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Reformation oder Selbstzerstörung

Jedes Jahr erinnert das Reformationsfest daran, dass vor 500 Jahren eine intensive Auseinandersetzung stattfand: auf der einen Seite die um ihr Überleben kämpfende Institution Kirche mit morbiden Machtstrukturen, auf der anderen Seite die Menschen, die Befreiung von klerikaler Bevormundung suchten: das Priestertum aller Gläubigen. In dieser Auseinandersetzung wurde besonders wichtig der freie Zugang zu den Glaubensgrundlagen. Dieser wurde u.a. durch Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche ermöglicht. Damit konnte jede:r – gefördert durch die neuen, der öffentlichen Kritik ausgesetzten Verkündigungsmedien Predigt und Musik – sein Leben eigenständig an der biblischen Botschaft ausrichten. Eine Konsequenz war, dass sich die Menschen in Gemeinden neu zusammenfanden. Kirche wurde nun von unten organisiert. Natürlich geschah dies in einer Gesellschaft, die noch weit entfernt war von dem, was wir heute mit Gleichberechtigung, Demokratie, Meinungs- und Glaubensfreiheit verbinden. Aber mit der Reformation wurden dafür Grundlagen gelegt – nicht zuletzt dadurch, dass in der Frühzeit der Reformation Martin Luther und seine Kampfgefährten die papistisch-autoritären Gehorsamsstrukturen in der Kirche radikal aufbrachen. Allerdings institutionalisierte er später genau solche, leider bis heute wirksame Gehorsamsstrukturen wieder.

Heute befindet sich unsere Kirche wieder in einem Überlebenskampf: eine müde gewordene, teilweise selbstgefällige und weitgehend mit sich selbst beschäftigte Institution, der die Mitglieder davonlaufen, versucht sich als Institution zu retten. Bis 2060 soll sich nach der sog. Freiburg-Studie in Deutschland die Zahl der Kirchenmitglieder halbiert haben, also statt knapp 20 Mio gehören dann der Evangelischen Kirche höchstens noch 10 Mio Menschen an (was von heute her gesehen eher eine optimistische Schätzung ist). Die Folge: In allen Landeskirchen werden seit einigen Jahren Szenarien nach dem ziemlich selben Drehbuch entworfen: In 10 Jahren stehen uns nur noch soundsoviel Kirchensteuermittel zur Verfügung, davon können noch soundsoviele Stellen, Kirchen, Gebäude finanziert werden. Also müssen soundsoviele Gemeinden zusammengelegt, Pfarrstellen gestrichen, Häuser verkauft werden. Inzwischen sind das keine Planspiele mehr, sondern es wird per Verordnung auf den Weg gebracht. Dabei entstehen absurde Konstrukte von „Regionen“ vor allem im ländlichen Raum. Auf der Strecke bleiben die Menschennähe und die Errungenschaften der Reformation: Freiheit, Bildung, Verantwortung. Kein Wunder, dass sich unter den Treuesten der Treuen Frust und Lähmung ausbreiten, und viele (Noch-)Kirchenmitglieder nicht mehr erkennen können, was sie von ihrer Mitgliedschaft haben. Derzeit kommt mir die Institution Kirche vor wie eine Tischlerei, die wegen mangelnder Aufträge Maschine um Maschine stilllegt und verkauft – und sich wundert, dass diese Sanierung nicht zu neuen Aufträgen, sondern zum Niedergang führt – eine sehr teure Selbstzerstörung.

Doch um eine entscheidende Frage wird weitgehend ein großer Bogen gemacht: Warum soll es in 10 Jahren noch Kirche geben, und an welchen Zielen soll Kirche ihre Arbeit ausrichten? Diese Frage kann nicht durch Planungsstäbe in den Kirchenbehörden beantwortet werden. Mit ihr müssen sich die Christ:innen vor Ort, also in den jeweiligen Gemeinden auseinandersetzen und dort um Antworten ringen – unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen. Vor Ort müssen wir uns fragen: Was heißt es denn für eine Kirchgemeinde X, das gemeindliche Leben an Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auszurichten? Was können wir dazu beitragen, dass Menschen sich im Glauben neu beheimaten, dort Orientierung und Zuversicht gewinnen? Wie können wir durch gemeindliche Arbeit den Menschen so nah wie möglich kommen? Wie können wir vor Ort erfahrbar machen, dass jeder Mensch, der dort lebt, ein Geschöpf Gottes ist mit Recht und Würde gesegnet? Was also können Christ:innen dazu beitragen, dass Menschen in aller Unterschiedlichkeit in Frieden leben können, und welche Bündnispartner:innen können wir gewinnen? Solche Fragen müssen im Mittelpunkt all unserer Bemühungen stehen. Erst danach stehen dann die Fragen nach institutionellen Notwendigkeiten und finanziellen Möglichkeiten an. Diese sind – wenn Klarheit in den Zielen herrscht – meistens schon zu mindestens 50 Prozent geklärt. Noch einmal: Solche Prozesse können nicht per landeskirchlicher Verordnung gesteuert werden, sondern nur vor Ort durch die Menschen. Derzeit scheint mir aber, dass wir in den Kirchen wie Gefangene der Strukturen und des Geldes agieren und darüber ganz viel Freiheit, Gottvertrauen, Zuversicht und natürlich auch Anziehungskraft verlieren – und das in einer Zeit, in der Menschen nach solchen Maßstäben und Gewissheiten suchen, die der Glaube anzubieten hat. Dabei erweist sich eine Erfahrung immer wieder als Realität: Wer seine Arbeit vor Ort an Zielen ausrichtet, der gewinnt an Glaubwürdigkeit, Menschen und Ressourcen.

Wenn wir jetzt das Reformationsfest feiern, dann sollten wir an einen wichtigen Impuls der Reformatoren denken: „ad fontes“, zu den Ursprüngen zurückkehren, um von da ausgehend die notwendigen Veränderungen in Gang zu setzen. Konkret könnte dies in Sachsen bedeuten: Jetzt am besten die absurden Strukturpapiere verbrennen wie einst Luther die päpstliche Bannbulle – und neu anfangen: vor Ort, mit den Menschen, Gemeinde bilden und sich dabei an der biblischen Botschaft von Frieden und Gerechtigkeit ausrichten. Niemand muss jeden Unsinn mitmachen – auch das ist eine reformatorische Erkenntnis.

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Siehe auch den Blog-Beitrag vom 16. Dezember 2022 „Vom Niedergang im Scheinwerferlicht und vom Neubeginn im Abseits“

5 Antworten

  1. Ja, ich bin dabei bei der Revolution! Aber wohin wollen wir, was ist das Revolutionsprogramm?

    Was jetzt passiert, in unseren Regionen, ist schrecklich und zerstörerisch
    Über die Ursachen kann man lange diskutieren .Das Kostensparen ist der sichere Weg in die stille Liquidation.
    Auffallend ist, dass der Mitgliederschwund beide Konfessionen betrifft. Wenn Papst Franziskus mit Blick auf den Synodalen Weg erklärt: Wie brauchen keine zweite evangelische Kirche in D, dann heißt das doch wohl, dass die Evangelische Kirche aus der Sicht vieler Katholiken eigentlich das Wesentliche bietet, was sie fordern. Muss man sich nicht fragen, warum die katholischen Gläubigen lieber aus der Kirche austreten, statt in Scharen sich der Evangelischen Kirche zuzuwenden?

    Offenbar bieten beide Kirchen vielen Menschen aus ihrer Sicht keinen Zusatznutzen, für den sie bereit sind zu zahlen. Mir scheint, sie haben die Gelegenheit der Skandale genutzt und es zu einer IN-Bewegung gemacht. Soweit es sich um Kirchgänger handelte wird damit vermutlich auf Generationen der Kontakt zur Kirche gekappt, weil die Kinder ebenfalls entwöhnt werden.
    Mt 24, 3-14 ist hier nicht tröstlich.
    Ich kenne den Königsweg nicht, um die Kirchen zu stabilisieren. Eines vermute ich aber:
    1) Die Volkskirchen komplett aufzugeben und sich stattdessen rein auf das Verhältnis Gott/Mensch zu konzentrieren, mehr das mystische in den Vordergrund zu stellen wie ich das bei Katholischen Vertretern lese und höre (sie P. Schallenberg, Kirche ohne Moral, Paderborn 2023), scheint mir der völlig falsche Weg. Er deckt sich auch nicht mit dem Auftrag Jesus nah Mt 28, 19ff.). Es gibt schließlich auch eine soziale Komponente, damit meine ich die christlichen Werte zu lehren und zu interpretieren, weiterzutragen.
    2) Meine ich, dass die Leute vor Ort unmittelbarer die christliche Barmherzigkeit spüren müssen, Nächstenliebe spürbar zu machen, individuell. Jemand muss sich um sie kümmern. Singkreise…reichen nicht. Ich meine z.B. den Besuch von Älteren, Kranken, Bedürftigen, jungen Müttern.. Das müssen nicht bezahlte Kräfte sein, Freiwillige. Leute die zuhören und nach Kräften Hilfe organisieren. Früher gab es „Gemeindeschwestern“..
    3) Man muss mal einen Blick in die USA werfen und die vielen Evangelikalen im Auge haben. Wieso gelingt ihnen die Mobilisierung der Menschen?
    Vielleicht können auch wir davon was lernen. Lernen sollten wir vielleicht auch bei der Präsentation einiger überkommenen, schwer (bis überhaupt nicht) verständlichen Botschaften.
    4) So lange die Kirche die Bereiche aufgreift und sich gemein macht, die auch Parteien bedienen oder sie im Wettbewerb bestehen muss zu nicht kirchlichen Organisationen (und sich deshalb ökonomisch verhält) , wird die beabsichtigte Revolution nicht gelingen.
    Das Besondere ist vielmehr die Liebe Gottes nahe zu bringen, spürbar zum machen und den Vorteil erlebbar, für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.

  2. Braucht es eine Reformation dieser unserer Kirche? Ich meine ganz entschieden: JA!
    Es wird hohe Zeit! Mehr und mehr höre auch ich: Wo nur ist unsere Kirche? Ja, wo ist sie nur?
    Ich kann nur sagen: Danke, lieber Christian, für diesen Deinen Beitrag zum Reformationsfest 2023!. Dein Jo.Flade

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