Zum 105. Todestag von August Bebel am 13. August 1913, und in der Hoffnung, dass die „Historische Kommission“ der SPD bestehen bleibt.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) irrlichtert seit Wochen – doch die SPD redet darüber, den Grünen nicht nachrennen zu wollen. Hitzeperiode und Klimawandel machen Bürgerinnen und Bürger mehr als nachdenklich – doch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) pfeift Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) zurück, die den CO2-Verbrauch von Neuwagen bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent senken will. Das Klimacamp in Pödelwitz führt Hunderte engagierte junge Menschen zusammen „Klima retten – Kohle stoppen“ – doch die SPD macht einen großen Bogen um das von der Abbaggerung bedrohte Dorf im Südraum Leipzigs gelegen und verschwindet im Schattenwurf von Braunkohle-Lobbyist Michael Kretschmer (CDU) bis zur Unkenntlichkeit. Bis heute vermag die SPD nicht, Themen zu setzen, Politikfelder zusammenzubinden, neue Antworten zu finden. Stattdessen der verzweifelt-flehentliche Ruf in den Debattennebel: Es gibt doch noch andere Themen als die „Flüchtlingskrise“. Wann werden die diskutiert, damit wir endlich wieder vorkommen? Ja, die gibt es. Dennoch kommt die SPD in der Debattenwirklichkeit nicht vor. Denn die Repräsentant/innen der SPD vermögen weder in die Partei hinein noch nach außen Orientierung zu geben. Es fehlt an der überzeugenden Geschichte, die sie den Menschen zu erzählen haben. Stattdessen haben sie eine Erneuerungsblase in die Welt gesetzt, die sich inzwischen ins Nichts aufzulösen scheint. Jedenfalls spürt das SPD-Mitglied nicht, dass in Berlin, München, Wiesbaden oder Dresden die Weichen neu gestellt werden. Auch das Interview mit dem sicher talentierten Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der ZEIT (https://www.zeit.de/2018/33/kevin-kuehnert-juso-spd-umfragewerte-linkspartei-aufstehen) legt vom Dilemma beredt Zeugnis ab: Es werden gesellschaftliche Missstände benannt, aber es fehlt der sozialdemokratische Gesellschaftsentwurf, der notwendig ist für einen neuen Aufbruch, der sich nicht an Hartz-IV abarbeitet und der einem erübrigt, vor Wagenknecht/Lafontaine „aufzustehen“.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die SPD hatte dann einen starken Rückhalt in der Bevölkerung, wenn sie eine auf Friedensicherung ausgerichtete Außen- und Europapolitik mit dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit und einem umfassenden Bildungsangebot für alle Bevölkerungsschichten verbinden konnte. „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – im Innern und nach außen“, fasste Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 sein Programm zusammen. Sozialdemokraten sollten sich daran erinnern: Die wesentlichen Sozial- und Bildungsreformen Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre konnten nur deswegen überzeugen, weil sie Teil eines Gesamtkonzeptes waren – nämlich der Abbau des Bedrohungs- und Angstpotentials im Europa des Kalten Krieges durch die Friedens- und Ostpolitik bei gleichzeitiger wachsender Teilhabe-Gerechtigkeit zur Stärkung der Demokratie.
In den 50er und 60er Jahren herrschte in Westdeutschland neben dem sog. Wirtschaftswunder die Angst vor einer kommunistischen Weltherrschaft. Sie wurde damals vor allem von der CDU gezielt propagandistisch überzeichnet: Bald steht der Russe in Bonn vor der Tür … . Zunehmend aber lähmten die diffusen Ängste und die militärischen Bedrohungsszenarien die gesellschaftliche Entwicklung und konnten ideologisch nicht mehr verfangen. Heute wird die Angst vor Islamisierung und Flüchtlingsströmen geschürt, durch die sich Deutschland angeblich abschafft und seine Identität verliert. Hinzu kommen tiefe Verunsicherungen ausgelöst durch die Unübersichtlichkeit der Globalisierung und den dramatischen Klimawandel. Schon jetzt aber spüren viele Menschen, dass die irrationale Fokussierung auf diese Ängste wenig zu tun hat mit den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten. Deswegen bedarf es dringend einer ganzheitlich angelegten Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt, deren Teilhabe an Arbeit, Bildung, Einkommen gefährdet ist. Eine solche Politik wird aber nur erfolgreich sein, wenn sie die Angstpotentiale durch eine offensive Europa- und ökologisch ausgerichtete Friedenspolitik minimiert und das vielfältige demokratische Zusammenleben bejaht. Das ist eine genuine Aufgabe der Sozialdemokratie – beginnend in den Kommunen. Doch von dort kommen teilweise merkwürdige Signale:
- Der Aufschrei des Duisburger Oberbürgermeisters Sören Link (SPD), begierig von den Medien aufgebauscht, dass zunehmend Menschen aus osteuropäischen Ländern nach Deutschland kommen, um hier das Kindergeld abzugreifen, ist in seinen Auswirkungen verheerend. Das allerdings hätte Link als erfahrener Politiker wissen können. Unterstellt, es verhält sich in Duisburg so, wie er es sieht, dann ist doch die erste Frage: Wieso sind die kommunalen Behörden einschließlich Polizei und Gerichte nicht in der Lage, den festgestellten Missbrauch, also das gesetzwidrige Handeln einzelner, strafrechtlich zu verfolgen und abzustellen? Warum verkündet er nicht: Angesichts des Kindergeld-Missbrauchs durch Schein-Arbeitsverträge haben wir folgende Maßnahmen ergriffen … Stattdessen wird eine Debatte befeuert, die wieder nur Ängste und Ressentiments gegen Migranten schürt und den Eindruck erweckt, als würden sich Arbeitskräfte aus Osteuropa am Sozialsystem Deutschlands bereichern. Klar, wer davon profitiert: die AfD – und die SPD hat den Schaden.
- Die ZEIT hat in ihrer aktuellen Ausgabe das Schwimmbad-Sterben in vielen Kommunen genauer beleuchtet (https://www.zeit.de/2018/33/freibaeder-schliessung-deutschland-hitze-sommer) . Der Bau der Schwimmbäder war in den 60er und 70er Jahren das Symbol für Teilhabe der großen Mehrheit der Bevölkerung an dem, was sich die Wohlhabenden schon immer leisten konnten: Erholung und Erquickung am Wasser. Dass nun die Schwimmbäder, unter SPD-Stadtregierungen gebaut, geschlossen werden oder verkommen, ist Folge der Vernachlässigung öffentlicher Daseinsvorsorge. Es geht ebenso auf das Negativkonto der Sozialdemokratie wie der unhaltbare bauliche Zustand vieler Schulen.
Wenn die SPD auf diese Probleme keine markant-profilierte, Problem lösende Antwort findet, die für die Menschen als Gewinn an Lebensqualität und Beheimatung erfahren wird, wird die SPD-Basis in den Kommunen weiter zerbröseln. Wenn die SPD nicht vermag, durch eine inhaltlich verbundene Sozial- und Integrationspolitik das gegenseitige Aufrechnen von Zuwendungen an Deutsche und Geflüchtete/Ausländer zu beenden, wird sie die 20-Prozent-Hürde nicht mehr nehmen. Die SPD muss historisch wie programmatisch politische Zusammenhänge herstellen, die sie in ihrer Geschichte immer wieder gefunden hat: zwischen der Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort und einer Friedenspolitik, die Europa und die Welt im Blick hat, zwischen sozialen Initiativen in den Kommunen und vielfältigen Angeboten für eine den Einzelnen stärkenden Persönlichkeitsentwicklung, zwischen technischem Fortschritt und schonendem Umgang mit Mensch und Natur. Das hat die SPD immer davor bewahrt, dem nachzurennen, was weder Erneuerung noch Gerechtigkeit noch Frieden verspricht und die Demokratie zerstört: Nationalismus und Imperialismus. Eine Regierungspartei SPD müsste doch bei allem zugestandenen Pragmatismus in der Lage sein, das durch ihre Repräsentant/innen jeden Tag zu kommunizieren und durch Präsens ihrer Mitglieder vor Ort zu leben – jenseits vom ständigen Schielen auf die Umfragewerte und links-nationalem Gehabe a la Wagenknecht/Lafontaine.
16 Antworten
Zu A.S. mit seinen unaufhaltsamen Stereotypen wie: „Viel Spaß …., auch wenn Ihr dortiger Spaziergang – wären Sie anderer Meinung als Wolff und der kleine Mann ohne Takt, Anstand und Vernunft – zu Ohrensessel-Kritik führen könnte.“.
Er läutet seine Erwiderung an Herrn Lerchner ein mit dem Introitus:“Nun sinkt auch noch das Niveau des bisher so sachlich diskutierenden Herrn Lerchner, wenn er andere Meinungen in die Kategorie „Gehirnwäsche“ einordnet – schade!“
Gott sei Dank sind Wolff, Lerchner und der kleine Mann klug genug, solcherart abartigen Regungen richtig einzuordnen. Jemandem, der wie Lerchner unübersehbar über komplexe Kenntnisse verfügt Niveaulosigkeit zu attestieren, hat mit Takt wahrlich nichts zu tun, zeugt von Intoleranz (was ganz nebenbei zudem einen fragwürdigen Verstandeszustand offenbart) und ganz und gar unvernünftig ist im Falle des Austausches unterschiedlichster Überzeugungen. Nicht nur ich kann es nur immer wieder wiederholen: So kommen wir allesamt nicht weiter ! Übrigens: es kommt darauf an, wo und wie man z.B. in Griechenland wohnte, lebte. Auch ich hatte ausreichende Gelegenheit, in diesem Land mit anderen zu sein und Kontakte zu Menschen im alltäglichen Leben zu begegnen; meine Wahrnehmungen sind eben ganz andere als die des A.S.. und decken sich mit den Darstellungen von Hrn. Lerchner.
Aber lassen wir es; Ohrensesselkritik ist nun das Letzte, was uns auch nur ansatzweise weiter brächte!
Da sind mir und anderen, die diesen Blog verfolgen, Wortmeldungen wie die von Wolff + Lerchner und anderen Gründlichen allemal lieber, vor allem kenntniserweiternd und somit produktiv.
Zuletzt mal was ganz anderes, realpolitisches, aktuelles aus Sachsen:
Sehen und hören wir doch dieser Tage einmal sehr genau hin, wie das sächsische Innenministerium den jüngst geschehenen Vorfall transparent aufbereitet und für die erregte Öffentlichkeit erkenntnisreich klärt, wie es denn sein kann, dass am Rande eines Pegida-Aufmarsches (jüngst in Dresden) ein Mitarbeiter des Landeskriminalamtes ein ZDF-Team polizeilich blockieren und somit dfurch angerufenen Polizeieinsatz am journalistischen Arbeiten behindern lässt und anpöbelt und anschließend ziemlich einfallslos vorgibt, lediglich nur privat mit Pegida unterwegs gewesen zu sein.
Brisant auch insofern, als CDU-Politiker etwas zu voreilig diesen „erbetenen“ Polizeieinsatz sofort als korrekt rechtfertigten.
Schaun wir also mal, wie es auch in diesem Fall mit der verfassungsmäßig garantierten Gewaltenteilung realiter aussieht und welche Motivationen denn es geben könnte, als Pegida-Teilnehmer die Polizei unverzüglich anzurufen, um durch diese ein ZDF-Team zu massiv behindern.
Kann durchaus sein, dass A.S. dazu eine Interpretation bemüht – er weiß ja als Militär, wie es mit dem Loyalitätsgrundsatz gegenüber einer anstellenden Staatsbehörde auszusehen hat. Immerhin wäre es höchst bedenklich, würden Staatsdiener bei Pegida oder AfD mitmarschieren, um dann nach Befragung so zu tun, es sei ja nur rein privat.
Und wenn dann dieser Demonstrant erreichen kann, dass die Polizei de facto vor Ort eingreift – ja, was ist da eigentlich los im Staate „Dänemark“ ??
Lieber Herr Wolff, zu Ihrer Suche nach weniger „irrlichternder Figuren“ innerhalb der SPD erhielt ich dieser Tage noch diesen Interessanten Vortrag eines sachkundigen SPD-Mitgliedes – noch dazu aus einem links-grünen elterlichen Pfarrhaus, der Ihnen vielleicht helfen kann:
https://deutscherarbeitgeberverband.de/energiefrage/2018/2018_05_19_dav_aktuelles_energiefrage_einsatz_von_kernenergie.html
Viele Grüße Ihr Hans v. Heydebreck
Nun sinkt auch noch das Niveau des bisher so sachlich diskutierenden Herrn Lerchner, wenn er andere Meinungen in die Kategorie „Gehirnwäsche“ einordnet – schade! Den Grundsatz, daß man nicht mehr Geld ausgeben sollte, als man hat, habe ich nicht erfunden und nicht umsonst ist das Ländle der schwäbischen Hausfrau – zusammen übrigens mit seinem Nachbarn, dem CSU-regierten Bayern – besser dran als alle anderen und insbesondere auch die SPD-regierten Bundesländer (BW inzwischen mit einem ganz und gar schwarzen MinPräs aus der Grünen Partei). Daß dieser Grundsatz sich natürlich nicht auf jeden kurzen Zeitraum bezieht, ist klar – aber gerade deswegen wäre jetzt in den Zeiten sogenannter „sprudelnder Quellen“ die Rückzahlung von Schulden mehr als angebracht und man muß der Regierung und Minister Scholz danken, daß sie dies auch tun.
Und was Ihre Äußerung zur sogenannten Austeritätspolitik gegenüber Griechenland angeht, so merkt man eben, daß Sie diese Land nicht (ausreichend) kennen. Ich habe dort gewohnt drei Jahre lang und die Steuer- und Europamoral der Griechen kennengelernt. Ein Mittelausgleich zwischen reicheren und ärmeren Gegenden eines Gesamtgebietes (wie zB der Länderfinanzausgleich) kann nur funktionieren, wenn annähernd gleiche Auffassungen zu den Dingen bestehen. Deshalb wundere ich mich ja so, daß Bayern nicht erneut den Ausgleich infrage stellt, wenn das marode Berlin sich von dort Sozialleistungen bezahlen läßt, die Bayern selbst sich nicht leistet.
Viel Spaß auf dem wunderschönen Rennsteig, lieber Herr Lerchner, auch wenn Ihr dortiger Spaziergang – wären Sie anderer Meinung als Wolff und der kleine Mann ohne Takt, Anstand und Vernunft – zu Ohrensessel-Kritik führen könnte.
Andreas Schwerdtfeger
Wunderbar, Herr Schwerdtfeger, dass wir hier nun doch noch ein paar Worte zur Sache wechseln können! Es ist klar, dass Ihr ökonomisches Grundverständnis ein anderes ist als das meine. Ihre Formulierung „auskommen, mit dem Geld, was man hat“ macht es deutlich. Sicherlich kann man es niemandem übelnehmen, wenn er nach jahrzehntelanger neoliberaler Gehirnwäsche (verzeihen Sie mir das Schlagwort) nicht über den Horizont einer „schwäbischen Hausfrau“ hinaus denkt. Einem Mann mit Ihren Ansprüchen sollte man das aber nicht durchgehen lassen. Ich will es nicht in einen Makroökonomie-Kurs ausarten lassen. Deswegen ganz kurz: Es ist grundlegend falsch anzunehmen, dass nur erspartes Geld ausgegeben werden kann. Geld wird aus dem Nichts geschöpft. Gespart werden kann erst dann, wenn vorher investiert wurde. Staatsschulden sind etwas grundsätzlich anderes als die eines Privatmannes. Solange Staatsverschuldung in eigener Währung erfolgt, ist sie volkswirtschaftlich irrelevant und wird nur durch die Produktionskapazitäten begrenzt. Der Staat muss sich verschulden können, wenn die anderen Sektoren der Volkswirtschaft sparen (Wirtschaft, Privathaushalte). Anderenfalls droht Deflation. Staatsverschuldung ermöglicht das Sparen privater Haushalte. Ohne Staatsverschuldung wären die Steuern extrem hoch. All diese Thesen haben nichts mit Sozialismus zu tun. Herr Keynes, dessen Sichtweise ich hier sinngemäß wiedergebe, war überhaupt kein Freund einer solchen Gesellschaftsordnung. Ich hatte es in einen meiner früheren Beiträge schon mal erwähnt. Er hatte sich lediglich Gedanken über das vernünftige Funktionieren des Kapitalismus gemacht. Leider ist, wie sich hier wieder gezeigt hat, ökonomischer Sachverstand auch in SPD-Kreisen ziemlich verkümmert.
Ihre anderen, erwähnenswerten Punkte hängen mit dem soeben gesagten irgendwie zusammen. Selbstverständlich ist die „Vision von der Selbstverantwortlichkeit des freien Menschen“ Humbug, wenn man sie in Gegensatz stellt zu den Forderungen an eine ökonomisch vernünftige Fiskalpolitik des Staates. Wie notwendig individuelle Anstrengungen sind, brauchen Sie einem einigermaßen beruflich Erfolgreichen nicht zu sagen. Haben Sie denn nicht seinerzeit die Piketty-Diskussion („Das Kapital im 21. Jahrhundert) verfolgt? Da hätten Sie lernen können, dass sich das Kapital-Einkommens-Verhältnis (unter Einkommen ist hier das Nationaleinkommen zu verstehen) wieder dem Stand vor dem 1. Weltkrieg nähert. Soviel zu „leistungslosem Einkommen“. Zu Europa: Die von außen diktierte Austeritätspolitik hat den Volkswirtschaften in den Krisenländern erheblich geschadet (26 % Verlust an Wirtschaftskraft in Griechenland!). Die allseits beklagten politischen Instabilitäten sind eine Folge davon. Mit Hilfe europäischer Investitionsfonds (wenn ich es richtig verstehe, ist das ein Kernpunkt der vorgeschlagenen Reformen) könnten in diesen Ländern kräftiges Wachstum generiert und soziale Verwerfungen (50 % Jugendarbeitslosigkeit) korrigiert werden. Soweit erst einmal. Vernünftigen Argumenten vorausgesetzt, ließe es sich natürlich über jeden einzelnen Punkt noch trefflich streiten.
Mit besten Grüßen,
Johannes Lerchner
PS: In diesen Tagen auf dem Rennsteig wandernd, mit viel Zeit zum Nachdenken.
Mit Grüßen aus dem hitzigen Dresden (Ohrensessel sind derzeit wenig geeignet, kühlen Kopf zu bewahren!) erlaube ich mir den beiden Diskutanten Wolff/Lerchner zu bestellen, wie angenehm souverän und auch inhaltlich sachlich der Gedankenaustausch in diesem Blog erlebbar ist, was vor allem von Respekt vor dem Anderen zeugt und die geistige Qualität beider offenbart. Zu Thilo Sarrazin (vor dem Hintergrund seiner SPD-Mitgliedschaft, was für die Sozis wenig hilfreich sein dürfte) folgende Ergänzung:
In seinem Essay zur vor 80 Jahren stattgefundenen Weltkonferenz in Évian-les-Bains (Genfer See) schreibt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (Gießen u.a. zur Fragestellung, wie die damalige Judenfrage mit der gegenwärtigen Flüchtlingsthematik vergleichbar sei wie folgt, Sarrazin zitierend:
„Damals habe man einer Elite den Zugang verwehrt, die eine geistige, wissenschaftliche und wirtschaftliche Bereicherung für jedes aufnehmende Land gewesen wäre. Einwanderer heute seien dagegen durchweg weing gebildet, dem Westen kulturell fremd und keine bereicherung für die Länder Europas.“
Leggewie kommentiert dazu: „Um eine vermeintliche Umvolkung abzuwenden, träumt manch Identitärer von Säuberungen.“
Dieser Beitrag ist übrigens in der ZEIT vom 21. Juni 2018 in Gänze nachlesbar – und sehr zu empfehlen.
Mehr ist dazu nicht zu sagen, nur so viel, wie brandgefährlich es ist, schwadroniert der CDU-Innen-Minister aus NRW, wie folgt:
„Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.“ Er bezweifele, dass das im Fall Sami A. geschehen sei.
Hier hat die Mahnung der CDU-Kanzlerin, Denken, Sprache und Handeln sei zusammenhängend nichts gefruchtet; die nachgeschobene Entschuldigung des Herrn Minister, der Schaden vom Volk abzuwenden habe, dokumentiert letztlich die offensichtliche Unkenntnis verfassungsrechtlicher Details – zu großem Schaden dieser Demokratie.
Zurück zur SPD:
Auch in diesem Falle sollte sie präsenter agieren!
Man fragt sich so ein bißchen, wie der demokratische Diskurs nach Ihrer Ansicht funktionieren soll, lieber Herr Wolff, wenn das ein ernsthafter Beitrag von Ihnen sein sollte.
Mir dagegen scheint, daß es in allen Parteien durchaus auch Ansichten gibt, die entweder – vielleicht – richtig sind oder zumindest diskussionswürdig. Und man kann sogar Menschen, die eine andere Meinung haben, trotzdem für klug oder „strategisch denkend“ ansehen. Das alles – sollte man meinen – ist eine Selbstverständlichkeit im demokratischen Diskurs und Verständnis.
Ich finde richtige Aussagen oder Strategien in allen unseren Parteien – die Frage ist, wie viel jeweils. Und dann befürwortet man die Partei, mit der es am meisten Übereinstimmung gibt.
Es ist wohl aus diesem Grund, daß es mir leichter fällt als Ihnen, einigen Ihrer Aussagen zuzustimmen, Ihre Argumente ernst zu nehmen und das Bedenkenswerte in allen Argumenten herauszufiltern. Aber Sie, so scheint Ihre Anrtwort anzudeuten, haben mein Argument nicht verstanden – daß nämlich eine Sammlung von Menschen gleicher Ansicht mehr bewirken könnte als eine Aufsplitterung und daß also Wagenknechts Initiative immerhin strategisches Denkvermögen zeigt (Sie scheinen es ja nicht zu haben) und zwar ganz unabhängig von Sympathie oder nicht. Und Ihre Antwort zeigt, daß Sie eben an der Diskussion gar nicht interessiert sind, sondern nur Papst spielen wollen. Wer wirklich politisch denkt und diskutiert, der kümmert sich nicht um die Frage der Sitzunterlage seines Partners, sondern um dessen Argumente – aber eben um die geht es Ihnen nicht.
Schlechter Stil und unnötige Aggression, widersprüchliche Bewertungen je danach wie’s passt, einseitige Schlüsse und undurchdachte Ablehnung wenn’s der Falsche sagt (man nennt das Vorurteil) – das ist doch wirklich unter Ihrem Niveau. Im privaten Schriftverkehr zwischen uns sind Sie ja deutlich besser – schade, daß Sie neben doppelter Moral auch zwei Diskussionsebenen zu benötigen glauben,
Ich grüße Sie – und widerhole, daß ich Ihren Beitrag zur SPD, soweit er inhaltlich war, recht gut fand – auch wenn ich nicht mit allem übereinstimme oder es verallgemeinernd auch auf andere Parteien zutreffend finde.
Andreas Schwerdtfeger
Na, hier zeigt sich unser Freund Lerchner aber als echter Sozialist:
Er will unsere Kinder und Enkel nicht mit maroden Brücken belasten und deshalb Schulden machen. Als wäre da ein Unterschied. Der richtige Weg ist ja wohl weder das eine noch das andere sondern auskommen mit dem Geld, das man hat. Und das heißt: Ende aller überflüssigen Sozialausgaben und Steuergeschenke, nachdem der Staat sowieso schon die große Umverteilungsmaschine von oben nach unten ist mit seinen jährlich rund 150 Milliarden allein auf Bundesebene für diesen Zweck. Wozu übrigens auch – kleiner Betrag, aber immerhin – auch die Kindergeldfrage gehört, die aber – wir wissen es von Herrn Wolff, dem Verteidiger der Presse (wenn’s paßt) – nur von der Presse „aufgebauscht“ worden ist. Unsere Medien!
Er hält weiterhin nichts von der Selbstverantwortlichkeit des freien Bürgers, die ja Humbug ist. Also, wir haben immer dann den „mündigen Bürger“, wenn es gerade mal wieder um Verteilung, um Demonstration, um individuelles Recht gegen Vernunft und Gesellschaft geht; ansonsten bitte schön möge der Bürger sich vom Staat entmündigen und abhängig machen lassen und bloß nicht selbst denken oder handeln – alles Humbug. Also auch alle die Leute in Pödelwitz? Und ganz lustig ist: Wenn man den selbst denkenden Menschen fordert, fördert man die Rechten – zu viel Ehre, wo sie kaum hingehört!
Herr Wolff trägt auch eine Weisheit bei: Interessenkonflikte dürfen nicht militärisch ausgetragen werden. Wer hätte das gedacht! Er vergißt zu erwähnen, daß man Friedenspolitik nur machen kann, wenn sie von starken und glaubwürdigen Streitkräften untermauert ist.
Und die Bewegung „Aufstehen“ ist also zutiefst suspekt. Frau Wagenknecht – nicht meine Favoritin auf dem Wahlzettel – denkt strategischer als so mancher selbsternannte Politikexperte: Sie hat erkannt, daß die Aufsplitterung beider großer Lager in viele kleine Einzelparteien zu Macht- und Einflußverlust führt – dies auch in finanzieller Hinsicht für die Parteien – und daß man dem entgegenwirken sollte. Der Gedanke ist richtig und ja auch schon im sozialistischen Motto des „gemeinsam sind wir stark“ ausgedrückt. Daß diese „Bewegung“ eher Taktik als Überzeugung ist, steht auf einem anderen Blatt.
Man fragt sich außerdem, wer entscheiden darf, was ein „leistungsloses Einkommen“ ist.
Man fragt sich, wie man auf Herrn Macron zugehen soll, der bei aller Leuchtkraft wie alle seine Vorgänger sehr „französische“ Nationalpolitik macht und ein Euroznenbudget insbesondere deshalb befürwortet, weil es von Deutschland finanziert würde. Ich bin sehr für eine Art „europäischer Länderfinanzausgleich“, aber er kann nicht nach der „Methode Berlin“ funktionieren: Wir leisten uns was, was andere bezahlen aber sich selbst (noch) nicht leisten können.
Seien Sie gegrüßt und machen Sie weiter mit der Flexibilität des Argumentierens,
Andreas Schwerdtfeger
Irgendwie verräterisch-belustigend, wie sich nun diejenigen, die mit den Linken nichts am Hut haben, plötzlich um Sahra Wagenknecht scharen und Gefallen an „aufstehen“ finden. Vielleicht liegt es ja am zu langen Sitzen im Ohrensessel … Beste Grüße Christian Wolff
Lieber Herr Wolff,
dass die SPD aus dem Jammertal nicht herauskommt, ist kaum verwunderlich, hat sich doch für Außenstehende seit dem Außerordentlichen Bundesparteitag im Januar wenig Neues getan. Heute, ein Dreivierteljahr nach den zum Teil sehr inhaltsreichen und konstruktiven Debatten über die von vielen erhoffte Erneuerung der SPD (wir hatten auch hier in Ihrem Blog gestritten), sollten neuerliche Apelle zur Profilierung der SPD konkreter ausfallen, als es in Ihrem Blogbeitrag geschehen ist.
Sie schreiben, „bis heute vermag die SPD nicht, Themen zu setzen, Politikfelder zusammenzubinden, neue Antworten zu finden.“ Kann sie oder will sie nicht? Die zu lösenden Probleme sind offensichtlich und Lösungsvorschläge liegen seit langem auf dem Tisch. Mit dem gegenwärtig maßgebenden Personal scheinen aber Fortschritte unmöglich zu sein.
Die SPD ist nicht in der Lage, sich für ein Steuersystem einzusetzen, das den Leistungsträgern der Gesellschaft zu Gute kommt, riesige, leistungslose Einkommen aber abschöpft.
Mit der SPD ist es zweifelhaft, ob die 40 % der Bevölkerung, deren Einkommen in den letzten zehn Jahren stagnierte oder gar zurückging, einen spürbaren Wohlstandsgewinn erwarten können. Gut, in Sachen Niedriglohnsektor gibt es gewisse Fortschritte.
Dass die SPD endlich Abschied nimmt vom Denken einer „schwäbischen Hausfrau“, also die „Schwarze Null“-Ideologie entsorgt, um umfangreiche Investitionen in Infrastruktur und Bildungseinrichtungen zu ermöglichen und damit zunehmende Belastungen für unsere Kindern und Enkeln verhindert, scheint wohl eher unwahrscheinlich zu sein.
Wo bleibt die klare Unterstützung der Vorschläge der Europäischen Kommission und Manuel Macrons bezüglich Eurozonen-Budget und Europäischem Währungsfond? Wird sie der CDU in dieser Angelegenheit ernsthaft Widerstand entgegensetzen? Kaum. Die Rechten in der SPD solidarisieren sich eher mit den neoliberalen Kräften in der CDU.
Friedenspolitik heißt heute vor allem, sich dem Wirtschafts- und Propagandakrieg der USA gegen Russland entgegenzustellen (kein spezifisches Trump-Problem!), dabei deutsche Interessen wahrzunehmen, sich also, wie es Klaus von Dohnanyi unlängst formuliert hat, aus dem Vasallenverhältnis zu Amerika zu lösen. Leider stützt die SPD einen Außenminister, der den Steinzeitideologen vom SPD-Arbeitskreis „Neue Ostpolitik“ das Wort redet.
Und was das Lafontaine-Wagenknecht-Bashing angeht: Da hätte ich intellektuell Anspruchsvolleres erwartet. Es wird sich zeigen, ob auch in Deutschland eine Sammlungsbewegung linkes Potential (re-)aktivieren kann. Dass das SPD-Establishment der Wagenknecht-Initiative nicht wohlgesonnen ist, kann man verstehen, wird es doch mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert, linke Führungskraft im Lande zu sein. Statt Propagandaparolen („links-nationales Gehabe“) wünsche ich mir eine ernsthafte, konstruktive Auseinandersetzung. Lohnt es nicht, darüber zu diskutieren, inwieweit ein entwickelter Sozialstaat bis auf weiteres einen nationalstaatlichen Rahmen erfordert? Was ist falsch an der These, dass die gegenwärtige Konstruktion des Euro den Staaten wichtigen fiskalischen Spielraum nimmt und sie zum Spielball internationaler Finanzmärkte macht? Friedrich Hajek, einer der Vordenker des Neoliberalismus, hat schon gewusst, wie man Staaten zwingen kann, den Sozialstaat zu demontieren. Herr Wolff, vielleicht können Sie mal etwas dazu schreiben, wo Sie Schnittmengen und Divergenzen zwischen der SPD und anderen linken Kräften im Lande sehen? Es wäre sicherlich interessant.
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Lerchner
Lieber Herr Lerchner, vielen Dank für die ausführliche Antwort. Sie haben absolut recht: es fehlen die Konkretisierungen. Sie liefern sie teilweise nach. Ein paar Punkte hatte ich selbst angedeutet: Kohleausstieg, Verbindung der Sozial- mit der Integrationspolitik. In Sachen Europa fehlt völlig eine klare Positionierung in Richtung Macron. Doch mit jeder Konkretisierung wird das Dilemma nur noch deutlicher. Derzeit ist niemand in der SPD da, der die unterschiedlichen Ansätze zu verbinden vermag. Das aber ist dringend erforderlich, wenn die SPD wieder wahrgenommen werden will. Ihr Problem ist vor allem, dass sich immer weniger Menschen, die politisch engagiert sind, für sie interessieren. Der Grund dafür ist: die SPD verfügt derzeit über keine Anziehungskraft. Diese ist aber nur zu erreichen über eine überzeugende Programmatik (da verweise ich auf meine Punkte) und über Personen, die diese verkörpern.
Nun noch ein Wort zur „Bewegung“ (das Wort ist zwiespältig) „aufstehen“. Ich war auf der Webside, die bis jetzt wenig aussagekräftig ist: Testimonials von Menschen, die unzufrieden sind und eine Veränderung wollen, aber keine inhaltliche Positionierung. Die wird nachgeliefert durch die Interview-Äußerungen von Lafontaine und Wagenknecht. Diese allerdings sind für mich nicht überzeugend: Lafontaine plädiert für den Nationalstaat, Wagenknecht will kein Einwanderungsgesetz. Wenn ich die Begründungen lese, bin ich schnell bei entsprechenden Äußerungen der AfD. Das ist in meinen Augen kreuzgefährlich – und das alles hatten wir schon einmal. Wenn ich dann noch zur Kenntnis nehme, wie Höcke seinen völkischen Nationalismus mit „sozialistischen“ Themen aufbläht, dann wird mir angst und bange. Diese Art von „Bewegung“ ist mir zutiefst suspekt, was auch mit den beiden Führungsfiguren zusammenhängt.
Darum (das zu Ihrer letzten Bitte) in aller Kürze: Für mich muss sich eine sozialdemokratische Position jenseits jeder Form von Nationalismus und Imperialismus bewegen, d.h. internationale Zusammenarbeit dient der Entwicklung gerechter Lebensverhältnisse im Innern und nach außen; Interessenkonflikte müssen grundsätzlich nicht militärisch ausgetragen werden; kulturelle, religiöse Unterschiede müssen erhalten bleiben auch unter den Bedingungen von offenen Grenzen; das alles erfordert eine demokratische und sozial gerechte Gesellschaft. Das Motto von 1989 „Für ein freies Land mit offenen Grenzen“ – das sollte fast 30 Jahre danach noch einmal durchbuchstabiert werden. Beste Grüße Christian Wolff
Lieber Herr Wolff,
herzlichen Dank für das Eingehen auf meine Bemerkungen. Ich bin allerdings nicht mit allem einverstanden. Linke, die sich positiv zum Nationalstaat positionieren, in die Nähe von Nationalsozialisten zu rücken, find ich, gelinde gesagt, nicht sehr scharfsinnig. Wäre es nicht besser, „Nationalstaat“ positiv zu besetzen, als das Thema den völkischen Dumpfbacken von AfD und Neuen Rechten zu überlassen? Außerdem halte ich es für sehr löblich, wenn kluge Leute wie Frau Wagenknecht beharrlich darauf hinweisen, dass die Demontage von (National-)Staatlichkeit die Sozialsysteme in Gefahr bringt und zuallerletzt den Schwachen der Gesellschaft nutzt. Das Gerede von der „Selbstverantwortlichkeit des freien Menschen“ ist Humbug. Es sind diejenigen, die das nicht verstehen oder nicht verstehen wollen und nicht entsprechend handeln, die letztendlich das Wasser auf die Mühlen von Nationalisten lenken, die die sozialen Ängste Teile der Bevölkerung ausnutzend ihr braunes Süppchen kochen.
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Lerchner
Lieber Herr Lerchner, muss es nicht mehr als nachdenklich stimmen, wenn AfD-Versteher Patzelt nun Wagenknecht lobt? Außerdem empfehle ich den ausgezeichneten Artikel von Colin Crouch in der neuen ZEIT „Brauchen wir eine linke Sammlungsbewegung?“ zur Lektüre sowie den trefflichen Kommentar von Reinhard Borgmann https://www.youtube.com/watch?v=uTXor4NQ8-s. Beste Grüße Christian Wolff
Man sieht an Ihrer Antwort zu Herrn von Heydebreck, daß Sie den Anspruch der SPD, Volkspartei zu sein, aufgegeben haben: Wer nicht Ihrer Meinung ist in der Partei, der möge sie bitte verlassen. Das ist das Denken eines nicht allzu demokratisch gesinnten Splitterpartei-Befürworters mit Anspruch auf alleinige Wahrheit. Sarrazin, das steht fest, hat unabhängig von Ihrer Meinung und auch von seiner Parteimitgliedschaft zu viel standing, als daß er in die Bedeutungslosigkeit abrutschen könnt. Seine fundierte Meinung ist allemal bedenkenswerter als Ihre häufigen Tiraden. Denn wieder einmal ist es ja so, daß Sie auch in diesem Beitrag, in dem Sie einiges Vernünftige zu Ihrer Partei feststellen, einen unfeinen Ausrutscher versteckt haben, indem Sie einen Ministerpräsidenten, der Ihnen nicht passt, als „Lobbyisten“ verunglimpfen und ihm also unterstellen, daß er von einer Seite gekauft ist, Wer solche „Argumente“ in die Diskussion einbringt, disqualifiziert sich selbst.
Ihre geschichtliche Sicht auf die Bundesrepublik in Ehren, auch wenn sie nicht so ganz den Realitäten entspricht. Man merkt eben zu deutlich, daß Sie ein sehr unkritischer Anbeter Willy Brandts sind, dessen Verdienste um die Vision eines Ost-West-Ausgleichs auch in seiner konkreten Politik nicht geleugnet werden sollen. Aber daß er und einige in seinem Zirkel (Eppler zB) in ihrer blauäugigen Naivität Deutschland in schwere Gefahr gebracht hätten, indem sie sowjetische Aggressivität verharmlost und westliches Verteidigungsbemühen verteufelten, zeigt sich ja schon daran, daß der sehr viel vernünftigere und realistischere Kanzler Schmidt die Wende in dieser fatalen Politik eingeleitet und damit erst die Wende in der Weltsituation ermöglicht hat. Das Beispiel zeigt, was ich Ihnen immer scheibe: Wer in seinen naiven und realitätsfernen Visionen nur das Optimum anstrebt, verspielt das Mögliche. Brandt, der glücklicherweise stürzte, bevor er das für die Sowjetunion attraktive „Vakuum Deutschland“ mit Hilfe der Strasse herstellen konnte – ein Vakuum, das sich die Sowjetunin nur zu gerne geschnappt hätte – war als Kanzler realitätsfern und hatte seine „große Zeit“ als Berliner OB schon hinter sich.
Was Sie nun zur SPD schreiben – ich finde es gut. Allerdings gilt es fast wörtlich auch für die anderen demokratischen Parteien. Es ist ja das Problem der SPD – und der CDU/CSU – daß sie eigentlich kein wirkliches Alleinstellungsthema mehr haben, weil alle Themen zu teuren Schlagworten verkommen sind und es den Parteien in Wirklichkeit allzu oft nur noch um die Verteilung von Kopeken an ihre Klientel geht (und an sich selbst). Was wir brauchen, ist die Vision von der Selbstverantwortlichkeit des freien Menschen.
Herzliche Grüße,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Wolff, statt nur den Rückgang des Ansehens Ihrer Partei zu beklagen, sollten Sie auf die Genossen aufmerksam machen, die auch aktuelle Fragen offen behandeln und sich an Tabu-Themen wagen wie der frühere Neuköllner Bürgermeister Bukowski und der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin. An ihn schrieb ich aus gegebenem Anlass gestern Folgendes:
„ich freue mich sehr, dass Ihr Leserbrief gestern in der FAZ abgedruckt wurde und noch mehr über die ausführliche Behandlung Ihrer Thesen in der heutigen FAS.
Auch ich leugne nicht, dass die Genetik, also das jeweilige Erbe, das man nicht beeinflussen kann, eine große Rolle im Leben jedes einzelnen Menschen spielt. Entscheidend scheint mir aber die frühkindliche Prägung und die Erziehung, also die Bildung zu sein, die jeder Einzelne als Eltern, Lehrer und Erzieher, aber auch die Staaten durch eine geeignete Bildungspolitik durchaus beeinflussen können. Insofern bin ich zwar etwas anderer Ansicht als Sie, begrüße aber, dass Sie in Ihren Büchern und Artikeln dies Thema, das in Deutschland verständlicherweise zu einem großen Tabu geworden war, ganz sachlich heraus gearbeitet und so sehr wesentlich zu dieser wichtigen Diskussion beigetragen, ja sie eigentlich ausgelöst haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die SPD Sie deswegen aus Ihrer Partei ausschließen wird, mit welchem Argument?“
Solche Parteimitglieder, mit denen man vorurteilsfrei auch unterschiedliche Ansichten diskutieren kann, sollte die SPD viel mehr heraus stellen.
Viele Grüße Ihr Hans v. Heydebreck
Lieber Herr von Heydebreck, ich kann nur hoffen, dass Herr Sarrazin lieber heute als morgen die SPD verlässt und das unwürdige Spielchen beendet, mit seiner Mitgliedschaft die Verkaufszahlen seiner Bücher in die Höhe zu treiben, die inhaltlich nichts mehr mit der Sozialdemokratie zu tun haben. Aber Thilo Sarrazin weiß zu genau, dass sein Austritt aus der SPD ihn in die Unbedeutendheit schicken wird. Beste Grüße Christian Wolff
Das „deckt“ sich mit meinem „politischen Bauchgefühl“, das mich regelrecht „heimgesucht“ hat und zwar schon 2013 zum 150-jährigen Jubiläum der Partei. Damals konnte ich mich nur sehr schwer des Eindrucks erwehren, wenn es tatsächlich ein „Sozialdemokratisches Jahrhundert“ gegeben haben sollte, so ist dies unwiderruflich zu Ende gegangen. Und mit jeder weiteren GROKO schreitet die „Selbsverzwergung“ munter fort.