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Anstand und Gnade

Als am 02. Oktober 2000 ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt wurde, rief zwei Tage später der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf. In Folge dieses Aufrufs kam es an vielen Orten in Deutschland zu Demonstrationen, Lichterketten und weiteren Aktionen. Am 9. November 2000 fand dann am Brandenburger Tor in Berlin eine große Kundgebung statt mit 200.000 Teilnehmer:innen. Die anfängliche Vermutung, dass die möglichen Täter des Brandanschlags aus dem Bereich des organisierten Rechtsextremismus stammen, bestätigte sich nicht. Als Täter wurden ein aus Marokko stammender deutscher Staatsbürger und ein in Deutschland lebender Palästinenser überführt. Sie gaben an, dass der Anschlag auf die Synagoge ein Racheakt für einen in Gaza durch die israelische Armee erschossenen Jugendlichen sei. Damit wurde deutlich, dass sich der militante Antisemitismus nicht nur bei rechtsextremen Gruppierungen in Gewaltakten gegen jüdische Einrichtungen entlädt, sondern auch von Migrant:innen insbesondere aus dem arabischen Raum praktiziert wird – was historisch gesehen nicht so überraschend ist, wenn man an die nachhaltigen Auswirkungen des nationalsozialistischen Rassismus in der arabischen Welt denkt.

Warum aber ließen sich im Jahr 2000 nicht nur in Berlin Hunderttausende Menschen mobilisieren, um ein Zeichen gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus zu setzen, während am vergangenen Sonntag nur 10.000 Menschen den Weg zum Brandenburger Tor fanden – und das, obwohl zu der Kundgebung alle demokratischen Parteien, die wichtigsten Verbände und Gewerkschaften, die großen Kirchen aufgerufen hatten – Institutionen, die über Millionen Mitglieder verfügen? Offensichtlich hat sich die gesellschaftspolitische Großwetterlage im Verlauf der letzten über 20 Jahre gewaltig verändert. Offensichtlich erreichen wir („wir“ benutze ich an dieser Stelle ganz bewusst, denn ich bin ein Teil dieser Institutionen) viele Mitbürger:innen nicht mehr – vor allem dann nicht, wenn es um die Verteidigung der Grundwerte unseres Zusammenlebens geht. Offensichtlich ist vielen Bürger:innen das Gefühl dafür abhandengekommen, was in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft akzeptabel ist und was nicht. Offensichtlich ziehen sich immer mehr Menschen voller Misstrauen gegenüber denen, die in ihren Augen „das Sagen“ haben, in ihre kleine Welt zurück, weil sie die Unübersichtlichkeit der globalen Zusammenhänge nicht mehr ertragen können und in ihnen – gesagt und ungesagt – nach wie vor das „Weltjudentum“ wittern. Offensichtlich kann sich nun der immer vorhandene „deutsche“ Antisemitismus hinter dem arabisch-islamischen verstecken.* Offensichtlich geben sich immer mehr Menschen der Illusion hin, dass sich mit ausgrenzender Überschaubarkeit die Probleme von selbst erledigen (Das erinnert an das Kind, dass sich die Augen zuhält und denkt, dass das, was ich nicht sehe, auch nicht existent ist.). Die Folgen dieser Haltung sind unübersehbar: Man erwartet von der eigenen Regierung und den öffentlichen Institutionen, dass diese bitte den Rückzug ins Private absichern mögen, aber von allen Regulierungen und Beanspruchungen des privaten Lebens die Finger lassen sollen – eine widersprüchliche Erwartung, die nicht nur zu Enttäuschungen führt, sondern Grundhaltungen wie Verantwortung für das Gemeinwohl verkümmern lässt.

Was uns das alles lehrt? Politische Strömungen und werteorientierte Institutionen, die vom verantwortlichen Mittun ihrer Mitglieder in der Balance von Freiheit und Bindung leben, haben es derzeit schwer, Menschen an sich zu binden und zu mobilisieren – während Parteien wie die AfD, die Schuldzuweisung, Sündenbockideologie und Ausgrenzung alles Störenden zum Programm erheben, Zulauf, zumindest aber Zustimmung erfahren und nun daran gehen, den Antisemitismus für ihre Anti-Geflüchteten- und -Migrant:innenpropaganda zu vereinnahmen. Was auf der Strecke bleibt, ist nicht nur der Anstand, nicht nur Engagement für das Gemeinwesen, sondern auch der kritische Diskurs, das Bemühen um Verständigung, die Achtung unterschiedlicher Lebensentwürfe und die Akzeptanz von Widersprüchlichkeiten. Innerhalb einer Generation ist unsere Gesellschaft nicht nur diverser geworden. Sie hat vor allem Abschied genommen von vielen Selbstverständlichkeiten und Konsens bildenden Grundüberzeugungen. Diese werden im Sekundentakt insbesondere in den digitalen Netzwerken zerschossen und durchlöchert. Die Herausforderung vor der wir stehen: Wie lässt sich der entstandene Flickenteppich als ein Ganzes verstehen, ohne dass er unter einer braunen Folie verschimmelt? Wo finden wir den Roten Faden, mit dem Unterschiedlichkeit zusammengehalten werden kann und Unübersichtsichtlich nicht zur Verblendung führt, das Heil im Unheil finden zu wollen? Können wir Vielfalt und Vertrauen in so in Einklang bringen, dass Menschen Herausforderungen und Krisen nicht als Bedrohung ihrer Existenz sondern als Bewährung der Grundwerte erfahren. Verordnen lässt sich das nicht. Aber jede:r kann dazu beitragen, dass Menschen darin gestärkt werden, in den Verwerfungen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens den Keim des Guten zu entdecken, ohne andere zu Sündenböcken zu machen. Das ist nicht nur Ausgangspunkt und Grundlage jedes Anstands, es ist die säkulare Erklärung dessen, was wir Juden, Christen und Moslems Gnade Gottes nennen.

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* Eine Säule des militanten Antisemitismus ist die in allen Variationen verbreitete Mär: Gäbe es den Staat Israel nicht, gäbe es keine Probleme im Nahen Osten. Also ist Israel die Ursache alles Übels.

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18 Antworten

  1. Höchst erstaunlich: Unser Dauerkommentator AS vergeht sich an Mutmaßungen, fast in kriminalistischer Manier, spekuliert, wer sich hinter: NUR EIN DON QUIJOTE verbirgt und frohlocket mit seinem Spürsinn-Ergebnis: Michael Käfer. Wirklich bemerkenswert: AS spekuliert, was ansonsten bei seinen voluminösen Kommentaren nie stattfindet.
    Schönen Dienstag Herr Schwerdtfeger – wozu Sie so fähig sind, wahrlich erstaunlich!

  2. Gegen die von u. a. Russland, Nordkorea, der Türkei, Saudi-Arabien und Palästina, eingebrachte UN-Resolution A/ES-10/L.25, die den Hamas-Terror nicht ausdrücklich verurteilt, stimmten am Freitag nur 14 Mitgliedsstaaten – außer Israel und den USA nur kleinere Staaten wie Kroatien, Ungarn (!), Tschechien und Österreich. Deutschland gehört zu den 45 Staaten, die sich enthielten. Man könne der Resolution nicht zustimmen, weil sie „den Hamas-Terror nicht klar beim Namen nennt, die Freilassung aller Geiseln nicht deutlich genug gefordert und das Selbstverteidigungsrecht Israels nicht bekräftigt“, erklärte das Auswärtige Amt.

    Die weit überwiegende Zahl der Pressestimmen kritisiert das ebenso wie der israelische Botschafter in Deutschland:

    „Viel Kritik erntete Annalena Baerbock für ihre Ankündigung, eine „werteorientierte“, ja „feministische“ Außenpolitik betreiben zu wollen. Hauptsächlich von rechts erinnerte man die Außenministerin daran, dass Nationen Interessen hätten, keine Freunde, dass Außenpolitik vor allem Realpolitik zu sein, das heißt, den Interessen des eigenen Landes zu dienen habe. Spätestens seit Freitag müssten diese Kritiker mit Baerbock zufrieden sein. Denn Deutschland ließ bei einer Abstimmung in der UN-Vollversammlung den Freund Israel im Stich, um sich bei Leuten einzuschmeicheln, die unserem Land nützlich sein könnten.“ © ZEIT https://ogy.de/yij2

    Typisch für das Chaos in der Bundesregierung:
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    „Deutschland lächerlich“
    Ärger über Baerbocks UN-Enthaltung auch in Ampel

    FDP-Chef Christian Lindner distanzierte sich von dem deutschen Votum indirekt. Er sei in die umstrittene Entscheidung nicht eingebunden gewesen. „Ich hatte mit Frau Baerbock noch keine Gelegenheit zu sprechen, welche Abwägungen zu diesem Abstimmungsverhalten geführt haben“, sagte er am Abend in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. © n-tv https://ogy.de/1dq8
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  3. Drei Redebeiträge der letzten Woche in Leipzig haben mich nachdenklich gestimmt:

    1. Beim Solidaritätskonzert für Israel in der Peterskirche sagte OBM Jung, ihn störe, dass in den aktuellen Diskussionen ganz oft ein „ABER“ zu hören sei
    Natürlich habe Israel ein Recht auf Selbstverteidigung, ABER…
    Natürlich ist Russland der Aggressor gegenüber der Ukraine, ABER…

    2. In seiner Gedenkrede für Werner Schulz in der Uni sagte der frühere Aussenminister Markus Meckel, dass Schulz stets zu seinen Überzeugungen und seiner Argumentation gestanden habe – gegen alle Widerstände und Intrigen (aus den eigenen Reihen, oder vom politischen Gegner). Und dass er weiter engagiert blieb, auch wenn er für seine Standpunkte momentan keine Mehrheiten fand

    3. Beim „Abendlob“ in der katholischen Kirche wurde die (mündlich überlieferte) Fabel „das Gras ist blau“ erzählt. Darin sagt der Esel zum Tiger: das Gras ist blau; der Tiger entgegnet: nein, es ist ganz eindeutig grün. Sie beschließen, ihren Streit vom König der Tiere, dem Löwen, schlichten zu lassen. Dieser bestätigt dem Esel, das Gras ist blau. Daraufhin fordert der Esel eine Bestrafung des Tigers; der Löwe bestraft den Tiger mit einem vier-wöchigen Kommunikationsverbot. Nach dessen Ende fragt der Tiger den Löwen nun seinerseits, welche Farbe das Gras habe. Selbstverständlich ist es grün, antwortet dieser. Aber warum hast Du mich dann bestraft? Weil Du mit einer völlig überflüssigen und dummen Frage, deren Antwort Du kanntest, zu mir gekommen bist und mir so wertvolle Zeit gestohlen hast.

    Flapsige Bemerkungen, wie die von R.-D. Precht
    ich bin ganz sicher kein Antisemit, aber streng gläubige Juden dürfen keinen Beruf ausüben, ausser ein paar Finanzgeschäften und Diamanthandel,

    oder alberne Aussagen von H. Aiwanger
    ich erinnere mich nicht, wie das Flugblatt (das angeblich sein Bruder verfasst hat), in meine Schultasche kam; das alles ist ja ohnehin nur eine Jugendsünde

    zeigen, wie weit (zumindest latenter) Antisemitismus bei uns (schon wieder/immer noch) zur gesellschaftlichen „Normalität“ gehört!

    Und ja, es stimmt vermutlich, die Mehrheit unserer Bevölkerung meint, die gegenwärtige Ampel-Regierung sei die schlechteste aller Zeiten. Bei aller Kritik, die auch ich an ihr habe, muss ich aber konzedieren, dass sie immer wieder mit großen Krisen von aussen und dem Austarieren der Interessengegensätze der Dreier-Koalition konfrontiert wird; das hat sie nach meinem Eindruck bisher einigermaßen ruhig und sachlich angepackt und teilweise auch gelöst (z.B. Corona, Energiekrise infolge des Ukraine-Krieges, Aufnahme von Flüchtlingen, Neuordnung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit).
    Sehr gefreut habe ich mich, dass sich nach längerer Zeit in diesem Blog wieder eine Frau zu Wort gemeldet hat. Sie sollte sich nicht entmutigen lassen von „sachlichen Argumenten“ wie
    „… Ihre Aussagen sind … im luftleeren Raum richtig“ , „konkrete Entschlüsse … fallen (aber) auf der Basis von Weltsichten“, oder
    „eine Diskussion darüber …, wie man sich das Zusammenleben von Juden und Palästinensern … vorstellen soll, … das sind für die liebe Frau … offenbar Spitzfindigkeiten“!

    1. Na, da erkennen wir ja einen alten Freund, der aber kein Freund sein will – alte Meinung unter neuem, Namen. Ich freue mich, daß er zustimmt, daß man sich von sachlichen Argumenten anregen und nicht entmutigen lassen sollte. Die Spitze durch Anführungsstriche ist sicher seinem ausgeprägten Anstandsverständnis geschuldet.
      Andreas Schwerdtfeger

  4. Teil 2: Zum Thema: Was uns das alles lehrt?
    lieber Herr Wolff,
    Was Sie da als ausgehend von der niedrigen Beteiligung am Aufruf „gegen Antisemitismus und Rassismus“ beschreiben, scheint mir ein generelles Thema unserer Gesellschaft zu sein, kein spezifisches. Als Ursache mache ich folgendes aus:
    1) Eine Allgemeine Überforderung der Menschen. Als ich neulich mit jemandem über Amazon sprach und sich eine unterschiedliche Sicht andeutete, antwortete mir dieser: Darüber diskutiere ich mit dir nicht. Ich habe genug Probleme im Beruf und in meinem Leben. Ich kann nicht die ganze Welt retten. Schluss aus. Ähnliches passierte mir beim Thema Energiewende. Die Leute passen sich dann blind einer Gruppe an, der sie sich zugehörig fühlen und in der man so denkt. Sie lassen sozusagen denken und übernehmen die Argumentation.
    Wenn dann Parteien bestimmte Lücken lassen und Probleme nicht aufgreifen, dann greifen diese Leute diejenige Gruppe auf, die vermeintlich diese Lücke füllt. (so die AfD). Das gelingt so lange, wie diese Gruppierungen nicht sachlich entlarvt werden (so sinngemäß Theo Waigel bei Markus Lanz am 27.10.23). Bloße Beschimpfen und Pauschalierungen nützen nichts. Es müssen sachliche Argumente her, die es verhindern sich hinter Sprechblasen zu verstecken. Warnungen hinsichtlich Verfassungsfeindlichkeit u.ä. nützen ebenfalls nicht, solange sie nicht durch die Rechtslage delegitimiert sind. Dies wird als politischer Kampf interpretiert.

    2) Generell scheint es der Individualismus zu sein, der uns in diese Lage gebracht hat. Basis war das Grundgesetz und dessen Auslegung im Laufe der Zeit. Danach hat überspitzt gesagt der Bürger nur Rechte hat und keine Pflichten. Was Würde des Menschen ist (Art. 1) , hatte sicherlich bei der Verabschiedung des Grundgesetzes eine andere Bedeutung als heute. Da gehörte Anstand und Benehmen dazu. Heute ist das nahe der Bedeutung Persönlichkeitsrechte. So jedenfalls wird es häufig empfunden und praktiziert. Alle Versuche auch Bürgerpflichten zu formulieren, sind kläglich gescheitert. Heute kommt (leider) eine solche Diskussion gar nicht mehr auf. Welche Partei würde es wagen? Dennoch meine ich: Der Kant´sche Imperativ gehörte unbedingt ins GG.
    Wir erleben es ja auch in den Kommentaren zu Ihrem Blog, generell in der Praxis, wo betont wird, dass die Corona Vorschriften als Einschränkung der Freiheit empfunden werden.

    3) Jeder spricht von Werten, definiert Sie aber nicht, was er meint und aus welchen Gründen. Selbst bei den Kirchen gibt es Problemen. Ich erlebte persönlich, wie ein namhafter Vertreter einer Landeskirche allen Ernstes die Frage stellte, ob es christliche Werte gäbe. Eine Pfarrerin in Ruhe stellte in einer Runde allen Ernstes die Frage, ob es richtig sei, sich auf die 10 Gebote zu berufen als Basis.. Für Interessenten kann ich empfehlen: Ewald Alles: Anmerkungen zu den christlichen Werten (bei Amazon).

    Zum Schluss kann ich nur zustimmen, wenn Sie schreiben: ..Jeder kann dazu beitragen, dass Menschen gestärkt werden…den Keim des Guten zu entdecken, ohne andere zu Sündenböcken zu machen. Das ist nicht nur Ausgangspunkt und Grundlage jedes Anstands, es ist die säkuläre Erklärung dessen, was wir Juden, Christen und Moslems Gnade Gottes nennen.
    ABER nach meinem laienhaften Verständnis ist es so: Die Gnade kommt nach dem Tun im Hier und Jetzt: Bei den Juden orientiert sich das Tun nach der Tora, schwerpunktmäßig dem Alten Testament und den Verheißungen. Beim Islam kann die Gnade durch ein gottgefälliges Leben erwirkt werden (und was das ist, wird bei einigen verkündet). Bei den Christen gibt es auch eine Gnade, die kann aber durch das Tun hier und jetzt nicht bewirkt/verdient werden. Manche interpretieren das als : Ich weiß es nicht, alles ist Gnade und erhalten dann noch den Hinweis: Gott hat ein weites Herz…

    1. Lieber Herr Tesche, ein paar kurze Bemerkungen zu Ihren drei Punkten:
      1. In Michael Endes großartigem Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ taucht der Scheinriese Tur Tur auf. Als Jim Knopf ihn aus der Entfernung entdeckt, bekommt er wahnsinnige Angst. Doch je näher er dem Scheinriesen kommt, desto kleiner wird dieser – bis er schließlich vor einem gütigen, alten Herrn zu stehen kommt. Das ist ein wunderbares Gleichnis für das, was Angst nehmen und neue Übersicht verschaffen kann: den Problemen nahe kommen und sich von ihnen nicht abschrecken lassen. Die Rechtsnationalisten von der AfD gehen ja den umgekehrten Weg: Sie machen die Probleme noch größer und bieten als Problemlösung die Problemvernichtung an.
      2. Zunächst ist der Invidualismus eine große Errungenschaft, die wir nicht zuletzt der Refomration verdanken: der Mensch allein vor Gott. Natürlich hat der Mensch Rechte und Pflichten – nicht nur aufgrund des Gebotes der Nächstenliebe, sondern auch durch die Grundrechtsartikel des Grundgesetzes. Denn alles, was im Grundgesetz steht, gilt nicht nur für mich, sondern auch für den anderen. Immer geht es um die Balance von Freiheit und Bindung/Verantwortung.
      3. Der Wertekanon des Grundgesetzes ist nicht beliebig – genausowenig wie die 10 Gebote. Dennoch muss immer wieder um Auslegung und Anwendung gerungen werden. Das ist kein statischer, sondern ein dynamischer Prozess.
      Zum Schluss: Gnade kann nicht erwirkt werden. Wenn es so wäre, dann wäre es kein Gnade, sondern eher Belohnung, also berechenbar. Doch Gnade zeichnet sich dadurch aus, dass mir etwas ermöglicht wird, was im krassen Gegensatz zu dem steht, wie ich bisher lebe oder gelebt habe. Gnade Gottes ist eben nicht berechenbar, d.h. ich kann auf sie hoffen, um sie bitten, aber ich habe keine Garantie, sie zu erfahren.
      3.

      1. Lieber Herr Wolff,
        zu Ihren 3 Anmerkungen :
        1) Scheinriesen: Wie erkenne ich denn einen Scheinriesen? Sicher nicht damit, dass andere ihn als solchen bezeichnen und mich damit im Wesentlichen erschöpfe. Der Andere erkennt das nicht. Er sieht das anders. Mir scheint die Strategie von Theo Waigel daher richtiger: Argumentation in der Sache, entlarven. Sonst erreicht man das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt. Die Leute empfinden das als unfairen, politischen Kampf. Sie erinnern sich, dass „die Grünen“ auch lange geächtet wurden.
        Im übrigen muss man doch bei aller Abneigung und Gefahr zugestehen, dass diese Scheinriesen für einige zum Riesen werden, weil andere bestimmte Themen Kleinreden oder nicht sehen wollen (siehe Integrationsprobleme bei der Zuwanderung incl. Import von Antisemitismus ).
        2) Individualismus: Mit allem einverstanden, aber sehen das alle so, dass es immer um die Balance von Freiheit und Bindung/Verantwortung geht? Sie selbst beklagen ja, dass die Leute nicht mitmachen, sich nicht einbringen etc. Warum, weil der Trittbrettfahrer keinen Nachteil hat und er unter dem Eindruck steht, das stände ihm ja auch zu. Wo steht, dass er das…nicht darf? Daher meine Forderung nach einem Kant’schen Imperativ im GG als Idee.
        3) Gnade: Sie haben völlig Recht. Aber mein Punkt war ein doppelter: 1) Diese christliche Sichtweise führt zum einen dazu, dass der Christ es vielleicht mit einigen Geboten und Botschaften auch nicht so genau nimmt, insbesondere wo die Gnade Gottes in den Vordergrund gerückt ist. Dabei besagt Mt. 7,13,14 genau das Gegenteil. Das hört man kaum. Vielleicht nehmen viele Christen manches auch zu leicht. „2)Beim Islam steht eher die Belohnung im Vordergrund ( und in die Geistlichen, z.T. politisch ausgerichtet, sagen ihnen, was zu tun ist). Bei den Juden steht nicht so sehr die Barmherzigkeit im Vordergrund… . Alle hoffen auf Gott und die Gnade, aber alle 3 Religionen sehen den Weg dahin anders. Es liegt nahe anzunehmen, dass sie deswegen sich auch unterschiedlich heute verhalten. .

  5. Lieber Herr Wolff,
    ich finde, man muss nicht zum Ergebnis kommen, wie Sie, dass die sehr geringe Beteiligung an der als Großdemo angekündigten Veranstaltung trotz des Aufrufs aller namhaften politischen und gesellschaftlichen Player zu den größten Besorgnissen Anlass geben muss. Ich denke es gibt auch eine andere Sicht.

    Ich kenne die Aufforderung selbst nicht. Folge ich Ihrem Blog, dann ging es um eine Demo gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus im Zusammenhang mit dem schrecklichen Terrorangriff auf Zivilisten in Israel der als Angriff auf Israel interpretiert werden muss.

    Bei den Wörtern Antisemitismus und Rechtsradikalismus handelt es sich – so wie es inzwischen angewendet und praktiziert wird – um Kampfbegriffe, die gewollt Menschen ausgrenzen wollen.
    Im vorliegenden, mit Recht zu verdammenden und zu ahnendem Fall, ging es zwar vordergründig um den Angriff auf Zivilisten, im Kern aber um einen Angriff auf den Staat Israel. Dieser Anlass war ein völlig anderer als im Jahr 2000 als der führungsstarke Bundeskanzler Schröder zu einer Demo wegen eines schändlichen Anschlags auf eine jüdische Mosche aufrief. Darauf beziehen Sie sich ja. Damals ging es nicht um den Angriff auf einen Staat und seine Grundfeste, sondern um eine in Deutschland begangene Tat, an dem ein Deutscher beteiligt war. Die Schuld und das Empfinden der Deutschen waren anders. Man schämte sich und empfand Mitschuld, dass so etwas wieder geschehen konnte.
    Hier war das Wort Antisemitismus auch voll angebracht, wurde aber nicht als Aufruf benutzt. Schröder als PR_ Mann veranlasste „Aufstand der Anständigen“.

    Der Terrorangriff Anfang Oktober ist eher vergleichbar mit dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Auch hier gab es Demos. Lt. Wikipedia (Proteste gegen den russischen Überfall auf die Ukraine 2022) haben Hunderttausende im Berliner Regierungsviertel unter dem Motto „Stoppt den Krieg! Frieden für die Ukraine und ganz Europa“ demonstriert. In Köln gingen über 250 000 Menschen auf die Straße.
    Also: Sie zwar einen unglücklichen Vergleich gewählt, aber dennoch den Finger in die Wunde gelegt. Aber was ist die Wunde?

    1)Das Wort Antisemitismus in dem jetzigen Fall des Angriffs auf einen Staat ist völlig fehl am Platz bei uns. Es schneidet nämlich von der Art, wie es in Deutschland benutzt und interpretiert wird nicht nur die Gefahr, sondern fast die Gewissheit ein, dass eine Kritik am politischen Verhalten des Staates Israel ausgeschlossen ist, weil mit dem wirksamen Vorwurf „antisemitisch“ belegt. Ich denke im Jahre 2023 kann man von einem mündigen Bürger nicht mehr verlangen, dass er aus Gründen historischer Schuld mit dem Bekenntnis zum Antisemitismus alles absegnet , was Israel tut .
    Das deckt sicherlich auch nicht die Aussage von Merkel und wiederholt von Scholz, dass Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson gehört. Es muss wie wir das ja auch zu den USA beispielsweise haben, durchaus ein kritisches Verhältnis haben und auch Schritte missbilligen. Erinnern wir uns an den Irak Krieg und die Positionierung durch Schröder. Das verlange ich auch gegenüber Israel.

    Der in den USA lebende bedeutende jüdisch stämmiger Philosoph Martin Walzer schrieb in einem Essay im Dissentmagazin mit dem Titel The Four Wars of Israel/Palestine , dass es vier Kriege gibt: Der erste ist ein palästinensischer Krieg zur Zerstörung des Staates Israel. Der zweite ist ein palästinensischer Krieg zur Schaffung eines unabhängigen Staates an der Seite Israels, der die Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens beendet. Der dritte ist ein israelischer Krieg für die Sicherheit Israels innerhalb der Grenzen von 1967. Der vierte ist ein israelischer Krieg für Großisrael, für die Siedlungen und die besetzten Gebiete.
    DEMO gegen den Antisemitismus! Wäre das die angemessene Antwort in einer DEMO bei dieser Gemengelage?

    Ich finde, ein an den Ukraine-Fall angepassten Aufruf etwa unter dem Motto „Stoppt den Krieg! Frieden zwischen Palästinensern und Juden! Bestraft die Schuldigen!“ angebrachter gewesen oder: „Frieden zwischen Palästinensern und Juden! Israels Sicherheit gehört zur deutschen Staatsräson!

    2) Wenn mit dem Aufruf indirekt oder direkt auch die aufgeputschten Muslime und deren Mitläufer gemeint sein sollten, die den jüdischen Staat vernichten und – ob religiös bedingt oder nicht- wie im Mittleren Osten, alle Juden ausrotten wollen, dann ist eine Demo in einer so emotional aufgeheizten Zeit zwecklos. Hier gehörten klare Gesetze her, die im Rahmen der gewachsenen Meinungs-Presse- und Religionsfreiheit“ durchaus Kritik erlauben, aber Vernichtungsstrategien von Menschen und Gemeinschaften unter strengste Strafe stellen im Extrem Rückführung über Israel nach Palästina. Wenn wir den Holocaust zu leugnen schwerstens bestrafen können, sollte dies auch für den indirekten Aufruhr, Unterstützung zur Vernichtung von Menschengruppen, Staaten möglich sein, speziell wenn es um die jüdischen Mitbürger geht.

    Im Hinblick auf die hier lebenden Muslime muss man aber auch objektiv anerkennen, dass wir zu einem guten Stück uns den Judenhass damit importiert haben und damit ein Problem importiert haben. Das wollten wir und wollen wir sicher nicht. Deswegen muss man auch klar sagen, wenn man mit „antisemitisch eingestellt“ meint, wenn man überhaupt in diesen Kategorien denkt und darüberschreibt.

    3) Wir haben gerade im Zusammenhang mit der Aussage Guterres erlebt wie schockiert die Welt, auch die politische Welt in Deutschland war, als er im Sicherheitsrat sagte, dass der Angriff der Hamas nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat…. Ein solcher Satz in diesem Zusammenhang wäre bei uns als Relativierung, Verständnis für den Angreifer etc. bis hin zu antisemitisch behandelt worden. Ähnliches erlebten wir bei der Abstimmung im Europäischen Rat. Deutschland und Deutschland konnte schließlich die strikte, unbedingte Unterstützung Israels ohne Wenn und Aber nicht durchsetzen. Aber all das war beim Aufruf zur Demo noch nicht bekannt. Relativierung gab es nicht. Deutschlands offizielle Position (den USA folgend) war wie im Falle der Ukraine. Ich nenne das das Ausblendeschema: Vergessen wir die Vergangenheit und die Umstände. Einzig zählt der Angriff/der Terrorakt. Das Recht auf Selbstverteidigung wird ausgelöst nach der UN-Charta und die ist dehnbar. Wir unterstützen die Angegriffenen -how long ist takes- . Das Volk denkt hier vermutlich anders, wie wir wissen.
    All das war aber zum Zeitpunkt des Aufrufs in D eigentlich nicht offiziell diskutierbar und war auch nicht beabsichtigt beim Aufruf und war bei der Veranstaltung auch (wie ich auszugsweise bei Phoenix erlebte) nicht Gegenstand. Es lief nach dem Ausblendeschema.

    Glaubt jemand, dass man bei dieser Gemengelange mit dem Schulterschluss mit dem Begriff „Kampf dem Antisemitismus „ in Deutschland antworten muss? Ich meine nein und wäre unter dem Tenor auch nicht hin gegangen. Ich denke, viele Bürger dachten so. Daraus muss man nicht folgern, dass viele Menschen grundsätzlich misstrauen, gegen die das Sagen haben ausdrücken, weil sie ..das Weltjudentum wittern. In diesem Fall sahen sie vermutlich das Dilemma der deutschen Politik und wollten so antworten, wie sie es sonst auch getan hätten.

    Vor diesem Hintergrund sehe ich nicht, kann ich mich Ihren düsteren Vermutungen stimmen, nämlich
    • Dass das Fernbleiben ein Zeichen das Fehlen für das richtige demokratische Gefühl darstellt
    • Ein Verstecken des immer vorhandenen deutschen Antisemitismus hinter dem arabisch-islamischen ist. Der Terror ist zwar klar und eindeutig. Das Selbstverteidigungsrecht Israels ebenso. Da gibt es sicherlich keinen Dissens. Aber alles lässt sich nicht mit „Tod dem Antisemitismus“ ausdrücken. Schließlich ist das alles „nicht in einem luftleeren Raum „ geschehen.

    Wo Sie Recht haben, dass immer mehr Menschen ins Private verflüchtigen wollen und für das Gemeinwohl nicht zur Verfügung stehen.

    Warum in diesem Zusammenhang wie Sie schreiben, es auch um den Rechtsradikalismus gehen sollte, obgleich es primär um die Unterstützung von Israel ging, erschließt sich mir unmittelbar nicht.
    Da hatte man sich Gutes falsch vorgenommen

    1. Lieber Herr Tesche, vielen Dank für Ihre kritischen Anmerkungen. Aus denen geht hervor, dass die Schwierigkeit, sich politisch zu positionieren, in den sehr unterschiedlichen Perspektiven liegt, mit denen man auf den Israel-Palästina-Konflikt blicken kann. Insofern kann ich einigen Ihrer Argumente durchaus zustimmen. Widersprechen möchte ich Ihnen aber darin, dass es sich beim Thema Antisemtismus und Rechtsradikalismus um Kampfbegriffe handeln würde. Nein, beide Begriffe beschreiben politische Haltungen, die man auch ziemlich genau beschreiben kann. Antisemtismus ist dann gegeben, wenn mit Kritik an Israel und am Judentum zum einen das Bedienen von Stereotypen und zum andern Vernichtungsabsichten verbunden sind. Das bedeutet: Die Kritik an der Politik der jetzigen Regierung Israels ist nicht nur erlaubt, sondern geboten und wird ja auch in Israel selbst betrieben. Nur: Der Unterton, der leider zu oft mitschwingt „Wir hätten die Probleme im Nahen Osten nicht, wenn es den Staat Israel nicht gäbe“, dieser Unterton ist in höchstem Maße antisemitisch und verbietet sich. Darum kann ich Solidarität mit Palästina nur unter der Bedingung ausüben, dass gleichzeitig das Existenzrecht Israels gewahrt bleibt. Wenn Sie das aber auf einer Kundgebung äußern, sehen sie sich massiver Kritik ausgesetzt.
      Was den Antisemitismus in der arabisch-islamischen Welt angeht, so ist dieser zu einem erheblichen Teil auch ein Erbe der nationalsozialistischen Judenfeindlichkeit. Das sollten wir nie vergessen. Insofern muss das Thema Rechtsradikalismus auch jetzt eine erhebliche Rolle spielen.
      Beste Grüße Christian Wolff

  6. Die „braune Schimmelfolie“ und der „Rote Faden“ (mit kapitalem R) – das ist also die Entscheidung, vor der wir stehen, lieber Herr Wolff? Ich sehe eher die beiden „Ws“ auf der gleichen Seite: Weidel und Wagenknecht sind beide Sackgasse und nicht Lösung! Aber so haben Sie es sicherlich nicht gemeint.
    Sie fordern Anstand – und als erstes will ich Ihnen danken, daß Sie diesen zunächst einmal hier im Blog endlich durchgesetzt haben (wenn es hält, was ich hoffe).
    Auch diesem Beitrag von Ihnen stimme ich zu. Allerdings sehen wir jetzt bereits, was ich vor kurzem als Gefahr beschrieben haben: Die Umkehr von Opfer und Täter durch die Öffentlichkeiten; die Unterwerfung auch der internationalen Organisationen unter die Macht der Bilder anstatt die Macht der Tatsachen und Entwicklungen; die Zeitfalle, in die öffentliche Meinungen in ihrer Ungeduld stets fallen und die das Urteil trübt; und die Heuchelei – leider – einiger politischer Institutionen und Vertreter durch die auffällige Diskrepanz von Äußerung und Tat.
    – Haspelmath versucht uns einzureden, daß eine politische Meinung – Antiamerikanismus zB – unter dem Postulat der Meinungsfreiheit gleichzusetzen sei mit einer rassistischen Attacke auf eine andere Religion, Antisemitismus. Und es fehlt mir hier ein bißchen der Protest der Anständigen!
    – Schlimmer: Unsere Regierung postuliert wortreich die Unterstützung Israels als „deutsche Staatsräson“. Und dann ENTHÄLT sie sich in den VN bei einer Abstimmung über eine anti-israelische Resolution. Israel wird sich keinen Illusionen hingeben über den Wert der deutschen Unterstützung und die ganzen Phrasen wie „wir stehen an der Seite Israels“. Und die Terroristen aus Gaza, Südlibanon, Syrien, etc, werden ebenfalls ihre Schlüsse ziehen. Schliesslich ist auch das Signal an die Anti-Israel-Demonstrierer hierzulande nicht gerade das, was die Regierung angeblich vertritt.
    – Die EU hat erneut versagt. Eine nach langer öffentlicher Qual verabschiedete Entschliessung, die inhaltlich sowieso der Lage nicht gerecht wird, wird sofort hinterher öffentlich widersprüchlich zerredet in einer Art, die nur eines zeigt: Die EU ist kein politischer Faktor von Gewicht. Zusätzlich ist ein solches Auftreten der EU leider Wasser auf die Mühlen der Rechten in Europa, die ja die Unfähigkeit der EU populistisch erfolgreich ausschlachten.
    – Am Rande: Thunberg hat sich entlarvt. Ihre Organisation hat die Unschuld verloren und sich ins Abseits gestellt. Neubauer ist zu loben, daß sie sich distanziert – reichen tut das nicht.
    Sie beklagen zu Recht, daß in den menschlichen und staatlichen Beziehungen unserer Welt der Anstand zunehmend auf der Strecke bleibt. Haspelmaths Kommentar, daß dies eine Folge der Überforderung der Menschen und daraus resultierender Angst sein mag, ist nachvollziehbar. Kritik an den Medien, die diese Entwicklung dadurch fördern, daß sie von Sensation zu Sensation springen, daß sie Bilder über Sachlichkeit setzen, weil diese Quoten bringen, ist auch dann berechtigt, wenn man den Journalisten und Redaktionen zubilligt, daß auch sie – und teilweise in erheblicher persönlicher Gefahr – dieser Überforderung unterliegen. Die „Akzeptanz von Widersprüchlichkeiten“ und daraus folgend dann eine sachliche Auseinandersetzung MIT Lösungsorientierung anstatt von aggressivem, rechthaberischem Geschrei auf der Strasse (mißbräuchlich als Wahrnehmung des Rechts auf Versammlung bezeichnet) ist leider keine Stärke der demokratischen Gesellschaften mehr.
    Andreas Schwerdtfeger

  7. Wie beeindruckend ist es doch, daß wir in Haspelmath einen Ritter ohne Furcht und Tadel gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit und der Themenvielfalt in der öffentlichen Diskussion als Medizin gegen den Angstmacher der Monothematik haben. Danke!
    Man kann natürlich auch den Art 3 (3) GG so interpretieren, daß Antisemitismus aus religiöser und rassischer Sicht schon verboten und nicht als Meinungsfreiheit anerkannt ist. Man kann natürlich auch argumentieren, daß es logisch ist, daß Politik und Gesellschaft jeweils diejenigen Themen in den Vordergrund augenblicklichen Denkens, Handelns und Kommentierens stellen, die die Gegenwart am meisten berühren und am dringensten der Lösung bedürfen. Kein Wunder, dass Menschen sich also abwenden? Wohl kaum – und es bleibt ihnen auch unbenommen, sich im demokratischen Diskurs mit Freunden oder der Öffentlichkeit völlig frei zu anderen Themen zu äussern. Und einen „allmähliche(n) Verlust unserer demokratischen Freiheiten“ kann ich in unserer Gesellschaft auch beim kritischsten Willen nicht erkennen: Wenn überhaupt haben wir einen Exzess an mißbräuchlicher Ausnutzung demokratischer Freiheiten. Aber das ist ein anderes Thema.
    Und, liebe Frau ?, es ist nicht die Schuld der Männer, wenn sich hier Frauen weniger beteiligen, vor allem daß sie es auch noch ohne Namensnennung und mit dem (vielleicht ironischen) Ausdruck eines Komplexes tun: „Erlaubt sich eine Frau auch mal …“. Ich erinnere mich gerne an frühere Kommentare von Frau Binder, zum Beispiel. Ihre Ansicht, daß „heimtückisches Töten“ vorsätzlicher Mord ist, wird hier ja wohl jeder teilen. Genau dies rechtfertigt ja die israelische Reaktion auf den gegen seine Bürger ausgeübten jahrelangen Terror, der jetzt in unglaublicher Brutalität gipfelte – eine Reaktion, die hoffentlich auch zum gewünschten Erfolg, der Vernichtung von Hamas, führen wird. Da nützt es auch nichts, die Darstellung der Entwicklung und „angestauten Problematik“, die zur jetzigen Lage geführt haben, als „Spitzfindigkeit“ zu bezeichnen: Es gibt keine politische Lage im luftleeren Raum. Und Ihre Ausführungen zur Frage, was alles durch nichts gerechtfertigt ist, sind alle in diesem luftleeren Raum richtig – politische Bewertungen aber finden in konkreter Lage statt und benötigen konkrete Entschlüsse, die selbstverständlich auf der Basis von „Weltsichten“ fallen. Alles andere ist doch nutzlose Theorie.
    Ich freue mich auf die weitere Diskussion mit Ihnen, dann sicherlich auch mit dem Mut der Namensnennung.
    Andreas Schwerdtfeger

  8. Auch wenn ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass dies ein Forum ist, in dem sich ausschließlich eine Handvoll Männer gegenseitig die Welt erklärt, erlaubt sich Frau auch mal einen Kommentar.
    Erstens Dank an Herrn Wolff für seine Unermüdlichkeit, relevante Themen immer wieder zur Diskussion zu stellen und für seinen nachdenklichen Umgang mit diesen. Zweitens auch Herrn Schwerdtfeger Dank für seine Ausführungen unter „Solidarität und Haltung“, Herrn Plätzsch für seinen wichtigen Verweis auf Professorin Hoven.
    Trotz mancher Längen verfolge ich die Forums-Diskussion der beteiligten Herren zu den letzten beiden hochaktuellen Themen, sehe mich jedoch nicht veranlasst, dem Weiteres Tiefgündige hinzuzufügen. Nein, was mir bei diesem Austausch irgendwie unterzugehen scheint ist: Das heimtückische und grausame Töten von Frauen und Kindern, natürlich auch von wehrlosen Männern, ist vorsätzlicher Mord, und Massaker ist ein Synonym für Massenmord. Diesen rechtfertigt keine wie auch immer geartete religiöse Überzeugung, keine wie auch immer geartete Ideologie/Weltsicht, keine wie auch immer geartete Herkunft. Da nützen auch keine theoretischen/historischen Spitzfindigkeiten …

  9. Ja, in einer immer mehr von Angst geprägten Zeit gibt es immer weniger Leute, die die demokratischen Rechte aller Menschen verteidigen. Der Jura-Professor Clemens Arzt beschreibt die Aushöhlung unserer verfassungsmäßigen Rechte durch staatliche Institutionen (als eine Art Forsetzung der angstgeprägten Verbote in der Corona-Zeit) hier: https://verfassungsblog.de/pro-palastina-als-unmittelbare-gefahr/. In der Tat ist der allmähliche Verlust unserer demokratischen Freiheiten ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wenn man die politische Zielsetzung auf ein einziges Thema von überragender Bedeutung fokussiert (z.B. Kampf gegen das Virus, Kampf für die deutsche Staatsräson), ist es kein Wunder, dass viele Menschen sich abwenden. Sie wünschen sich eine freiheitliche Gesellschaft, in der die verschiedendsten Belange relevant sind.

    1. Wie bitte soll eine Gemeinschaft funktionieren, wenn jeder das tuen kann, was er für richtig hält? Wo sehen Sie die Grenze zum Schutz des Anderen? (Thema Corona als Aufhänger ,was sie ja erweitern wollen als Prinzip)
      Wäre es Ihnen wohler, wenn auch Bürgerpflichten fomuliert würden?

  10. Die Leipziger Strafrechlerin Prof. Dr. Elisa Hoven hat sich mit der Praxis der Gerichte bei der Anwendung des § 130 Abs, 1 unbd 2 des Strafgesetzbuches – Volksverhetzung in Bezug zu antisemitischer Hetze beschäftigt. Dabei stellte sie fest, dass die Voraussetzung für eine Verurteilung, nämlich dass die Aufstachelung zum Hass oder zu Gewalt-, oder Willkürmaßnahmen in einer Weise getan werden muss, die „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“ – § 130 StGB zu eng und zu missverständlich formuliert ist. Vielfach stellen Staatsanwaltschaften Verfahren mit der Begründung ein, dass sich eine Hassbotschaft nicht gegen deutsche, sondern in Israel lebende Juden richten würde, z. B. bei antisemitischen Kunstwerken auf der Documenta in Kassel. Da die Werke im Ausland geschaffen wurden, sei der Hass nicht zwingend auf deutsche Juden bezogen. Die Studie weist auch darauf hin, dass sich der moderne Antisemitismus bestimmter Codes und Chiffren bedient, die von Staatsanwaltschaften häufig übersehen werden.
    Die Studienmacher regen eine Reform des § 130 StGB an; die Vorschrift muss transparenter formuliert werden, bestehende Schutzlücken müssen geschlossen und antisemitische Beschimpfungen erfasst werden.

    Link zum Paper: https://ogy.de/6sj3

    Link zu Prof. Dr. Elisa Hoven: https://ogy.de/fctn

    1. Herr Plätzsch, haben Sie vergessen, dass in einer freiheitlichen Demokratie auch hässliche Meinungen erlaubt sind? Frau Hoven scheint vorauszusetzen, dass antisemitische Meinungsäußerungen verboten werden sollten – aber das würde unserer Demokratie schweren Schaden zufügen. Dann müsste man konsequenterweise auch antiamerikanische, antirussische und antideutsche Äußerungen verbieten. Aber das wäre das Ende der Meinubgsfreiheit, und das will vermutlich niemand.

      1. Herr Haspelmath,

        Frau Hoven geht es vor allem um Rechtssicherheit. Die Rechtssprechung auf dem Gebiet der Volksverhetzung ist uneinheitlich. Wie eng man den Begriff der Volksverhetzung fasst, ist diskussionswürdig. Jedenfalls ist das Kriterium der Öffentlichkeit relevant. Aufgrund unserer Vergangenheit ist Antisemitismus besonders verwerflich und muss konsequent geahndet werden. Hier muss tatsächlich die Meinungsfreiheit zurückstehen.

  11. Lieber Herr Wolff, ein interessanter Vergleich, den Sie da zwischen den beiden Demos von heute und damals ziehen. Ich wundere mich allerdings weniger als Sie darüber, dass nur 10.000 Leute zu der Demo in Berlin kamen im Vergleich zu den 200.000 vor über 10 Jahren. Damals ging es um eine Untat gegen eine Synagoge in Deutschland, für die wir uns als Deutsche schämen mussten, während es jetzt darum geht, Israel beizustehen gegen den verbrecherischen Angriff der Hamas in Israel selbst. Da helfen keine Demonstrationen, sondern nur Taten. Verunsichernd kommt hinzu, dass wir selbst nicht wissen, wie sich Israel wehren soll, ohne die eigenen Geiseln zu gefährden und sich seinerseits gegen die palästinensische Zivilbevölkerung schuldig zu machen.

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