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Wer „verarscht“ hier wen?

Eigentlich sollte man dieses Wort in einem seriösen Beitrag gar nicht verwenden, genauso wenig wie es ein:e Politiker:in in einer Talkshow tun sollte. Aber nun hat der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer (CDU), am vergangenen Donnerstag den kleinen Tabubruch vollzogen. Bei Maybrit Illner ging er in erregtem Tonfall die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Ricarda Lang, an: „Das ist keine Klimapolitik, das ist eine Verarschung der jungen Generation, denen das wirklich wichtig ist, der Klimaschutz.“ Später warf er dann noch den Grünen und mit diesen der Bundesregierung vor, mit den Klimaschutzmaßnahmen „Planwirtschaft“ zu betreiben und eine „Deindustrialisierung“ Deutschlands zu provozieren. Zu guter, besser: schlechter Letzt plädierte Kretschmer noch für eine „Rettung“ der Pipeline Nord Stream 1. Das alles wenige Tage, nachdem der Weltklimarat der UNO (IPCC) seinen ernüchternden Bericht vorgelegt hat. Nach diesem treten die lebensbedrohlichen Folgen des von Menschen gemachten Klimawandels viel schneller ein als erwartet. Dabei muss präzisiert werden: Die Verantwortung „der Menschen“ für den Klimawandel ist nicht gleichmäßig verteilt. Es sind vor allem die Bewohner:innen der Industrienationen, die durch ihre Lebensweise in den vergangenen 150 Jahren ganz wesentlich zur Erderwärmung beigetragen haben. Von deren Folgen sind aber schon seit Jahrzehnten vor allem die Menschen betroffen, die in unterentwickelten Regionen dieser Erde leben. Hinzu kommt, dass die Rohstoffe aus den Entwicklungsländern ganz wesentlich den wirtschaftlichen Vorteil in Europa und Nordamerika ermöglicht haben; gleichzeitig hat das aber zu den Katastrophen (Dürren, Überschwemmungen, Orkane) geführt, unter denen die Bevölkerungen jetzt leiden.

Das alles weiß ein Michael Kretschmer. Er weiß auch, dass sich große Teile der von ihm beanspruchten „jungen Generation“ seit einigen Jahren gegen die „Verarschung“ derer wehren, die den Klimawandel bis heute leugnen und die, da Regierungsverantwortung tragend, bis 2021 alles versäumt haben, um rechtzeitig die dringend erforderliche Energiewende einzuleiten. Von heute her gesehen, war es eine sehr kurzsichtige, klimapolitisch schon damals nicht zu rechtfertigende Entscheidung, den Braunkohleabbau nach der Friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg fortzusetzen und weiter Ortschaften abzubaggern. Politisch völlig daneben war der nach 2010 bewusst herbeigeführte Niedergang der Solarindustrie vor allem in Ostdeutschland. Da wurden nicht nur 80.000 Arbeitsplätze vernichtet. Das Knowhow wanderte nach China aus. Jetzt müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern. In dieser unaufschiebbaren Verantwortung steht nicht nur die Ampel-Koalition. Dieses muss auch jedem Bürger, jeder Bürgerin bewusst sein. Wir können und dürfen uns falsche Weichenstellungen wie in den letzten 30 Jahren und einen weiteren Aufschub von Richtungsänderungen nicht länger leisten. Dem dienen die Maßnahmen, die u.a. Klimaschutz- und Wirtschaftsminister Robert Harbeck mit dem Gebäudeenergiegesetz auf den Weg bringen will. Dass mit diesem Gesetz bestimmte Heiztechniken wie der Eibau von Öl- und Gasheizungen ab 2024 nicht mehr erlaubt sein sollen, hat mit Planwirtschaft nichts, aber mit Klimaschutz ganz viel zu tun. Die gesetzlichen Vorgaben sind genauso wenig freiheitseinschränkend wie die 1984 gesetzlich vorgeschriebene Pflicht, dass Katalysatoren in alle PKW’s eingebaut werden mussten, die Benzin tanken. Damals geschah dies gegen den massiven Widerstand der Autoindustrie, die aber für den Export in die USA und nach Japan schon längst PWW’s mit Katalysatoren gebaut haben. Auch damals wurde der Untergang der Autoindustrie und der Verlust von Arbeitsstellen in sechsstelliger Zahl beschworen.

Was am Auftritt eines Michael Kretschmer deutlich wird: Er macht sich aus rein opportunistischen Gründen zum Sprecher all derer, die den Abschied von fossilen Energieträgern für falsch, die Einstellung von Nord Stream 1 und 2 für überflüssig und den Klimawandel für relativ normal halten – nach dem Motto: Er wird schon nicht so schnell kommen. So verdrängt er nicht nur die verheerenden Waldbrände in der sächsischen Schweiz im vergangenen Sommer. Er bedient sich dabei auch aller gängigen Klischees: Planwirtschaft, Deindustrialisierung, Verbotspolitik, Freiheitsberaubung. Ideologisch knüpft er an die Denke in Sachsen an, die schon zu Pegida- und Coronazeiten gefährliche Blüten zeitigte. Damit betreibt er genau das Gegenteil von dem, was seine Aufgabe ist: Schaden von der Bevölkerung abzuwenden und diese zu ermutigen, sich jetzt entschlossen einzustellen auf die vor allem positiven Folgen der Energiewende. Sie wird vor keiner Haustür Halt macht – aber langfristig wird sie zu mehr Lebensqualität führen. Dass sich dies alles unter Wahrung der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit vollziehen muss, sollte unstrittig sein. Aber jetzt noch so zu tun, als liege es im Ermessen eines jeden Einzelnen, wie und woher er seine Energie bezieht, ist nicht nur unredlich, sondern auch gefährlich. Denn zun keinem Zeitpunkt hat es der:die Bürger:in allein in der Hand gehabt, wie und womit er heizt und woher er:sie den Strom bezieht. Aber jede:r Bürger:in wird – und zwar ungefragt – betroffen sein von den Folgen, die durch ein weiteres Zuwarten in Sachen Klimaschutz zwangläufig eintreten werden. Insofern war der Auftritt von Michael Kretschmer ein Armutszeugnis für einen Ministerpräsidenten, der nicht nur bis vor Kurzen das wirtschaftliche Heil im Braunkohleabbau sah, sondern offensichtlich mit seiner Aufgabe überfordert ist und darum schon seit Langem notorischen Opportunismus zum Programm erhebt. Dieser verengte Lausitzblick ist weitaus gefährlicher, als jemanden zu „verarschen“. So bleibt die Hoffnung, dass sich die Bevölkerung in Sachsen als weitsichtiger erweisen wird, als ihr derzeitiger Ministerpräsident.

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