Am vergangenen Sonntag hatte ich in der Thomaskirche über einen Abschnitt aus der Passionsgeschichte Jesu nach dem Evangelisten Lukas zu predigen: die Gefangennahme Jesu auf dem Ölberg in Jerusalem (Die Bibel: Lukas 22,47-53). In dieser Szene kommt es zu einem höchst aktuellen Zwischenfall: Als Jesus verhaftet werden soll, greift einer seiner Anhänger in einem Akt der Selbstverteidigung zum Schwert und verletzt einen der Soldaten erheblich. Jesus gebietet dieser Selbstverteidigung Einhalt: „Lasst ab! Nicht weiter!“ (Die Bibel: Lukas 22,51). Laut der Darstellung im Matthäusevangelium soll Jesus gesagt haben: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ (Die Bibel: Matthüus 26,52). Doch Jesus belässt es nicht bei Worten. Er heilt an Ort und Stelle den Schaden, den sein Anhänger mit dem Schwert angerichtet hat. Er legt seine Hand auf das das Ohr des Soldaten. Wie ist dieses Verhalten Jesu im Blick auf die aktuelle politische Situation zu deuten? Heißt das, dass man als Christ auf jeden Fall gegen jede Form von Rüstungsproduktion und Rüstungsexporten, also auch gegen Waffenlieferungen in die Ukraine votieren muss? Oder bestätigt der Ausgang der Passionsgeschichte, nämlich der Tod Jesu am Kreuz, nicht, dass sich wegen Jesu beschwichtigendem Handeln der Aggressor durchsetzt – also Selbstverteidigung geboten ist? Mit diesen Fragen habe ich mich in der Predigt auseinandergesetzt und gespürt, dass gerade die Infragestellung der einfachen Antworten zu einem Erkenntnisgewinn und einer neuen Wahrnehmung von Wirklichkeit führen kann. Gerne verweise ich auf die Predigt und freue mich über eine Diskussion.
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Ich weiß, das derzeit biblische Gedanken im öffentlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs zunehmend eine geringere Rolle spielen. Verstärkt wird das dadurch, dass Kirche und Theologie immer mehr um sich selbst kreisen, statt ihre ureigensten Überzeugungen offensiv in die öffentliche Debatte einzubringen. Das ist umso bedenklicher, als die Abwesenheit von Glaubensinhalten in der öffentlichen Debatte nicht unbedingt zu einem Erkenntniszuwachs führt. Eher verengt sich dadurch der Erkenntnishorizont. Denn vielen Inhalten, die das entstandene Vakuum auszufüllen versuchen, mangelt es an Substanz – allein schon deshalb, weil Grundbedingungen des menschlichen Lebens wie seine Endlichkeit kaum reflektiert werden. So drohen wir bei gesellschaftspolitischen Themen zunehmend in Opportunitätsüberlegungen stecken zu bleiben. Darum möchte ich an ein paar biblische Grundgedanken erinnern:
- Die Bibel unterscheidet grundsätzlich zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf: Der Mensch kann nicht Gott oder Schöpfer sein und darf sich diese Rolle auch nicht anmaßen. Da der Mensch aber den Rollentausch immer wieder vollziehen will und neben sich keine höhere, seiner Kontrolle entzogene Instanz duldet, ergeben sich erhebliche Konflikte. Diese spielen sich aber nicht zwischen Gott und den Menschen ab, sondern im Machtkampf der Menschen untereinander – leider auch in den Religionsgemeinschaften, die sich auf die Bibel berufen.
- Die Bibel geht von der Endlichkeit alles Lebens aus. Das bedeutet auch: Nicht nur mein Leben ist begrenzt, auch unser Planet, das Universum, die Zeit sind endlich. Daraus ergibt sich: Wir Menschen können das Ende, das Sterben nicht aufhalten. Aber wir haben die Aufgabe, bis zum Ende verantwortlich zu leben. Diese Verantwortung speist sich aus dem, was uns nach dem Tod verheißen ist: Frieden und Gerechtigkeit.
- Schließlich geht die Bibel von der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen aus: wissentlich das Falsche zu tun. Darum benötigen wir Gebote, die die negativen Auswirkungen der Fehlbarkeit begrenzen. Wir benötigen aber auch die Gnade, um an diesem Scheitern nicht zu zerbrechen. Oder anders ausgedrückt: Wir benötigen die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch Vergebung.
- Durch den biblischen Glauben wird den Menschen das Rückgrat, das Selbstbewusstsein und auch die Widerständigkeit gestärkt. „Resilienz“ ist das neue Zauberwort für das, was Christen Gottvertrauen nennen: also darauf setzen, dass mein Leben anerkannt und beschützt ist durch den, der mich ins Leben gerufen hat: Gott. Wer über ein solches inneres Krisenmanagement zu verfügt, kann Niederlagen, persönliches Scheitern, Krankheit und Demütigung ertragen, ohne daran zu verzweifeln.
6 Antworten
Ein längerer Flug ist eine gute Gelegenheit, sich mit einem Predigttext auseinanderzusetzen. Die akut bewegende Problematik „Selbstverteidigung“ aber auch die Verheißung neuer Wahrnehmung von Wirklichkeit war Ansporn genug, über den zur Diskussion gestellten Text nachzudenken. Insbesondere war ich darauf gespannt, in wie weit der in Aussicht gestellte Erkenntnisgewinn an religiöse Prämissen gebunden ist und welchen Gewinn eventuell auch ein Nichtgläubiger mitnehmen kann.
Es ist richtig, gewaltsame Selbstverteidigung birgt das Potential zur Eskalation. Wir sehen das dieser Tage. Dass auch der Verteidiger für den Schaden seiner Gewaltausübung verantwortlich ist, hat jüngst Reinhard Merkel in seinen Aufsehen erregenden Essays herausgearbeitet. Im Predigttext wird deshalb in diesem Zusammenhang zu Recht von schuldhaftem Handeln gesprochen, dass keine religiöse Rechtfertigung finden kann. Und es ist zuzustimmen, dass eine moralische Pflicht auch für den Verteidiger besteht, „den immensen Schaden, der von Gewalt ausgeht, zu heilen“. Dafür, wie Gewaltverzicht enden kann, liefert, wie wir lesen können, die Passionsgeschichte ein Beispiel. Das Opfer und Leiden des persönlichen Unterganges verhindert aber nicht das Weiterleben der guten Ideen. Im Gegenteil, wie die Geschichte zeigt, ist der Weg zu einer humaneren Gesellschaft gesäumt von Hunderten von Opfertoten. Auch dieser Gedanke findet sich, wie der Predigttext zeigt, in der Bibel wieder. Worin besteht nun aber die neue Wahrnehmung von Wirklichkeit? Ist es die zu erwartende/erhoffte Erkenntnis des Aggressors (des Hauptmanns der biblischen Geschichte), dass seine Vernichtungsstrategie der falsche Weg ist? Ich glaube, hier benötige ich Nachhilfe.
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt von Selbstverteidigung hinweisen. Die kubanische Revolutionsführung kochte, als die Sowjets auf amerikanischen Druck 1962 die Atomraketen von der Insel sang- und klanglos abzogen. Es kam sogar zu anti-sowjetischen Demonstrationen. Che Guevara schrieb damals, die kubanische Bevölkerung hätte „das fiebererregende Beispiel eines Volkes abgegeben, das bereit war, sich in der atomaren Konfrontation zu opfern, damit seine Asche als Dünger neuer Gesellschaften diene“ (FAZ 26.10.2022). Eine ukrainische Künstlerin, eingeladen von Kanzler Scholz zu einem Sommerevent im letzten Jahre, meinte, „die Schurken sind die Russen, und wenn über unserer Gegenwehr die Welt untergeht, muss man das hinnehmen“. Das Selbstverteidigungsrecht steht also besonders auch dann in Frage, wenn die Interessen Dritter berührt werden und wenn über deren Köpfe hinweg lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden.
Lieber Herr Lerchner, das Besondere an den biblischen Pasionsgeschichten ist, dass unter dem Kreuz Opfer und Täter auf die gleiche Stufe gestellt werden – nicht, um die Unterscheidung aufzuheben, sondern um aufzuzeigen: auch Opfer werden Täter und Täter werden nicht für immer und ewig auf ihre Rolle festgenagelt. Dafür stehen Petrus auf der einen und der Hauptmann auf der anderen Seite. Wenn ich auf dem Hintergrund der Passionsgeschichte die jetzige Wirklichkeit betrachte, dann bleibt als Aufgabe übrig, den Weg in die Sackgasse der Menschenverfeindung, in die Sackgasse der Gewalt zu unterbrechen, zu vermeiden, Gerade der fatale, gewalttätige christliche Antisemitismus („Die Juden sind die Christusmörder“) zeigt auf, was geschieht, wenn wir starr festhalten an den sog. Täter-Narrativen. Der Hauptmann aber steht für all diejenigen, die im Angesicht des gekreuzigten Christus erkennen, dass sie Gefangene von Verfeindungsideologien waren und daraus Konsequenzen ziehen. Wenn ich eine Parallele zwischen dem Hauptmann und der Wirklichkeit ziehe, dann die: Der Pazifismus ist vor allem durch die als richtig und notwendig erkannt worden, die im Krieg Täter waren und dann erkannten, welche Zerstörung sie angerichtet und welche Schuld sie auf sich geladen haben. Bste Grüße Christian Wolff
Verstehe. Danke
„Der Pazifismus ist vor allem durch die als richtig und notwendig erkannt worden, die im Krieg Täter waren und dann erkannten, welche Zerstörung sie angerichtet und welche Schuld sie auf sich geladen haben.“
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Auch die Soldaten der Ukraine heute richten Tod und Zerstörung an, machen sich schuldig. Dafür werden sie vom Volk zu Helden erklärt. Ich glaube kaum, dass es nach dem Krieg dort eine signifikante Anzahl von Pazifisten geben wird.
„Die Bibel geht von der Endlichkeit alles Lebens aus. … Nicht nur mein Leben ist begrenzt, auch unser Planet, das Universum, die Zeit sind endlich.“
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„Alles Leben“ ist bestimmt nicht endlich. Auch wenn unser Planet nicht mehr existieren sollte (was beim Verlöschen der Sonne zwangsläufig so sein wird), so kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass unter den Milliarden von anderen Planeten Leben vorhanden sein wird. Es streiten sich die Gelehrten, ob die Zeit einen Anfang und ein Ende hat:
Wikipedia:
Zeit ist in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht unbedingt unbegrenzt. So gehen viele Physiker davon aus, dass der Urknall nicht nur der Beginn der Existenz von Materie ist, sondern auch den Beginn von Raum und Zeit darstellt. Nach Stephen W. Hawking hat es einen Zeitpunkt „eine Sekunde vor dem Urknall“ ebenso wenig gegeben wie einen Punkt auf der Erde, der 1 km nördlich des Nordpols liegt.
Martin Bojowald entwickelte 2008 jedoch im Rahmen der Schleifenquantengravitation (SQG) ein theoretisches Modell, in dem das Universum auch vor dem Urknall schon existierte. Die üblichen kosmologischen Modelle der Allgemeinen Relativitätstheorie haben dabei ihre Grenzen aufgrund einer in dem SQG-Modell enthaltenen Singularität
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„Der Herr der Zeiten ist Gott. Der Zeiten Wendepunkt ist Christus. Der rechte Zeitgeist ist der Heilige Geist.“ (Dietrich Bonhoeffer). Bezogen auf Gottes Zeit kann ich weder von Anfang noch vom Ende sprechen. Bezogen auf die Zeit der Schöpfung ist Zeit begrenzt.