereich,
  • durch damit verbundene Verkürzung der Stromtrassen,
  • durch …

Das alles soll kein Beitrag sein zur Bewältigung der Energiekrise, sondern ein „Zynismus“? Was wir derzeit erleben, ist die Fortsetzung der Klimasackgassenpolitik der vergangenen 30 Jahre. Die gleichen Leute, die sich vehement dem Ausbau der erneuerbaren Energien in den Weg gestellt und weiter auf fossile Energiequellen gesetzt haben – wie ein Ministerpräsident Michael Kretschmer – wollen uns jetzt weißmachen, dass die Lösung der Probleme in der Rückkehr zur Atomenergie liege. Kein Wunder, dass sie alle Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie als „Ablenkungsmanöver“ bezeichnen: sei es die völlig ungeklärte, weil nicht zu klärende Frage der Endlagerung des Atommülls; sei es die Tatsache, dass Frankreich wegen der Dürre schon seit Wochen seine Atomkraftwerke abschalten und in Deutschland Strom kaufen muss; sei es, dass sie ihr Versagen in Sachen erneuerbare Energiequellen Sonne und Wind verleugnen.* Dennoch ist sich ein Ministerpräsident Kretschmer nicht zu schade, der Bevölkerung vorzugaukeln: Ihr könnt eigentlich so weiter machen wie bisher; euer Energieverhalten ist unerheblich. So kann nur jemand reden, der nichts begriffen hat von der „Zeitenwende“**. Merkt denn ein Ministerpräsident Kretschmer nicht, wie verlogen es ist, sich in einem verbrannten Waldgebiet fotografieren zu lassen und gleichzeitig den Bürger*innen Sand in die Augen zu streuen: Euch zum Energiesparen aufzufordern, ist zynisch? Wie kann ein Ministerpräsident, dessen Bundesland in der vergangenen 20 Jahren Dürren, Flut- und Brandkatastrophen ungeahnten Ausmaßes zu bewältigen hatte und hat, fordern: Kehren wir zurück zu den Bedingungen, die entscheidend zu den Katastrophen geführt haben? Wie kann ein Ministerpräsident eines Bundeslandes, das sich in der Präambel seiner Verfassung auf den konziliaren Prozess für Grechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung beruft,** ein wesentlicher Impuls für die Friedliche Revolution, so gnadenlos opportunistisch reden und handeln? Geht’s noch?!

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* Im von russischen Truppen besetzten größten Atomkraftwerk Europas Saporischschja/Ukraine kann sich jederzeit ein Katastrophe ungeahnten Ausmaßes ereignen. Es ist laut Internationaler Atomenergie-Organisation (IAEA) „komplett außer Kontrolle“. Aber auch ein solcher Hinweis ist für Kretschmer wahrscheinlich nur ein „Ablenkungsmanöver“.

** und der vor einigen Tagen ein „Einfrieren“ des Ukrainekrieges gefordert hat – aber nicht wegen der unermesslichen Zerstörungen und der Verbrechen, sondern weil das Gas aus Russland in Sachsen gebraucht wird.

*** „… von dem Willen geleitet, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung zu dienen, …“

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