ad fontes – zurück zu den Quellen. Dieser Aufruf geht auf Erasmus von Rotterdam (~ 1466-1536), Vater des modernen Humanismus, zurück. Philipp Melanchthon (1497-1560), der erste Bildungspolitiker der Neuzeit, und Martin Luther (1483-1546) haben ihn aufgegriffen und darin einen wichtigen strategischen Ansatz für die Reformation gefunden. Dahinter steht die Überzeugung, dass Erneuerung nur dann möglich ist, wenn wir zu den Quellen, den Ursprüngen des Glaubens und der Kirche zurückgehen. Damals hieß das: zum Wort der Bibel. Damit versuchten die Reformatoren die Ursprünge unseres Daseins freizulegen und alles, was sich an Schutt, Ballast, Glitzer, Glamour, Verlogenheit, Verfälschung darüber geschichtet hatte, beiseite zu räumen. Vor dieser Aufgabe stehen wir auch heute: ad fontes, zu den Quellen, Glaubwürdigkeit gewinnen.
Doch wo verorten wir die Quellen? Auf welche Wurzeln können wir zurückgreifen? An was können wir anknüpfen? Derzeit sind wir vor allem damit beschäftigt, die Zukunft dieser Erde, existentiell bedroht durch den Klimawandel, und das gegenwärtige Leben, eingeschränkt durch die Corona-Pandemie, zu sichern. Die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Aktivitäten überlagern alles. Dabei gerät in den Hintergrund, dass wir uns in einer vielfältig gewordenen Gesellschaft über ein paar wichtige Grundlagen neu verständigen müssen:
- Aus welchen Quellen speisen wir als Gesellschaft und als Kirche unser Reden, Tun und Lassen?
- Aus welchen Quellen schöpfen wir, wenn wir nach Maßstäben des Lebens suchen?
- Verfügen wir über Gewissheiten, auf die wir zurückgreifen und die wir kommunizieren können?
In dem neuen Buch des Publizisten Martin Hecht „Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht“ (Bonn 2021, S. 167) habe ich folgenden Gedanken gelesen: „Je mehr sich in der modernen individualistischen Gesellschaft Werte, Normen und Institutionen abschwächen, desto fragiler wird die innere Sozialordnung, und je mehr sich die Individuen von diesem Gerüst von wertgeleiteten Institutionen und Sozialbeziehungen herauslösen, desto gefährdeter sind sie in einem ganz und gar existentiellen Sinn. Ohne Grundformen sozialer Integration entsteht für den Einzelnen eine individuelle Haltlosigkeit, die er nicht kompensieren kann, weil er sich selbst nicht zu stützen vermag.“
Ohne dass dies seine Absicht ist, beschreibt Hecht in einer Art säkularer Theologie ein wichtiges Aufgabenfeld der Kirche: dem Einzelnen wie der Gesellschaft ein inhaltliches Angebot zu machen, von dem aus „Grundformen sozialer Integration“ entwickelt werden können, um „individuelle Haltlosigkeit“ zu überwinden. Das aber wird nur möglich sein, wenn wir als Kirche ad fontes gehen, unsere Quellen offenlegen – nicht in Abwertung anderer Sinn stiftender religiösen oder ideologischen Angebote. Vielmehr sollen und können wir in einer divers gewordenen Gesellschaft den biblischen Glauben als rettenden Anker und sichernden Poller anbieten:
- leben können – im Angesicht des Todes und der Vergänglichkeit;
- Gelingen ermöglichen und Glück fördern – im Angesicht von Fehlbarkeit des Menschen;
- neu anfangen – im Angesicht von Versagen und Schuld;
- Liebe üben – im Angesicht von erbittertem Konkurrenzkampf;
- Gemeinschaft pflegen – im Angesicht eines radikalisierten Ich;
- Gott die Ehre geben und dem Nächsten dienen – im Angesicht von Totalbespaßung und Tittytainment.
Wir reden häufig vom Bedeutungsverlust der Kirchen und meinen damit, dass der Einfluss der Kirche auf das gesellschaftliche Leben und die Lebensgestaltung des Einzelnen schwindet. Das ist so. Aber damit ist nicht gesagt, dass den Menschen auf Dauer ihr eigenes Ich, ihre eigene „innere Sozialordnung“ genügt. Auch wird eine diverse Gesellschaft nicht ohne eine streitige Verständigung über Grundwerte und Haltungen auskommen – einmal ganz abgesehen davon, dass unsere Gesellschaft derzeit überflutet wird mit ideologischem und religiösem Müll, dessen Quellen eben nicht offengelegt werden. Um beides aber: ein vernünftiges, jederzeit hinterfragbares inneres Krisenmanagement und einen demokratisch erstrittenen Konsens über die Grundwerte des Lebens geht es im biblischen Glauben und insbesondere im Auftreten Jesu. Dieses zu leben und an die nächste Generation weiterzugeben, ist und bleibt der Auftrag der Kirche und Aufgabe des einzelnen Christen in der säkularen Gesellschaft – in Verantwortung vor Gott und den Menschen.
8 Antworten
KEIN Kommentar sondern eine Frage, lieber Christian: kann ich diese Predigt von Fr. Britta Taddiken (Zitat v. Michael Käfer) irgendwo nachlesen oder -hören? Lg Johannes Gerlach Brasilien
Lieber Johannes, Du kannst die Predigt unter diesem Link abrufen: https://www.thomaskirche.org/glauben/predigten-ansprachen-vortraege. Herzliche Grüße Christian
Der Appell, sich regelmäßig der zugrundeliegenden moralischen Gewissheiten eigenen Handelns zu vergegenwärtigen, ist gut und führt sicherlich je nach Weltanschauung zu unterschiedlichen Antworten. Insofern habe ich mich von den Ausführungen in obigem Beitrag nur sehr eingeschränkt angesprochen gefühlt. Heinz Schneiders interessanter Beitrag animiert mich aber, doch ein paar Zeilen zum Thema loszuwerden.
Ich fühle mich durch Herrn Schneiders Anmerkungen in meiner Meinung bestätigt, dass jede auch noch so gut gemeinte Aufforderung zur streitigen Verständigung über Grundwerte und Haltungen aufgrund von Unverbindlichkeit wirkungslos verhallt, wenn sie nicht Machtverhältnisse anrührt. Wie tiefsinning die Worte vom Sieg der Freiheit mit den schrecklichen Folgen für die anderen! Ja, es ist die Freiheit des Fuchses im freien Hühnerstall. Oder wenn er von den machtvoll (!!!) verschütteten Grundwerten der Demokratie schreibt. Und was nützt das Lamento über „individuelle Haltlosigkeit“, wenn es keine Auseinandersetzung über die Ursachen der tiefen sozialökonomischen Verankerung von Margareth Thatcher’s „There is no such thing as society“ gibt? Ich weiß, auch das ist schon hundertmal gesagt worden.
„Die Menschen haben die Wahl zwischen den Utopien des Egoismus und der Brüderlichkeit“ so der italienische Philosoph Luciano Canfora. Die sich für stark halten, haben sich bisher mehrheitlich für den Egoismus entschieden. Also zerstört die demokratische Entscheidung die Demokratie?
Canfora schließt seine „Kurze Geschichte der Demokratie“ mit der Erkenntnis, „dass nämlich in den reichen Ländern die Freiheit gesiegt hat – mit all den schrecklichen Folgen, die das für die anderen mit sich bringt und noch bringen wird. Die Demokratie ist auf andere Epochen verschoben und wird von anderen Menschen konzipiert werden. Vielleicht nicht mehr von Europäern“.
Es ist ja nicht so, dass es in den reichen Ländern Grundformensozialer Integration nicht gäbe. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren einst die Grundwerte der europäischen Demokratien. Heute sind sie machtvoll verschüttet unter 24/7-Werbung, Totalbespaßung, Abhängigkeiten und Ängsten.
Künftige Demokratien können vielleicht nur entstehen, wenn die Abhängigkeiten, die Entfremdungen beseitigt sind. Franziskus Gedanke vom Campesino, der das Recht auf ein Stück Land haben muss, um sich und seine Familie zu ernähren und ein bescheidenes Auskommen zu erwirtschaften, scheint mir der einzig plausible Weg dorthin zu sein.
Das europäische, egoistische Verständnis von Demokratie hat diesen Weg versperrt, weil es die freie Entscheidung gegen das Wachstum, für die Bescheidenheit, für die Brüderlichkeit nicht vorsieht, jedenfalls seit 50 Jahren wieder besseres Wissen nicht ermöglicht hat.
Falls das nur daran liegt, dass die Deutschen und ihre Politiker eine vollkommen harmonische Illussionsgemeinschaft bilden (Harald Welzer zur Bundestagswahl), stellt sich die Frage, wer mit welchen Mitteln diese zu zerstören vermag. Im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern gelingt das einem kleinen Mädchen. Allerdings hatte deren Publikum keine Möglichkeit, auf ein smartphone starrend den nackten Kaiser nicht zu sehen.
Vielen Dank Herr Wolff für Ihre Gedanken zum Reformationsfest 2021.
ad fontes – zurück zu den Quellen, doch wir reden häufig vom Bedeutungsverlust der Kirchen. Das ist so.
Wie weit sich die protestantisch Evangelische Kirche ins Abseits hat drängen lassen (oder selbst hin manövriert hat?), spiegelte sich heute zum Reformationsfest im öffentlich rechtlichen Fernsehen wider. Mit einer skandalös ignoranten Programmpolitik wird hier deutlich zum Ausdruck gebracht, wo die evangelische Kirche eigentlich steht. In welcher Form von Öffentlichkeit werden wir Protestanten mit der Vermittlung unserer Aufgabe überhaupt noch wargenommen, wenn selbst der Reformationsgottesdienst mit der Predigt des EKD-Ratsvorsitzenden Bedford Strom aus Wittenberg (dazu noch am Sonntag!) noch nicht einmal übertragen wird? Man stelle sich so etwas zum katholischen Allerheiligen vor. Undenkbar!
Sehr aufschlussreich in Fragen Mitspracherecht sind auch die Besetzungen der Rundfunk/Fernsehräte, wie beispielsweise der des MDR, dabei ohne jegliche Kontaktierungsmöglichkeit.
Die Überzeugung, dass Erneuerung nur dann möglich ist, wenn wir zu den Quellen, den Ursprüngen des Glaubens und der Kirche zurückgehen heißt aber auch den Finger in die Wunde legen. Damals hieß das: zum Wort der Bibel. Heute heißt das: medial präsent zu sein. Am Abend (Tagesschau) wurde ein knapper Beitrag über die Predigt Bedford Stroms gesendet, in der zu erfahren gewesen wäre wo wir besagte Quellen gerade heute verorten, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Soweit auch meine Gedanken darüber.
Gedanken während und nach dem Reformations-Festgottesdienst in der Thomaskirche:
Ad fontes hat Christian Wolff seinen Beitrag überschrieben – zurück zu den Quellen …. des Glaubens und der Kirche.
Ja, so stelle ich sie mir vor , (die Quellen der) Kirche, stark, streitbar, wahrhaftig, bewegend – so wie heute in der Thomaskirche erlebt!
Britta Taddiken hat uns allen in einer unglaublich kraftvollen Predigt die Augen geöffnet, was es heisst, „Protestant“ zu sein, was „protestari“ in seinem ursprünglichen Wortsinn bedeutet. Die Grundfesten der Landeskirche Sachsen im fernen Dresden müssen gebebt haben ob dieser Wortgewalt und der stringenten Argumentation!
Ich habe noch nie erlebt, dass die anwesenden Gottesdienstbesucher nach einer Predigt spontan Beifall gespendet haben; ich habe aber auch noch nie eine Predigt gehört, die das so verdient hatte, wie die Predigt heute von Britta Taddiken anlässlich des Reformationsfestes!!
Ich erinnere mich an eine andere Predigt von ihr vor zwei Jahren, kurz nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, als sie sagte, wie beschämend es doch sei, dass ein Mitglied unserer Thomasgemeinde (ein Stadtrat der AfD) sich zu der Aussage hinreissen ließ, wie unbedeutend doch die Schüsse auf die Tür der Synagoge im Vergleich zu den Getöteten (Deutschen) seien… Was, wenn H. Ulbrich heute am Festgottesdienst teilgenommen hätte und ein religiöser Spinner hätte mit einem Maschinengewehr auf die Türen der Thomaskirche geschossen?
Ich habe schon sehr lange nicht mehr erlebt, mit welcher Inbrunst die Gemeinde gemeinsam Kirchenlieder singt; zwei Stunden Festgottesdienst vergingen – gefühlt – nicht nur für uns im Fluge…
Anschließend, beim Gemeindefest auf dem Thomaskirchhof und einem Glas Wein beim Griechen um die Ecke, hatten meine Frau und ich noch reichlich Gesprächsstoff….
Dank allen Beteiligten!
Es ist spannend, wie die Chance der Verkündigung in dem Artikel zum Reformationstag gut dargestellt wird. Das Evangelium zeigt einen Weg des Lebens auf, der eben nicht auf Selbstoptimierung oder Beseitigung des Leids oder einfach auf Spaß setzt, sondern der im Vertrauen auf Gottes Güte Verantwortung für das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft wagt. Danke für den Artikel: ad fontes, also: die Bibel lesen und aus ihrem befreienden Geist das Leben in der Gesellschaft wagen.
Lieber Bruder Wolff, Sie haben wieder einen ganz ausgezeichneten Artikel geschrieben „ins Schwarze“ treffend. Gerne werde ich ihn mit voller Zustimmung weiter verbreiten. Auch die Beiträge zum Leipzig-Dresdner-Kirchen-Streit sind verum et dignum. Bleiben dran. Ich gehöre zu Ihren gespannten und aufmerksamen Lesern. (Erinnern Sie sich daran, dass wir. mal 1982 oder 1983 in Mannheim in Sachen der Reformierten Friedenserklärung – „Nein ohne jedes Ja“ – zusammengekommen sind? Seien Sie gut mit sich und bei Trost: Ihr R Wischnath