Der 9. November 1989 gehört zu den Tagen, von denen auch nach Jahrzehnten jede:r zu berichten weiß, wann, wo und in welcher Stimmungslage er:sie ihn erlebt hat. Ich war in den Abendstunden des 9. November 1989, damals ein Donnerstag, gerade in einer Jugendherberge in der Pfalz angekommen. Ein Wochenende mit den ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter:innen der Jugendarbeit stand bevor. Fast beiläufig fragte am Abend jemand, ob wir schon die neuesten Nachrichten kennen würden. Kannten wir natürlich nicht. Denn iPhones mit Kurznachrichtendienste gab es noch nicht, und bei solchen Wochenenden waren Radio oder Fernsehen verpönt. Er berichtete, was er auf der Fahrt im Autoradio gehört hatte: Die Berliner Mauer sei offen. Spät abends haben wir dann im Fernsehraum der Jugendherberge Nachrichten gesehen – und schauten staunend und fassungslos zu, wie Menschen in Berlin glücklich und beseelt über den Todestreifen gingen.
Auch wenn wir im äußersten Westen nur Zuschauer der Ereignisse waren – die Vorgänge in Berlin beherrschten unsere Gespräche und Diskussionen, zumal in den Wochen davor sich immer deutlicher abzeichnete, dass das System der DDR in Auflösung begriffen war. Bei mir selbst verstärkte sich an dem Wochenende das Gefühl: Die Zeitspanne von 40 Jahren hat nicht von ungefähr in der Bibel eine große Bedeutung. Sie markiert im persönlichen Leben wie in der Geschichte eines Volkes einen Epochenwechsel: von der Wüstenwanderung zum „gelobten Land“. So habe ich dann auch meinen 40. Geburtstag, den ich wenige Tage später feiern konnte, erlebt: als einen Eintritt in eine neue Zeit, nicht unbedingt ins „gelobte Land“.
Doch noch stand ich dem, was sich am Horizont abzeichnete, sehr skeptisch gegenüber. Die Begeisterung über die neue Entwicklung wurde durch die Sorge eingegrenzt, dass alles vermieden werden muss, was zu neuem Nationalismus in Deutschland führt. Darum nahm ich auch den euphorischen Satz von Willy Brandt „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, ausgerufen am 10. November 1989, sehr zurückhaltend auf. Mir war zum damaligen Zeitpunkt nicht klar, was zusammengehören soll. Soll die DDR so werden wie Westdeutschland? Befand sich aber die alte Bundesrepublik 1989 nicht in einer tiefgreifenden Krise? Wollten nicht die, die in der DDR aktiv daran arbeiteten, den SED-Staat in die Knie zu zwingen, für die DDR einen „dritten Weg“ entwickeln? Welches „Wieder“-Deutschland ist gemeint, wenn wir von Wiedervereinigung reden?
Zu dem Zeitpunkt, da die Mauer fiel, ging es denen, die diese Entwicklung vorangetrieben hatten, zunächst um die Befreiung von einem System der Demütigung und Entmündigung. Die deutsche Einheit und damit auch das Zusammenwachsen Europas (von dem Willy Brandt auch sprach) rückte wenig später in den Mittelpunkt des Geschehens. Doch für viele Menschen im äußersten Westen der Republik und in der Generation, der ich selbst angehöre, ging nach dem 9. November 1989 das Leben erst einmal so weiter, als wäre nichts geschehen. Der Schriftsteller Patrick Süßkind hielt all denen, die die Friedliche Revolution als fernes Ereignis empfanden, 1990 in einem SPIEGEL-Essay denselbigen vor: „Die eigentlichen Greise sind wir, wir 40-jährigen Kinder der Bundesrepublik. … Uns treffen die Erschütterungen im denkbar ungünstigsten Moment, … da wir glaubten, unsere Existenz im Griff und die Welt verstanden zu haben und wenigstens in groben Zügen zu wissen, wie der Hase läuft und wie er weiterlaufen wird … – jetzt kommt plötzlich die Midlife Crisis in Gestalt der deutschen Einheit über uns! Auf Potenzstörungen wären wir vorbereitet gewesen, auf Prostata, Zahnersatz, Menopause, auf ein zweites Tschernobyl, auf Krebs und Tod und Teufel – bloß nicht auf ‚Deutsch-land-ei-nig-Va-ter-land‘!“ Ja, in diesen schmerzhaft entlarvenden Sätzen musste ich mich selbst entdecken. Ich gehörte auch zu denen, die tief im Innern den Drang der Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa nach Freiheit und gerechter Teilhabe weltpolitischen Opportunitäten unterzuordnen bereit war (so wie dies im Blick auf die Ukraine derzeit vor allem in Ostdeutschland wieder geschieht). Und doch sträubte sich in mir alles gegen ein bloßes Weiter-so. Zu den Greisen mochte ich nicht gehören. Ich wollte nun da leben, wo die Weichen für das gesellschaftliche Leben neu gestellt werden.
Als ich dann 1992 meinen Lebensmittelpunkt nach Leipzig verlegte, wurde mir klar: Der 9. November 1989 – auch im Kontext mit all den anderen Ereignissen, die mit dem 9. November verbunden sind* – öffnete mit dem Mauerfall das Tor zu einem neuen Deutschland in einem vereinten Europa. Doch leider gingen viel zu wenige Menschen durch dieses Tor. Stattdessen wurde das vereinte Deutschland zu sehr und zu lange als vergrößerte Bundesrepublik West verstanden – mit der Folge mangelnder Erneuerung in allen gesellschaftlichen Bereichen, dem krampfhaften Festhalten an dem jeweils nun alten, überkommenen Teil-Deutschland und einem über 30 Jahre währenden Leben von der Substanz. Wenn wir uns heute an den Fall der Mauer erinnern, dann sollten wir in uns vor allem die Bereitschaft zum Aufbruch und zur umfassenden Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens wachsen lassen: aufbrechen zu einem freiheitlichen, solidarischen, demokratischen Zusammenleben in einem Land ohne Mauern.
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* 9.11.1848 Der bedeutende Demokrat und Leipziger Abgeordnete im Frankfurter Paulskirchenparlament Robert Blum wird in Wien erschossen
9.11.1918 Philipp Scheidemann ruft die Republik aus
9.11.1923 gescheiterter Hitler-Putsch
9.11.1936 Die Nazis zerstören das Mendelssohn-Denkmal vor dem alten Gewandhaus Leipzig. Dies führt zum Rücktritt des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler.
9./10.11.1938 Reichspogromnacht
9.11.1989 Fall der Mauer
13 Antworten
Der 9. November 1989 ist für alle unvergesslich, die ihn bewusst miterlebt haben. Aber die Befreiung mündete sehr schnell ein eine westlich dominierte „Einheit“, weil man im Westen die Realität nicht anerkannt hatte: Dass sich die Gesellschaft im Osten anders entwickelt hatte. Man hätte die DDR schon in den 1970er Jahren als eigenes Land anerkennen sollen, nachdem sie UN-Mitglied geworden war. Dann hätte es keinen „Anschluss nach Artikel 23“ gegeben, sondern deutlich mehr Diskussionen darüber, worin die gleiche Augenhöhe besteht, die zwei Partner brauchen, die sich zusammentun wollen. Wenn man nicht sofort die DM eingeführt hätte, wäre die DDR-Wirtschaft durchaus in vielem konkurrenzfähig gewesen, und die DDR hätt einen eigenen Weg gehen können. Aber die Ideologie der „Einheit“ dominierte alles, und die westdeutsche Wirtschaft war froh, dass sich keine Billigkonkurrenz entwickelte.
Lieber Klaus Plätzsch – Was wir bis zum und dann mit dem Friedlichen Herbst 1989 wollten, war tatsächlich keine gehorsame Unterwerfung an das Altbundesdeutsche; nur was wir wollten, war damals so gar nicht klar und eindeutig definiert. Die gesamte Thematik Freiheit + Demokratie (DAS wollten wir endlich nach 40 Jahren SED-STASI-DDR-Diktatur) beschreibt Ilko Sascha Kowalczuk in seiner Im C.H.Beck verlegten Publikation: „Freiheitsschock – Eine Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“ bemerkenswert und differenziert. Wie es heute um Freiheit und Demokratie realiter bestellt ist, nehmen wir alltäglich zur Kenntnis und sehen die Entwicklungen mit zunehmender Besorgnis. AfD + BSW – der Redebeitrag von A. Weidel zur Regierungserklärung von Scholz im Deutschen Bundestag (der de facto ja ohne Regierung dasteht) muss nun wirklich jeden aufschrecken. Wenn die geforderte Zivilgesellschaft nicht sofort aufwacht, wird es zur Bundestagswahl (zur Narrenzeit) ein böses Erwachen geben, nur dann wird es problematisch für diese wankende Freiheit und Demokratie!!! O. Scholz macht seit längerem genau den Fehler, der eben auch Biden machte: nicht erkennen, im richtigen Moment abzutreten und das Feld neuen Kräften zu überlassen. Die Demokraten in den USA sitzen jetzt vor einem politischen Scherbenhaufen und der Kriminelle und Psychopath Trump personalisiert eine Regierung, deren Besatzung jeden schaudern muss.
Die genannte Publikation empfehle ich auch unserem unanständigen Mit-Blogger AS – und nicht nur ihm.
Am kommenden Mittwoch ist Buß- und Bettag (Friedensdekade); da dürfte der eine und andere ggf. manches zu tun haben…. Ihnen herzliche Grüße – Jo.Flade
Herr Flade, mir hat immer die Fantasie gefehlt, eine Alternative zur real existierenden Bundesrepublik zu entwickeln. In der DDR haben mich die hohlen Parolen gestört, oder auch amüsiert, wenn an der Friedhofsmauer stand: „Heraus zum 1. Mai!“ Was mich heute extrem stört, ist die Werbung. In der DDR gab es von 1960 die Fernsehwerbesendung „Tausend Tele-Tips“. In Ermangelung von Warenangeboten wurde sie 1975 eingestellt. Von einem Extrem ins andere. Die beiden Versandhäuser der „Centrum“- und „Konsument“-Warenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen, weil es zu viele Beschwerden aus der Bevölkerung wegen nicht realisierter Bestellungen gab. Auch ein Herr Habeck klagt, dass die Binnenkonjunktur nicht rundlaufe. Eigentlich sollte er froh sein, dass die Leute nicht so viele umweltschädliche unnütze Produkte kaufen.
Zitat A. Schwerdtfeger: „Die Bundesrepublik Deutschland (West) war einfach richtig gut.“ Und: „…hat den neuen Bundesländern „blühende Landschaften“ beschert. Als Prolog zu meinem Kommentar dazu: ich glaube, hier stimmt etwas nicht!!! Die 50 000 an der Frauenkirchruine in Dresden, wo Kohl dies mit den blühenden Landschaften in die euphorische Kleinwelt sandte, sind längst satt und sauer und frustriert. Reisen Sie wieder mal in diese Regionen – da hat sich – wie man längst weiß – einiges getan in Richtung AfD…allein das Thema Treuhand hat da unglaublich viel zerstört, aber eben nicht nur das!!
Da in diesem Blog als Reaktion auf Christians Beitrag zum 09. Nov. 1989 (DANKE!) teil sehr persönliche Reaktionen lesbar sind, hier meinerseits Folgendes aus eigenen Erfahrungen: im Osten Dresdens gab es am Elbhang Aufrechte und Unaufhaltsame, die bereits nach der verlogenen Volkskammerwahl im Frühjahr 1989 aufstanden und deutlich und öffentlich signalisierten: NEIN, so nicht mehr länger. Und genau am 9. November `89 – nach vielen Protestaktionen, nicht nur im kirchgemeindlichen Rahmen, rief eine Initiative ein Bürgerkomitee aus mit der Gründung von Arbeitsgruppen wie „Bauen und Denkmalpflege“, „Wohnen und Soziales“, „Bildung und Kultur“, „Demokratie und Würde“. Vor einem übervollen Hörsaal in Dresden Pillnitz fanden sich sofort Bürger, die nicht länger warten wollten. Und die erstaunlich ersten Mutigen offenbarten plötzlich, dass sie für die Stasi gearbeitet hätten – die Reaktionen darauf waren sehr ambivalent…U.a. gehörte ich zu den Initiatoren und kümmerte mich um Bauen und Denkmalpflege. Das sichtbare Zeichen eines der geretteten, von den DDR-Chargen mutwillig sabotierten Objekte war die von Matthias Daniel Pöppelmann 1723-25 im Weinberg erbaute Kirche „Zum heiligen Geist“. Selbst gegen partiellem Widerstand durch die institutionelle Kirche gelang es uns, innerhalb von sieben Jahren (1990 – 97) dieses einzigartige Sakralbauwerk zu retten, zu restaurieren und in eine neue Zeit zu bringen. Gottesdienste, Weinfeste, Dialoge, Konzerte, Lesungen senden bis heute weit ins Land deutliche Zeichen, die wir allesamt brauchen und die Mut, Hoffnung und inneren Frieden ermöglichen. Nicht Jammern, nicht persönlich diffamieren, sondern Diskurs, Respekt, Aufrichtigkeit und Würde; das waren unsere Motivationen von vor 35 Jahren.
Als also die Mauer fiel, begannen wir paar Unaufhaltsame an Ort und Stelle die Dinge in unsere Hände zu nehmen – und das war gut so. Und wir waren auch sehr für einen Gedenktag, der am 9. Nov. jährlich zu feiern wäre; der 3. Okt. – nun ja…auch psychologisch nicht gut durchdacht.
Danke Michael Käfer für diese gute Reaktion; gut, dass auch Sie nun in Leipzig leben, wie eben auch Christian und viele andere ebenso. Jo.Flade
„Wollten nicht die, die in der DDR aktiv daran arbeiteten, den SED-Staat in die Knie zu zwingen, für die DDR einen „dritten Weg“ entwickeln?“
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Honecker sagt zu seiner Freundin, dass sie sich was zum Geburtstag wünschen könne. Sie wünscht sich, dass er die Mauer öffnen solle. „Willst wohl mit mir allein sein?“
„Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“ lautete ein Spruch bei den Montagsdemonstrationen als sich die Parole „Wir sind das Volk!“ in „Wir sind ein Volk!“ im Dezember 1989 wandelte. Das Wahlergebnis der Volkskammerwahl 1990 sprach eine deutliche Sprache: Die von Dr. Kohl in genialer Weise geschaffene „Allianz für Deutschland“ fuhr einen Erdrutschsieg ein, und die Bürgerrechtler wurden marginalisiert. Wie richtig der schnelle Anschluss der DDR an die Bundesrepublik war, zeigte sich beim Putschversuch gegen Gorbatschow. Was für ein Kontrast zu heute: Der republikanische Präsident George W. Bush setzte sich im Gegensatz zu Mrs. Thatcher und M. Mitterand vehement für die Wiedervereinigung Deutschlands ein. Wegen meiner psychischen Probleme mit dem SED-Staat befand ich mich im Herbst 1989 in einer Psychotherapie an der Universität Leipzig. Dort unterbreitete man mir das Angebot, mich berenten zu lassen. Dann könne ich in den Westen reisen. Ich willigte ein und stellte auf dem zuständigen Polizeirevier einen Antrag, in die „BRD“ reisen zu wollen. „Sie?“ raunzte der Polizist mich an. Ich vermute, er fühlte sich durch mein Aussehen provziert, das nicht dem seiner Klasse entsprach. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich Rentner sei, händigte er mir den Antrag aus. Anfang November 1989 erhielt ich meinen Pass und freute mich wie ein Schneekönig, auch einmal zu den Privilegierten zu gehören, die vor Erreichen der Altersgrenze ins „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ reisen durften. Doch dann fiel die Mauer, und ich war wieder nicht privilegiert…
Es mag ja vieles bedenkenswert sein an diesem Beitrag und da er sehr persönliche Gedanken und Erfahrungen spiegelt, ist er sowieso „richtig“. Dennoch meine ich, dass er traurigerweise so ein bisschen die deutsche Sucht aufzeigt, aus der Nachschau alles möglichst schlecht zu machen. Die westliche Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1989 mag nicht perfekt gewesen sein, aber sie war ein großartiger, freiheitlicher, sozialer, rechtsstaatlicher, sicherer Staat, in dem es den Menschen gut ging und der von vielen innerhalb und außerhalb als durchaus ideal angesehen wurde. Und dies gilt auch für diejenigen, die diesen Staat in einzelnen Fragen – Umwelt, innere und äußere Sicherheit, Soziales – vehement bekämpften, denn sie konnten und durften das ohne persönliches Risiko tun. Die Bundesrepublik Deutschland (West) war einfach richtig gut. Und dies heißt nicht, dass man nicht auch immer noch was Besseres draus hätte machen können – aber grundsätzlich „ein Tor zu einem neuen Deutschland“ herbeizusehnen war wohl kaum nötig, auch nicht im europäischen Kontext, denn es steht ja fest, dass die EU damals zwar formal noch nicht so weit war wie heute, aber dafür in einem deutlich besseren Zustand.
Zusätzlich gab es damals wohl überwältigende Einigkeit, dass dieses damalige Deutschland jedenfalls der freiheitlichste und fortschrittlichste Staat in der Deutschen Geschichte war. Er war also ein gutes Angebot an die Bürger der „DDR“. Dass im Rahmen der Vereinigung Fehler gemacht worden sind (sachlich und psychologisch), ist unzweifelhaft. Aber das ist eben die Nachschau. Und dass die positiven Aspekte dieses Prozesses die negativen – gerade auch für die Menschen in den neuen Bundesländern – bei weitem überwogen und überwiegen, kann ja kaum bezweifelt werden, auch wenn sie kleinere Sparguthaben haben: Als Flüchtlinge in den Westen aus Schlesien nach dem Kriege hatten meine Eltern und ihre Generation auch geringere Sparguthaben oder kleineren Besitz als die Bürger im Westen.
Die durch den Zusammenbruch des Comecon und Warschauer Paktes zustande gekommene Wiedervereinigung, der Mut der Menschen in Polen, in Ungarn, in der CSSR und natürlich auch in der „DDR“ war ein Glück, hat den neuen Bundesländern „blühende Landschaften“ beschert (ich war in den ersten 20 Jahren danach fast jedes Jahr ausführlich „drüben“ und habe das beobachten können). Allein der jährliche Transfer von rund 100 Milliarden Euro ist eine ungeheure Leistung aller Bürger der gemeinsamen neuen Republik. Die Feststellung „mangelnder Erneuerung in allen gesellschaftlichen Bereichen, dem krampfhaften Festhalten an dem jeweils nun (nur?) alten, überkommenen Teil-Deutschland“ erscheint mir wieder mal als eine intellektuelle Übung, die die Kritik zum Selbstzweck, das Niedermachen zur besonderen sportlichen Übung macht und die nachträgliche Einsicht zur deutsch-besserwisserischen „Ich-wusste-es-schon-immer“- Haltung aufzuwerten sucht. Man könnte diesen Teil der Betrachtung des 9. November auch einfach mal als Beginn eines großartigen Prozesses von Einigkeit, Solidarität, Freiheit und „Geschenk“ – wohlgemerkt für alle auf beiden Seiten – in Zufriedenheit feiern. Und darauf aufbauend dann auch gerne feststellen, dass dieser Prozess – wie rückblickend gesehen fast alle – auch NOCH besser hätte bewältigt werden können.
Andreas Schwerdtfeger
Es war erwartbar, dass die Überlegungen von Christian Wolff von diesem Mit-Blogger nicht einfach so stehen gelassen werden konnten. Wertet er sie aber als „eine Übung, die die Kritik zum Selbstzweck, das Niedermachen zur besonderen sportlichen Übung macht und die nachträgliche Einsicht zur deutsch-besserwisserischen … Haltung aufzuwerten sucht“, nenne ich das unanständig!
Auch ich sehe West-Deutschland 1989 ziemlich positiv, aber war es wirklich ein so „großartiger, freiheitlicher, sozialer, rechtsstaatlicher, sicherer Staat, … der als durchaus ideal angesehen wurde“? Mit meiner Erinnerung ist das nicht so ganz kongruent. Und wann haben wir im Westen einmal ernsthaft über positive Aspekte des Lebens in der DDR (z.B. Gleichberechtigung, Polikliniken, Arbeitsplatzsicherheit…) diskutiert? Über Ampelmännchen und Rechtsabbiegepfleile sind wir doch kaum hinausgekommen. Haben wir immer unsere Besten zum Aufbau Ost geschickt? Wieviele Karrieren Westdeutscher erlebten einen „Turbo“ durch die friedliche Revolution und wieviele umgekehrt?
Natürlich gab es keine „Blaupause“ für den Zusammenschluss zweier solcher Staaten und Vieles musste sehr schnell gehen – und unter dem Strich ist das bis heute Erreichte durchaus respektabel! Trotzdem ist es zumindest bedenkenswert, wenn Christian Wolff auch kritische Gedanken formuliert.
„positive Aspekte des Lebens in der DDR (z.B. Gleichberechtigung, Polikliniken, Arbeitsplatzsicherheit…“
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Die Gleichberechtigung der Frau in der DDR war ganz auf die Arbeitswelt ausgerichtet. Die Erwerbsquote von Frauen lag Ende der 80er Jahre bei 91,2 Prozent. Weltweit einzigartig. Stastisch arbeiten die Frauen in der DDR wöchentlich 43 Stunden auf ihrer Arbeitsstelle und noch mal genauso lange im Haushalt, erledigen Einkäufe etc.. Obwohl in der DDR-Verfassung verankert ist, dass Frauen und Männer gleiche Bezahlung erhalten,
haben Frauen bis Ende der Achtzigerjahreim Durchschnitt dreißig Prozent weniger verdient als Männer.
Siehe „DDR und BRD im Vergleich: Gleichberechtigung der Frau“ https://ogy.de/95zw
Die Polikliniken waren zwar effizienter als das Hausarztsystem, aber die Ärzte wechselten häufig. Aber das erlebe ich in meinem MVZ heute auch.
Die fast absolute Sicherheit des Arbeitsplatzes resultierte auch daraus, dass volkseigene Betriebe nicht Pleite gehen konnten, was letztlich zu dem kompletten Staatsbankrott führte.
Werter Herr Plätzsch,
bis zur letzten Sekunde vor der Privatisierung im Postbereich wurden in der BRD Beamte eingestellt! Völliger Wahnsinn und nicht nicht Schuld von Herrn Kohl und Schwarz-Schilling! Es zeigt aber, dass der BRD Obrigkeitsstaat auch kein Vorbild für die Welt war! US Viorstellungen wurden nach Kriegsende frech übergangen! Ich bleibe dabei, Trump wirkt derzeit sympathischer als deutsche Konservative! Ich weiß von verbeamtetenBetriebswirten der Telekom, welche 1992 eingestellt wurden und ab 2000 und früher Frühpensionäre waren bzw. teilweise ohne Beschäftigung versorgt waren! Da gibt es von den beiden großen Parteien hierzulande keine Aufklärung! Zu dumm zur Privatisierung, lässt sich wohl sagen!
Ich widerspreche Ihnen nicht, Herr Plätzsch.
Deshalb habe ich es als Frage formuliert, wann wir ernsthaft über Aspekte positiver Ansätze diskutiert haben. Vielleicht ist unser beider unterschiedliche Sichtweise zu umschreiben mit: Ist das Glas halbvoll, oder halbleer?
Meine Frau und ich hätten als einzige Chance für eine gemeinsame Berufsausübung gehabt, eine Tagesmutterbetreuung zu organisieren/bezahlen; beim Abwägen, ob max. 300 – 400 DM zusätzliches Netto-Einkommen einen (mindestens) 40 Stunden-Job aufwiegen, haben wir uns dagegen entschieden. Über Polikliniken/MVZ begann die ernsthafte Diskussion ca. 15 Jahre nach der Friedlichen Revolution. Und über die (ökonomisch sicher fragwürdige) Arbeitsplatzsicherheit in der DDR ist die Treuhand kurzerhand mit der Dampfwalze hinweggegangen.
Ich lasse einmal die üblichen Polit-Knigge-Anmerkungen von Herrn Schwerdtfeger beiseite: Wenn ich von einem „neuen“ Deutschland spreche, dann wehre ich zunächst erinmal den Begriff „Wiedervereinigung“ ab. Dann geht es mir vor allem darum, dass nach 1990 über drei Jahrzehnte versäumt worden ist, in einem gesamtdeutschen Diskurs die notwendigen Veränderungen zu entwickeln. Stattdessen gab es die unkritische Fortführung der westdeutschen Politik – und das, obwohl sich z.B. die Autoindustrie Ende der 80er Jahre in einer tiefen Krise befand. Im Grunde genommen sind die maroden Brücken Sinnbild dafür, was ich „von der Substanz leben“ genannt habe. Der ehemalige Leipziger OBM Dr. Hinrich Lehmann-Grube hat einmal zugespitzt gesagt: Bis 1990 hat Kohl alles richtig gemacht, danach hat er nichts mehr gemacht. Und auch die Nachfolgeregierungen haben bis zur Corona-Zeit auch nicht die notwendigen Weichenstellungen in der Klima-, Bildungs- und Sozailpolitik vollzogen. Das alles fällt uns derzeit auf die Füße. Dessen ungeachtet bin ich froh und dankbar, dass wir (noch?) in politischen Verhältnissen leben, in denen wir frei und ungehindert über die politischen Notwendigkeiten streiten können. Natürlich müssen wir alles dafür tun, dass dies so bleibt.
Am 9.11.89 ging ich lange ungläubig vor dem Bildschirm auf und ab, versuchte unsere 8 Monate alte Tochter auf meinen Armen zum Einschlafen zu bringen.
Wenige Monate zuvor war ich mit einem jüngeren Arbeitskollegen beruflich in Berlin gewesen; durch eine kurzfristige Terminverschiebung hatten wir einen freien Vormittag und fuhren zum Brandenburger Tor. Ich konnte kaum glauben, dass dem Kollegen dabei zum ersten mal klar wurde, dass da eine Mauer zwei Staaten trennte.
Heute fühlen wir uns in Leipzig so wohl, dass wir nicht mehr, wie zuvor 40 Jahre lang, im Rhein/Main-Gebiet leben wollten. Wir haben neue Freunde und Bekannte gefunden, mit denen wir intensivere und tiefere Gespräche über mehr als nur berufliche Themen führen.
Hatte ich mir früher wenig Gedanken über die DDR gemacht, finde ich es heute spannend, die unterschiedlichen Lebenserfahrungen kennenzulernen…
Auch heute noch kennen viele Freunde und Verwandte aus dem Westen nur Dresden oder Leipzig. Zittau, Meißen, Plauen, Altenburg, Zeitz, Naumburg – Fehlanzeige…
Der „Jammer-Ossi“ spielt in ihren Köpfen keine so große Rolle mehr, dafür jetzt der Rechts-, bzw. Links-Extremismus. Bei den nächsten Wahlen wird dieses Thema wohl leider noch stärker den Diskurs bestimmen.
Überhaupt nicht angekommen ist nach wie vor die brutale Zäsur von Lebensentwürfen, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, von erzwungener beruflicher Neuorientierung. Dabei böten die tiefen Einschnitte, die jetzt z.B. bei VW, Automobil-Zulieferern und anderen Branchen anstehen, eine gute Basis für ein tieferes, gemeinsames Verständnis!
Als ich den Blog las, erinnerte auch ich mich an die Zahl 40. 1988/89 gab es hier in den Jenaer Kirchen eine Vortragsreihe „Maßstäbe des Menschlichen“. Die wurde wechselweise von katholischen und evangelischen Pfarrern moderiert. Im Sommer gab es einen Vortrag von einem Professor für Marxismus-Leninismus. Der katholische Pfarrer stellte den Vortragenden vor und ging auf die 40 Jahre Wüstenwanderung ein. Auch der Gast wirkte nicht unbedingt verschnupft. Nach den Kommunalwahlen war die Stimmung sowieso etwas verändert. Es war schon beeindruckend, dass ich an der Wahlkabine warten musste und nach mir schon wieder eine junge Frau wartete. Ein zweites Wunder war für mich, als ich im September 1989 Christian Führer in der Nikolaikirche erlebte und ihm offenbar nichts passierte.
Bei uns hier waren die Demonstrationen immer Donnerstags. Am 9.11.89 folgte meine Frau einer Einladung eines älteren Ehepaars im Haus, das seine Goldene Hochzeit nachfeierte. Ich war mit meiner Ältesten zur Demonstaration. Als wir zur Feier später hinzustießen erfuhren wir, dass die Mauer geöffnet ist. Meine Reaktion war „nun ist alles vorbei“. ich hatte gehofft, wir können unsere Wirtschaft noch ein wenig ordnen, bevor die materielle Gewalt des westdeutschen Wohlstands über uns hereinbricht, z.B. eine eigene Treuhand teilt die Betriebe an die Belegschaften auf (ohne die Last der Altschulden, die es in Wirklichkeit gar nicht gab). Leider kam es, wie es kommen musste. Ich hörte auch von Leuten aus DDR-überzeugten Häusern den Ausspruch „40 Jahre betrogen“. Nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit hörte sich das anders an, da wurde auf die Demonstranten von 1989 geschimpft.
Eigentlich war ich nach dem 4. November 1989 hoffnungsvoll, dass die führende Rolle der SED aus der Verfassung und aus dem täglichen Leben verschwindet. Das beschäftigte mich damals mehr als die Möglichkeit, zu reisen, zumal ich nicht gewusst hatte, wovon ich derartige Reisen hätte bezahlen können.
Wir sind erst am 18.11.89 das erste Mal mit den Kindern in die BRD nach Erlangen gefahren, als wir von entfernten Verwandten nachdrücklich aufgefordert wurden, unsere Partnerstadt zu besuchen.
Am 20.11. fuhr ich nach Berlin, ich hatte eine Einladung zu einer Livesendung. Wegen der Ereignisse in Prag verschob sich die Sendung und ich hatte interessante Gespräche mit unseren Übergangsministern für Landwirtschaft und Wirtschaft. Außerdem war eine Staatsanwältin anwesend, die über den Verbleib des Westgeldes aus den intershops etwas zu sagen hatte. Die Sendung war so was von live, dass keiner wusste, zu welchem Thema er Stellung nehmen sollte. Ich hatte mich einige Wochen vorher schriftlich zu einigen Äußerungen von Herrn Schalk-Golodkowski geäußert. Am nächsten Tag sah ich in Berlin einen Spiegel, der zu den Geschäften des Herrn Schalk-Golodkowski schrieb. Wäre die Grenze nicht offen gewesen, hätte ich mir den Spiegel in Westberlin nicht kaufen können.
Für mich war das eine aufregende Zeit. Jeden Tag erfuhr man etwas Neues und vor allem, man hatte für eine kurze Zeit das Gefühl, etwas bewegen zu können, auch neben der Arbeit. Die Choreografie stimmte nur nicht. Die Grenzöffnung hätte ans Ende der Entwicklung gehört