- Aufmacher der Leipziger Volkszeitung (LVZ) am vergangenen Montag. 08. April 2019: „Organ-Mangel: Jeden Monat sterben zwei Patienten von der Leipziger Warteliste. Chefärzte der Unikliniken Leipzig und Dresden setzen große Hoffnungen auf Widerspruchslösung“ – als ob diejenigen, die ihre körperliche Unversehrtheit auch im Sterbeprozess und im Tod gewahrt sehen wollen, Schuld am Tod von Menschen sind, denen mangels Spender/in kein Organ verpflanzt werden kann (wobei wie selbstverständlich angenommen wird, dass jede Organtransplantation zur Heilung eines todkranken Menschen führt). Dabei müssten wir doch auch darüber sprechen, was die sog. Widerspruchslösung für den Sterbeprozess des Menschen bedeutet, und dass Menschen, bei denen ein lebenswichtiges Organ verfällt, daran sterben und nicht, weil eine medizinische Möglichkeit nicht ergriffen werden kann (siehe auch http://wolff-christian.de/widerspruch-zum-widerspruch-oder-kein-anspruch-auf-leben/)
- Am vergangenen Donnerstag, 11. April 2019, wurde im Bundestag darüber debattiert, ob die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für einen neuen Bluttest auf Trisomie 21 (Down-Syndrom) übernehmen sollen oder nicht. Dahinter steht die Frage, wie das Leben von Menschen mit Down-Syndrom angesehen wird: als Unglücksfall/Krankheit oder eben als Leben, das in seinem Wert jedem anderem Leben gleichgestellt ist. Letztlich geht es um das Problem, wie weit die Selektionsmöglichkeiten in der vorgeburtlichen Phase des menschlichen Lebens vorangetrieben und vollzogen werden sollen. Fatal ist, dass diese Grundsatzfrage in der Diskussion von zwei weiteren Problemen überlagert wird: Ob die medizinischen Möglichkeiten der Pränatal Diagnostik unterschiedslos allen Betroffenen zugänglich gemacht werden sollen – insbesondere dadurch, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten übernehmen. Karl Lauterbach (SPD) hat in der Debatte dieses Gerechtigkeitserfordernis zum eigentlichen ethischen Maßstab erhoben. Doch damit wird eine nachrangige Frage zur Hauptsache erklärt. Das gleiche gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht der Eltern: Ob diesen, vor allem die Frauen, ein Kind, bei dem ein Down-Syndrom festgestellt wird, haben bzw. austragen wollen, die Entscheidung ihnen überlassen bleiben soll.
- In wenigen Tagen wird der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes etliche Verfassungsbeschwerden gegen das strafrechtliche Verbot organisierter Sterbehilfe verhandeln. Die Beschwerden wenden sich gegen den 2015 verschärften Paragraf 217 Strafgesetzbuch (StGB), durch den die Beschwerdeführer ihre Grundrechte verletzt sehen. Sie fordern mehr Freiheit für Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Auch hier werden grundsätzliche Frage aufgeworfen: wie weit wir Menschen in das Leben eingreifen dürfen; welchen Stellenwert das Selbstbestimmungsrecht des Menschen hat; wie wir den Konflikt zwischen der Pflicht, Leben zu erhalten, und dem Wunsch, Sterben zuzulassen, wenn das Leben zur Qual wird, lösen wollen.
Was den drei Problemfeldern gleich ist: Wir bewegen uns auf der Schnittstelle zwischen Tod und Leben. Die einzig richtige oder falsche Lösung gibt es nicht. Allerdings wird immer deutlicher, dass im öffentlichen Diskurs Nützlichkeitserwägungen und Selektionsabsichten in den Rang ethischer Grundpositionen erhoben werden und damit die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 Grundgesetz) relativiert wird. Dieser Artikel wie auch die Grundüberzeugung des biblischen Glaubens, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, lassen keinen qualitativen oder abwertenden Unterschied zwischen Mensch und Mensch zu. Dennoch bauen wir eine solche Differenz immer wieder auf. Während ich diese Zeilen schreibe, wartet die „Alan Kurdi“, ein Schiff der Seenotrettungsorganisation „Sea-Eye“, darauf, einen Hafen in Malta oder Italien ansteuern zu können. Die „Alan Kurdi“ ist das einzige Schiff, das derzeit noch Flüchtlinge im Mittelmeerraum aufnimmt. Vor der libyschen Küste hat die Besatzung des Schiffes 64 Menschen vor dem Ertrinken retten können. Doch das Schicksal dieser Menschen berührt bei uns kaum jemanden. Stattdessen sehen sich die Seenotrettungsorganisationen massivem Druck aus dem politischen Lager ausgesetzt – nicht nur durch den rechtsnationalistischen Innenminister Italiens Matteo Salvini. Sie werden mit Schleppern gleichgesetzt. Jedwede politische Unterstützung durch die Bundesregierung wird ihnen verweigert. Damit wird die Menschenwürde der politischen Opportunität untergeordnet. Eine der Folgen: Das Spendenaufkommen der Organisation ist eingebrochen: „Wenn Kardinal Marx uns allerdings nicht kürzlich 50.000 Euro gespendet hätte, hätten wir nicht auslaufen können. Ohne die Kirchen könnten wir nicht mehr retten.“ So der Vorsitzende von Sea-Eye, Gordon Isler, im SPIEGEL-Interview https://www.spiegel.de/politik/ausland/sea-eye-deutsche-seenotretter-im-mittelmeer-bangen-um-spenden-a-1262516.html. Ein Skandal ersten Ranges – und dennoch weitgehendes Schweigen. Auf der gleichen Ebene liegt der Beschluss des Bundessicherheitsrates, Rüstungslieferungen für Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu genehmigen. Beide Länder sind direkt am Jemen-Krieg beteiligt. Begründet wird das Verhalten der Bundesregierung mit Verlässlichkeit und Vertrauen gegenüber Frankreich und Großbritannien – offensichtlich höhere Güter als die Menschen, deren Lebensgrundlagen die durch die exportierten Waffen zerstört und die getötet werden.
Was an all diesen Ereignissen, die sich innerhalb einer Woche abgespielt haben, deutlich wird: Die Mechanismen, die das Leiden und Sterben Jesu verursacht und vorangetrieben haben, sind auch heute wirksam. Umfassender Lebensschutz und Menschenwürde, die die Grenzen zwischen sozialen Klassen, zwischen Nationen, zwischen Kulturen nicht gelten lassen, werden von uns Menschen in dem Moment als unerträglich angesehen, in dem unsere individuell- oder national-egoistischen Interessen berührt sind. Darum werden auch heute Menschen, die durch Wort und Tat auf diesen Widerspruch hinweisen, kriminalisiert oder verächtlich gemacht. Darum wird dem Volk immer wieder die Alternative angeboten: Jesus oder Barrabas – wir könnten auch sagen: der Nächste oder Ich. Der schwäbische Pietist und Sozialdemokrat Christoph Blumhardt (1842-1919) sagte in einer Andacht vom 16. April 1900: „Der Heiland hat gefühlt, dass er die Kraft hat zu einem wirklichen Menschendasein … Aber daraus erwuchs sein Leiden; denkt nur nicht, der Kreuzestod sei das Hauptleiden Jesu gewesen! … Nein, sein Leiden war, dass er die Kraft zum Leben anderen mitteilen wollte und konnte es nicht.“ Es ist Aufgabe und Chance in dieser Passionszeit, dass wir ganz viel aufnehmen von dieser „Kraft zum wirklichen Menschendasein“, um zum einen den Maßstab der Menschenwürde zu wahren und zum andern die Denkbewegung zu vollziehen, die wir dem Tod und der Auferstehung Jesu verdanken: vom Tod zum Leben. Das wird uns sensibel für gegenwärtiges Leiden, vor allem aber geistesgegenwärtig für die Menschenwürde machen.
4 Antworten
Wir kritisieren mit Recht, daß die Amerikaner auf Waffengesetzen bestehen, die aus dem Jahre 1792 stammen, als es weder Schnellfeuerhandwaffen noch Polizeikräfte gab und es also logisch erschien, die männliche Bevölkerung zur Selbstverteidigung in Milizen zu bewaffnen. Heute sind die Voraussetzungen völlig anders.
Wir kritisieren mit Recht, daß Richter am amerikanischen Obersten Gerichtshof auf Lebenszeit gewählt werden (und somit über Jahrzehnte auch politischen Einfluß ausüben), obwohl diese Bestimmung der US-Verfassung dem 18. Jahrhundert entstammt, als die Lebenserwartung der Menschen deutlich geringer war als heute und sie auf dem Höhepunkt ihrer Weisheit starben.
Es gäbe sicher weitere Beispiele.
Und so erscheint mir die Überlegung vernünftig und notwendig, daß man sich zur Sterbehilfe neu positionieren muß, wenn es den Ärzten und der Medizin- und Pharmaindustrie gemeinsam möglich ist, menschliches Leben extrem zu verlängern. Wir haben das Paradoxon, daß über ungeborenes Leben unter bestimmten, gesetzlich festgelegten Regeln ohne Beteiligung dieses Lebens entschieden werden darf, über in langer Erfahrung gereiftes und selbstbestimmtes Leben von dem Betroffenen selbst aber nicht. Die Lebenserwartung liegt heute durchschnittlich bei fast 80 Jahren (bei vielen also deutlich drüber), während zur Zeit der Formulierung des Grundgesetzes Männer in Deutschland ihren Eintritt ins Rentenalter überwiegend nur um zwei Jahre überlebten. Insofern bedarf es natürlich eines festgelegten Kodex, der Beeinflussung von außen ebenso ausschließt wie spontanes und verwirrtes Handeln – schwierig genug! Aber die Verantwortung für das eigene Leben kann und sollte nicht dem Einzelnen abgenommen werden, wenn er – egal aus welchem Grund – bei voller geistiger Gesundheit und Entscheidungskraft dieses beenden will oder seine Beendigung in bestimmten Fällen festlegt (Patientenverfügung); ihn dann in unsichere oder gefährliche Alternativen zu drängen, ist nicht angemessen. Die Freiheit zu leben schließt die Freiheit zum Suizid ein.
Von dieser Aussage auf die Nazi-Zeit zu rekurrieren halte ich für abwegig, wenn man – wie bei der Abtreibung – ein ethisch vertretbares und mit Mehrfach-Überwachung versehenes System festlegt. Und unumstritten ist der Hinweis, daß der Staat (!) von sich aus keinerlei Initiative ergreifen darf. Er sollte jedoch dem Einzelnen die Freiheit der Initiative ermöglichen. Der Hippokratische Eid bindet die Ärzte und legt ihnen die Verantwortung für die Eidesinterpretation auf. Bei ständig steigenden Lebensverlängerungsmöglichkeiten kann er aber wohl nicht mehr lange alleiniger Maßstab bleiben. Und das Argument der Würde des Menschen, die die Sterbehilfe verbiete, erscheint mir falsch – die Würde des Einzelnen kann aus seiner Sicht eben gerade durch die Verlängerung eines ungewollten Lebens beeinträchtigt werden.
Man kann die sehr gravierenden ethischen und auch praktischen Fragen von heute nicht mit den Argumenten von gestern beantworten; daß es heute dafür keine wirklich überzeugenden Lösungen gibt und daß es wahrscheinlich nie zu unumstrittenen Lösungen kommen kann, ist wohl richtig. Aber der Versuch der Auflösung von Widersprüchen auch in so entscheidenden und schwierigen Fragen muß unternommen werden.
Andreas Schwerdtfeger
Die Widerspruchslösung ist und bleibt grundge-setzwidrig; der grundgesetzliche Anspruch auf umfassenden Lebensschutz muß unteilbar bleiben, insbesondere angesichts der Erfahrungen des Dritten Reiches.
Die aktuelle politische Relevanz der ethischen Fragestellungen ist sehr schön mit Blumhardts wunderbar befreiungstheologische Skizzierung des Lebens, Handelns und Leidens Jesu verküpft worden, aus der, allen politischen Ohnmachsterfahrungen zum Trotz die „Kraft zum wirklichen Menschendasein“ erwächst und zum nachdrücklichen, ja notorischen Eintreten für die Achtung, ja für den Kampf um die Achung der Menschenwürde – wider allen ökonomisch geprägten Selektions- und Nützlichkeitsargumentationen. Danke
Lieber Herr Wolff, bin wieder mal sehr einverstanden mit Ihren grundsätzlichen Gedanken zur „Schnittstelle zwischen Tod und Leben: Die einzig richtige oder falsche Lösung gibt es nicht.“ Und „die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 Grundgesetz)“ und „die Grundüberzeugung des biblischen Glaubens, dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, lassen keinen qualitativen oder abwertenden Unterschied zwischen Mensch und Mensch zu“, wobei Sie sicher auch wie alle christlichen Kirchen die noch ungeborenen Menschen mit einbeziehen wollen.
Wenn wir (als Regierung oder als einzelne private Spender) allerdings Unterschiede zwischen Menschen-Rettungsorganisationen machen, und zwar zwischen solchen,die sich strikt auf die Hilfe an die vielen Bedürftigen in aller Welt beschränken und solchen, die darüber hinaus – ob gezielt oder als Nebenwirkung – die illegale Einwanderung in die EU fördern, so kann ich darin keine qualitativen oder abwertenden Unterschiede sehen. Es mag wegen des Vormarsches des libyschen Warlords Haftar auf Tripolis zwar für das Rettungsschiff gegenwärtig schwierig sein, einen sicheren libyschen Hafen zu finden, aber die „Sea Eye“ und ähnliche Organisationen sollten klar stellen, dass es ihnen allein auf die Rettung von Menschenleben ankommt und nicht auf die damit verbundene Fluchthilfe und dass sie zumindest versuchen, die Geretteten wieder in das Land zurück zu bringen, aus dem sie ausgereist sind. Dann würden viele – so auch ich – sicher wieder gern Spenden an sie leisten. Es würden sich aber sicher auch weniger Menschen auf die gefährliche Überfahrt begeben und in Seenot kommen.
Auch mit Ihrer verkürzten Aussage „der Nächste oder Ich“ bin ich nicht ganz einverstanden und kann nur meine Aussage von vor einigen Jahren in Ihrem Blog wiederholen, dass Christus uns befohlen hat, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben und nicht mehr als uns selbst. Daraus folgt die ethische Begründung der sozialen Marktwirtschaft, durch welche der im Grunde egoistische Markt mit der sozialen (und heute auch mit der ökologischen) Verantwortung kombiniert und durch sie begrenzt wird.
Trotz dieser etwas abweichenden Meinung danke ich Ihnen für Ihre wieder zum Nachdenken anregenden Zeilen zur Karfreitagswoche.
Ihr Hans v. Heydebreck