Aller medizinischer Fortschritt, alle Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen, alle Friedensbemühungen werden nichts daran ändern, dass das menschliche Leben wie die ganze Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen ist. Krankheit, Sterben, Tod gehören von der Geburt an zum Leben. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ lautet eine der wichtigsten Einsichten in der Bibel (Psalm 90,12). Sie soll uns genauso wie das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe vor einer überzogenen Anspruchshaltung bewahren: Mir steht alles zu, was einer Verlängerung des Lebens dient. Nein, wir haben keinen Anspruch auf Leben, schon gar nicht auf ein langes, gesundes Leben. Eine ganz andere Frage ist, was wir tun können und sollen, um die Lebenszeit, die uns gewährt ist, mit Sinn zu füllen und sie nicht mutwillig zu verkürzen.
Unter dieser Voraussetzung sollten wir alles diskutieren, was dem Erhalt des menschlichen Lebens, unserer natürlichen Ressourcen und der Bekämpfung von Krankheiten dient. Auch diejenigen, die ein neues Herz, eine Niere oder Leber erhalten, werden sterben – genauso wie derjenige, dessen Krebserkrankung erfolgreich behandelt wurde, oder diejenige, die sich naturkonform ernährt. Was sie gewinnen, ist geschenkte Lebenszeit. Wem dies nicht vergönnt ist, der hat nichts an Zeit verpasst, dem wurde sie auch nicht gestohlen. Das Außergewöhnliche in unserem Leben ist nicht, dass wir krank werden und früher oder später sterben. Das Außergewöhnliche ist, dass wir heute noch leben. Diesen Zustand zu erhalten, ist Aufgabe der Medizin, einer gesunden Lebensführung, des Einsatzes für Frieden und für den Klimaschutz.
Seit über 50 Jahren besteht die Möglichkeit, durch die Transplantation von Organen Leben trotz schwerster gesundheitlicher Schäden zu bewahren. Das Problem: Dies ist – von der Lebendorganspenden wie einer Niere abgesehen – davon abhängig, dass das Leben eines anderen Menschen zu Ende geht. Derzeit besteht zwischen dem Bedarf an zu transplantierenden Organen und den Menschen, die ihre Bereitschaft zur Organspende erklärt haben, eine erhebliche Differenz. Diese soll nun durch die sog. Widerspruchslösung behoben werden. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der SPD-Bundestagsabgeordneter Karl Lauterbach haben diese als fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf vorgelegt. Damit wird zunächst jede/r Bürger/in zum potentiellen „Spender“ erklärt. Mit „Spende“ hat das aber nichts mehr zu tun. Denn diese beruht auf Freiwilligkeit und auf einer Position, also einer aktiven Bejahung einer Handlung. Mit der Widerspruchslösung wird aber jede/r in die Pflicht genommen, im Todes- und Bedarfsfall seine/ihre Organe zur Verfügung zu stellen. Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass das würdevolle Sterben in den Hintergrund rückt. Denn nun wird jeder Mensch im Todesfall darauf untersucht werden, ob seine Organe sich für eine Transplantation eignen und während des Sterbeprozess (nach Feststellung des Hirntodes) entnommen werden können. Wer das nicht will, muss vorher widersprochen haben. Damit gerät jeder Widerspruch fast zwangsläufig in den Verdacht, moralisch anrüchig zu sein. Denn durch diesen verweigert sich ein Mensch dem hehren Anliegen, durch die Entnahme eines Organs ein Menschenleben zu retten. Zwar wird von den Initiatoren der Widerspruchslösung betont, niemand soll dadurch moralisch abqualifiziert werden. Aber Tatsache ist: Die Einführung dieser Regelung wird damit begründet, dass viele Kranke auf ein Spenderorgan warten. Karl Lauterbach sprach von „Schande“, dass nicht genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird die rhetorische Frage nachgeschoben: Wollen Sie daran schuld sein, dass immer mehr Menschen sterben, weil es zu wenig Spender gibt?, um dann noch nachzuschieben: Jeder kann doch schon morgen zu denen gehören, die auf die Spende eines Organs angewiesen sind. Doch das geht an einer entscheidenden Tatsache vorbei: Ein an Leberzirrhose Erkrankter stirbt nicht deswegen, weil irgendjemand sich gegen eine Organspende entschieden hat. Er stirbt an seiner Krankheit. Karl Lauterbach sprach davon, dass mit der Widerspruchsregelung ein „neuer moralischer Standard“ gesetzt werde: „Wenn man schon nicht spenden möchte, dann soll man wenigstens bereit sein, sich als Nicht-Spender erklären“ – man könnte auch sagen: der muss sich outen. Und das soll kein moralischer Druck sein?
Um nicht missverstanden zu werden: Da es die medizinische Möglichkeit gibt, mit Fremdorganen mit einer hohen Qualität leben zu können, möchte man vielen Betroffenen wünschen, dass für sie ein Organspender gefunden wird – aber bitte nicht auf dem Weg, dass alle Bürger/innen, ohne gefragt zu werden, per Gesetz zu Organspendern erklärt werden und damit der eigene Sterbeprozess in erheblicher Weise funktionalisiert und seiner Würde beraubt wird. Die Begleitumstände einer Organtransplantation sind für Spender und Empfänger so vielschichtig, emotional besetzt, individuell zu beurteilen, dass sich jede Pauschallösung verbietet – von den offenen Verfassungsfragen ganz abgesehen. Denn der Staat darf nicht so grundsätzlich in die individuellen Freiheitsrechte eines Menschen ein- und auf den Körper, den Leib der Menschen zugreifen, wie dies beabsichtigt ist. Wenn er dies dennoch tun sollte, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis jemand eine Organspende einklagt. Doch davor bewahre uns der Gott, der Schöpfer und unsere Verfassung. Denn niemand hat einen Anspruch auf ein langes, unversehrtes Leben, wohl aber auf ein menschenwürdiges Dasein in einer bemessenen Zeit.
7 Antworten
Lieber Herr Wolff,
wie Herr Schwerdtfeger stimme auch ich Ihrem Widerspruch zum Gesetzentwurf der Groko voll zu.
Obwohl es nicht direkt zum Thema gehört, nutze ich die Gelegenheit, Ihnen auch noch einmal für die kritische Würdigung von Antje Hermenaus „Ansichten aus der Mitte Europas – Wie Sachsen die Welt sehen“ vor einigen Wochen zu danken. Nach Ihrem Hinweis habe ich das Büchlein inzwischen mit großem Erkenntnisgewinn gelesen und werde es auch an einige Freunde und Bekannte, die an Sachsen interessiert sind oder dort leben, weiter verschenken. Die Verfasserin macht darin nämlich auf einige typische (Vor-) Urteile aufmerksam, die man aus gutem Grund in Sachsen ablehnt. So wird z. B. verständlich, dass die Erfahrungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ in allen Neuen Bundesländern, besonders aber in Sachsen, viel tiefer sitzen als bei uns im Westen, so dass man dort viel kritischer auf alle Vorschläge aus Berlin oder Brüssel reagiert, die Leistungsgerechtigkeit zu Gunsten von mehr Umverteilung einzuschränken. Auch die Sorgen der im Osten deutlich weniger wohlhabenden Menschen vor einer Bedrohung des Sozialstaats und der eigenen Ersparnisse durch die Nullzinspolitik der EZB und die scheinbar unbegrenzte Zuwanderung von nicht zum Sozialprodukt beitragenden Wirtschaftsflüchtlingen macht Frau Hermenau deutlich, und ich würde mir wünschen, dass die alten Parteien der Mitte, insbesondere die CDU unter der neuen Führung von AKK, das Büchlein lesen, um zu erkennen, wie man wirkungsvoll, besonders in Sachsen die AfD bekämpft, ohne dazu wie in Bayern erst eine neue „Freie Wähler“ Partei ins Leben rufen zu müssen. Nochmals Dank, dass Sie auf diese Neuerscheinung der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig aufmerksam gemacht haben! Ihr Hans v. Heydebreck
Hallo Christian,
Deinem Blog kann ich mit vollem Herzen zustimmen. Nur würde ich den Satz: „der Staat darf nicht so grundsätzlich in die individuellen Freiheitsrechte eines Menschen eingreifen,“ Noch schärfer fassen: Der Staat greift auf den Körper, den Leib, der Menschen zu. Das ist noch konkreter als der Begriff „Freiheitsrecht“.
Herzliche Grüße
Jürgen Kegler
Lieber Jürgen, Danke für diesen Hinweis. Das werde ich aufgreifen und entsprechend ändern. Dein Christian
Genauso „daneben“ ist der „interfraktionelle“ Antrag zum Thema Sterbehilfe. Da haben sich „Hardcorevangelikale“ aus allen Fraktionen angemaßt, über das Lebensende anderer Menschen zu befinden.Statt in aussichtlosen Fällen in Würde sich „verabschieden“ zu dürfen, werden die Betroffenen allein gelassen und müssen zu unwürdigen Methoden des Selbstmords greifen.Niemand weiß wieviel „Verkehrsunfälle“ dadurch verursacht werden.
Schade, daß hier schon wieder einer in maßloser Übertreibung und mit bewußt aggressiver Rhetorik sich verbal austobt – und das bei einem so sensitiven Thema – anstatt sachlich ein Problem abzuhandeln. Es ist genau diese schreckliche Art, jede Diskussion sofort zur „Hysterie“ und zum „Kreuzzug“ und zur persönlichen Diffamierung zu machen, die zur für unsere Demokratie so schädlichen Polarisierung führt.
Gut, lieber Herr Wolff, daß Sie im Gegensatz zu diesem Kommentator einer solchen Versuchung widerstanden haben.
Andreas Schwerdtfeger
Wenn nicht eine handvoll krimineller Professoren, die sich sicherlich gute Einnahmen haben, d.h. abgesichert sind, dann »gespendete Organ« gegen «Unsummen« privat »verscherbelt«, den guten Willen der Organspender zur Verneinung der Spender gefördert haben, wäre es nicht nötig geworden, alle Menschen zur Organspende zu verpflichten. Ein Zwang, der viele willige Spender verärgert hat. So ist der angedachte Weg von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der SPD-Bundestagsabgeordneter Karl Lauterbach, keine Lösung einer Lösung, sondern nur ein unausgegorener Versuch, mehr Organspender zu bekommen.
Heinrich Brandt
Kommunikation-Designer
Düsseldorf
Lieber Herr Wolff,
selten habe ich so mit Ihnen übereingestimmt wie hier. Ich gratuliere Ihnen zu dieser wirklich überzeugenden und in jeder Hinsicht richtigen Argumentation. Ich hoffe – und bin eigentlich auch überzeugt – daß der Spahn/Lauterbach-Entwurf einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhalten wird.
Mit freundlichem Gruß,
Andreas Schwerdtfeger