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„… dem Frieden der Welt zu dienen“ – Ansprache beim Friedensgebet am 23. Mai 2022

Mit einem Friedensgebet in der Nikolaikirche hat der Arbeitskreis „Christinnen und Christen in der SPD“ den Verfassungstag am 23. Mai 2022 begangen. Es stand unter dem Motto „… in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Der 23. Mai ist gleichzeitig Geburtstag der ältesten Partei Deutschlands, der SPD. Sie wurde 1863 als ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) gegründet. Am selben Tag brach 1618 der 30-jährige Krieg mit dem Prager Fenstersturz aus. Nachfolgend die Ansprache, die ich im Friedensgebet gehalten habe.

Ein vernachlässigter, ein vergessener Feiertag, der 23. Mai. Dabei wäre es gerade in diesem Jahr mehr als angebracht, den Verfassungstag in besonderer Weise zu begehen. Denn was nützt es, wenn die Ukraine nach dem kriegerischen Überfall Russlands die Demokratie und Freiheit in und für Europa verteidigt (so die offizielle Lesart) – und wir lassen im eigenen Land die Demokratie ausfransen, betrachten die Grundwerte als Selbstverständlichkeiten und vergessen, dass Menschenwürde, Gleichberechtigung, Gewaltenteilung, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit jeden Tag neu erkämpft, verteidigt, entwickelt werden müssen. Also würdigen wir heute, was vor 73 Jahren Männer und wenige Frauen den Bürgerinnen und Bürgern beschert haben: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Bedenken wir vor allem, was diesem Grundgesetz vorangestellt wurde: die Präambel, ein „feierlicher“ (Theodor Heuss), großartiger Satz:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

Damals wurden mit dem Grundgesetz Konsequenzen gezogen aus dem nationalsozialistischen Terror, dem verheerenden 2. Weltkrieg, dem unseligen, antidemokratischen Wirken so vieler Institutionen (einschließlich der Kirchen) und dem Versagen des Bildungsbürgertums in der Weimarer Republik. Doch 1949 war ebenso wichtig, dass der Parlamentarische Rat an eine Demokratiegeschichte anknüpfen konnte. Sie wurde vor allem durch den ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899-1976, Amtszeit 1969-1974) ab 1969 neu ins Bewusstsein gerufen. Dazu gehören die bürgerliche Revolution 1848, der erste Verfassungsentwurf im Frankfurter Paulskirchen-Parlament vom März 1849, die organisierte Sozialdemokratie, aber auch die reformatorischen Aufbrüche im 16. Jahrhundert wie das von Martin Luther proklamierte „Priestertum aller Gläubigen“ und die 12 Artikel der Bauern aus dem Jahr 1525.

Wir können aber noch weiter zurückgehen. Schon im ersten Teil unserer Bibel ist die Auseinandersetzung zwischen totalitärem Autokratismus und einer an den Geboten Gottes orientierten Politik dokumentiert. Damals sehnten sich die Israeliten nach einem starken Führer. Dem stand aber grundsätzlich das erste der Zehn Gebote entgegen:

Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Ägypterland, aus der Sklaverei, befreit habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. (2. Mose 20,2)

Dieses 1. Gebot stellt nicht nur absolutistische Herrschaftsstrukturen grundsätzlich infrage. Das 1. Gebot hat zur Konsequenz die grundsätzliche Gleichheit und Freiheit aller Menschen und damit die Einebnung aller Hierarchien. Vor allem will das 1. Gebot die religiöse Überhöhung von Macht und Herrschaft ausschließen. Die sich daraus ergebenden Konflikte sind in der Bibel dokumentiert. Samuel, ein charismatischer, gottesfürchtiger Mann, hatte im 11. Jahrhundert vor Christus das Amt des Richters inne, damals die Führungsposition in Israel. Eigentlich sollten seine Söhne seine Nachfolge antreten. Aber diese erwiesen sich als korrupt. Sie waren nur auf ihren Vorteil aus. Doch die Israeliten verlangen nicht Machteilung. Sie wollen einen König. Ein starker Mann sollte es richten! Samuel spürt instinktiv: Dieses Verlangen verspricht keine Lösung der Krise. Er wendet sich an Gott. Nun ist höchst aufschlussreich, was Gott ihm als Antwort aufträgt:

1 Als aber Samuel alt geworden war, setzte er seine Söhne als Richter über Israel ein. 2 Sein erstgeborener Sohn hieß Joel und der andere Abija; sie waren Richter zu Beerscheba. 3 Aber seine Söhne wandelten nicht in seinen Wegen, sondern suchten ihren Vorteil und nahmen Geschenke und beugten das Recht. 4 Da versammelten sich alle Ältesten Israels und kamen nach Rama zu Samuel und sprachen zu ihm: Siehe, du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in deinen Wegen. So setze nun einen König über uns, der uns richte, wie ihn alle Völker haben. 6 Das missfiel Samuel, dass sie sagten: Gib uns einen König, der uns richte. Und Samuel betete zum HERRN. 7 Der HERR aber sprach zu Samuel: Gehorche der Stimme des Volks in allem, was sie zu dir sagen; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, dass ich nicht mehr König über sie sein soll. … Doch warne sie und verkünde ihnen das Recht des Königs, der über sie herrschen wird. 10 Und Samuel sagte alle Worte des HERRN dem Volk, das von ihm einen König forderte, 11 und sprach: Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen für seinen Wagen und seine Gespanne, und dass sie vor seinem Wagen herlaufen, 12 und zu Hauptleuten über Tausend und über Fünfzig, und dass sie ihm seinen Acker bearbeiten und seine Ernte einsammeln und dass sie seine Kriegswaffen machen und was zu seinen Wagen gehört. 13 Eure Töchter aber wird er nehmen, dass sie Salben bereiten, kochen und backen. 14 Eure besten Äcker und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Großen geben. 15 Dazu von euren Kornfeldern und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Großen geben. 16 Und eure Knechte und Mägde und eure besten Rinder und eure Esel wird er nehmen und in seinen Dienst stellen. 17 Von euren Herden wird er den Zehnten nehmen, und ihr müsst seine Knechte sein. 18 Wenn ihr dann schreien werdet zu der Zeit über euren König, den ihr euch erwählt habt, so wird euch der HERR zu derselben Zeit nicht erhören. 19 Aber das Volk weigerte sich, auf die Stimme Samuels zu hören, und sie sprachen: Nein, sondern ein König soll über uns sein, 20 dass wir auch seien wie alle Völker, dass uns unser König richte und vor uns her ausziehe und unsere Kriege führe! 21 Und als Samuel alle Worte des Volks gehört hatte, sagte er sie vor den Ohren des HERRN. 22 Der HERR aber sprach zu Samuel: Höre auf ihre Stimme und mache ihnen einen König. (1. Samuel 8,1-22)

Es mag manchen überraschen und erstaunen, dass in unserer Bibel das Königtum Israels so kritisch eingeschätzt und mit ihm sehr grundsätzlich abgerechnet wird. Noch überraschender ist, dass in der Bibel diese Abrechnung an den Beginn der Geschichte des Königtums gestellt wird, sozusagen als Überschrift bzw. als Hinweis darauf: Das Königtum Israels ist genau an dem gescheitert, was als Erkennungsmerkmale einer monarchistisch-absolutistischen Autokratie benannt werden kann und im Widerspruch zum Glauben an den einen Gott steht: Militarismus, Hochrüstung, Sexismus (Männer kämpfen, Frauen dienen), organisierte Bereicherung derer, die Garanten der Macht des Autokraten sind, ungerechte Besteuerung, Korruption und Bestechung – Endziel Krieg. Schon in der Bibel wird der sich immer wiederholende, tragische Zusammenhang schonungslos offengelegt: Das Volk, das sich einen starken Führer herbeisehnt, wird von diesem gnadenlos ausgesaugt werden – nicht zuletzt deswegen, weil alle Gebote Gottes, die auf ein gerechtes Zusammenleben ausgerichtet sind und dieses ermöglichen sollen, von ihm außer Kraft gesetzt und von seinen Helfershelfern mit Füßen getreten werden – mit dem einen Ziel: die eigene Macht zu sichern. Damit erhöht sich der Autokrat selbst zum Gott, lässt sich dementsprechend huldigen und seine Macht mit Brutalität und Unnachsichtigkeit nach innen und außen absichern.

Gegen diese Machenschaften sind zu allen Zeiten Menschen aufgestanden – nicht zuletzt deshalb, weil sie erkannten: das mit dem Autokratismus verbundene götzenhafte Machogehabe und der biblische Gottesglaube gehen nicht zusammen. Man denke an den Aufbruch der Bauern im Windschatten der Reformation, an August Bebel und Ferdinand Lassalle, an Bürgerrechtler wie Martin Luther King oder die Schwarzen im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, an eine Widerstandskämpferin wie Sophie Scholl oder an die Sozialdemokraten Carlo Mierendorff und Wilhelm Leuschner. Ihnen allen ging es um gerechte Teilhabe, um Menschenrechte und Menschenwürde, um Demokratie und Freiheit. Sie haben erkannt, dass soziale Gerechtigkeit nur dann möglich ist, wenn gegenseitige Verfeindung nach innen und außen vermieden werden, Nationalismus und Militarismus überwunden und Teilung von Macht und Gewalt verbindlich vorgeschrieben sind.

In diesem Geist wurde auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschrieben und verabschiedet – in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Der Gottesbezug in der Präambel beinhaltet keine Klerikalisierung politischer Inhalte – so wie die Kritik Samuels am Verlangen des Volkes eben nicht bedeutet: die Menschen müssen nur etwas frömmer werden und dann ist wieder alles im Lot. Nein, Samuel hält dem Volk den Spiegel vor und bringt zum Ausdruck: Das, was ihr jetzt begehrt, ein autokratisches Königtum, das lässt sich vor Gott und vor den Menschen nicht verantworten. Vor dieser bitteren Erkenntnis werden euch eure Frömmigkeit und Gläubigkeit nicht bewahren. Das möchte man heute allen zurufen, die wie viele Evangelikale Christen in den Vereinigten Staaten oder Brasilien oder jetzt weite Teil der orthodoxen Kirche in Russland kein Problem haben, sich einem lupenreinen Autokraten wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Wladimir Putin an die Brust zu werfen und in diesen faktischen Gottverleugnern einen von Gott gesandten Retter zu sehen. Schon die Bibel weist darauf hin: Die schlimmsten Gotteslästerungen geschehen nicht außerhalb der Religion, sondern innerhalb der Religionsgemeinschaften. Sie führen zu politischen Verwerfungen, deren Opfer die eigene Bevölkerung ist.

Der Sinn des Gottesbezugs im Grundgesetz ist also ein anderer: Es soll nach den fürchterlichen Erfahrungen der Naziherrschaft jeder Vergötterung, jeder religiös verbrämten Rechtfertigung von Alleinherrschaft widerstanden werden. Denn diese beschädigt Menschen in ihrer Würde, führt zu gewalttätiger Ausgrenzung, zu Rassismus und Nationalismus, zum Krieg. Darum ist der Gottesbezug im Grundgesetz zum einen interreligiös zu verstehen. Zum andern erinnert er uns daran, dass wir Menschen, samt der Institutionen im demokratischen Gemeinwesen, unser Tun und Lassen als fehlbar, endlich und vorläufig begreifen.

Diese Einstellung ist eine grundlegende Bedingung für eine auf Demokratie und Frieden ausgerichtete Politik. Darum ist es kein Zufall, dass sich das deutsche Volk in der Präambel des Grundgesetzes dazu verpflichtet, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Es ist sehr bedauerlich, dass diese Zielorientierung in den Debatten um den Ukraine-Krieg kaum zitiert wird. Denn diese lässt keinen Zweifel daran, was die vornehmste Aufgabe eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin und ihrer Regierung ist: das vereinte Europa zu schaffen und den Frieden in der Welt zu erhalten. Diese Aufgabe ändert sich nicht dadurch, dass – wie es derzeit der Fall ist – Russland mit seinem entsetzlichen Angriffskrieg die europäische Friedensordnung zerstört. Auch bleibt es das Ziel aller Politik im demokratischen Rechtsstaat, dem Frieden in der Welt zu dienen – also die Bedingungen für kriegerische Auseinandersetzungen aktiv zu bekämpfen. Unbestritten: In der zugespitzten Situation eines militärischen Überfalls gilt das Selbstverteidigungsrecht und die Ermöglichung desselben. Aber für den Staat des Grundgesetzes bleibt die Priorität: die Demokratie zu entwickeln, dem totalitären Autokratismus zu widerstehen, Hochrüstung auf das absolute Minimum zu begrenzen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen. Das sind die „schweren Waffen“, mit denen wir nach innen und nach außen zu streiten haben. Vergessen wir bitte nicht: Zu Samuels Zeiten wünschte sich das Volk einen König, der sie in Kriege führt. Wünschen wir uns demokratisch gewählte Regierungen, die abseits aller militärischen Gewalt dem Frieden dienen. Amen.

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