Aus Anlass des 250. Geburtstages des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) hat Thomas Assheuer einen äußerst lesenswerten Essay in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT geschrieben. Darin geht er der Frage nach, was der Hegelsche „Weltgeist“ heute macht und ob er angesichts der aktuellen Krisen (Coronavirus, Klimawandel, Hochrüstung, aufstrebende diktatorische Autokratien) „noch an die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit (glaubt)“. Assheuer weist darauf hin, dass für Hegel die Freiheit eng verbunden war mit dem Christentum, weil die Christen verstanden, „dass der Mensch ‚an sich frei ist‘ – und zwar jeder einzelne“. Schließlich erinnert Assheuer daran, dass „Israel … mit dem mythischen Denken (bricht) und … eine Revolution (verkündet): den Bund mit Gott und den Auszug aus der Knechtschaft.“ Daran anknüpfend fragt Assheuer: „… wäre es nicht höchste Zeit, dass die Weltkulturen auf ihre jahrtausendealte Bildungsgeschichte zurückblicken …? Müssten sie sich nicht dringend ihrer gemeinsamen Ursprünge versichern und erkennen, wie bedroht alle Zivilisation ist?“ Damit appelliert Assheuer letztlich auch an die Kirchen, sich ihrer Ursprünge bewusst zu werden und ihren Beitrag zu leisten, damit so etwas wie ein sich daraus entwickelnder Weltgeist eine lebenswerte Zukunft für diesen Planeten entwerfen kann. Denn für den christlichen Glauben gilt Ähnliches, was Assheuer am Schluss seines Essays im Blick auf die soziale Demokratie ausführt: „Ihre Strahlkraft gewinnt sie nicht aus neuen Utopien, sondern aus den unerfüllten Versprechen der alten.“ Mit anderen Worten: Es wäre viel gewonnen, wenn die christlichen Kirchen wieder an das biblische Gottes- und Menschenbild anknüpfen. So könnten sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Menschen weltweit und in einem interreligiösen und interkulturellen Miteinander neue Gewissheiten erfahren, Möglichkeiten eines „Weltrechtsprinzips“ erkennen und so Vereinbarungen treffen können „über eine faire Weltwirtschaft, über globale Mindeststeuersätze, globale Umweltstandards sowie die Abschaffung der Todesstrafe und das Verbot der Menschenzüchtung.“
Doch das würde erforderlich machen, dass die Kirchen die grundlegenden Anknüpfungspunkte ihrer Glaubens- und Bildungsgeschichte offenlegen und aktuell kommunizieren:
- Es ist der Glaube an den Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde. Er hat die alten, mit martialischer Gewalt verbundenen Schöpfungsmythen abgelöst. Das Universum wurde nicht durch tödliche Machtkämpfe geschaffen, sondern durch das Wort: „und Gott sprach …“. Am Anfang aber schwebt Gottes Geist über dem Wasser und schafft so Ordnung im Chaos. Dieser Weltgeist befreit von Mythen und Verschwörungsideologien, deren Wesen es ist, Wirklichkeit zu vernebeln und Gewaltszenarien zu entwerfen. Er leitet den Menschen dazu an, sein Leben vor Gott und den Menschen zu verantworten.
- Der erste, der hebräische Teil der Bibel, den Juden wie Christen als ihre Heilige Schrift ansehen, beginnt mit der sog. Urgeschichte (1. Mose 1-11). Sie hat fünf Teile: Schöpfung und Paradies, Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Sintflut und Arche Noah, Turmbau zu Babel. Diese Erzählungen gehen der uralten Frage des Menschen nach dem Woher und Wohin, nach dem Wozu und nach dem Wie des Lebens nach und reflektieren diese. Die alten Erzählungen wollen klären, dass nichts im Leben des Menschen zwangsläufig und nichts zufällig ist. Die Urgeschichte ist universal und interreligiös zu verstehen, weil sie vom Menschen als Geschöpf Gottes handelt – völlig unabhängig von seiner nationalen, religiösen, ethnischen Herkunft und Identität.
- In der Urgeschichte werden zwei Grundkonstanten des Lebens reflektiert: die Macht des Todes und die Macht der Sünde. Adam und Eva wollen sein wie Gott und müssen die Konsequenzen tragen – nämlich gut und böse sein zu können. Kain erschlägt seinen Bruder Abel aus niederen Motiven und fürchtet nun die Rache/Todesstrafe. Die Sintflut markiert das von Menschen provozierte Ende des Planeten Erde. Der Turmbau zu Babel deckt die Vergeblichkeit des Menschen auf, durch erzwungene Einheitlichkeit Monumentalbedeutung zu erlangen. Er sucht Gott im Himmel, um sich an seine Stellung einnehmen zu können – merkt aber nicht, dass Gott sich längst auf der Erde aufhält. In diesen Erzählungen wird die Katastrophe eines an sich unwiderruflichen Endes dargestellt: Eigentlich hat das Leben keine Zukunft mehr. Darin sind sie höchst aktuell! Doch dann folgt das Überraschende: die Einsicht Gottes, dass es nur ein Mittel gegen den Tod, gegen Gewalt, gegen das mutwillige Verspielen des Lebens, gegen die Überheblichkeit des Menschen gibt: die Bewahrung, der Schutz des Lebens. Darin liegt der Keim des neuen Anfangs, des Guten. Vernichtung, Vergeltung bewegen sich auf der Ebene der Gewalt, des Hasses, des Terrors und bedeuten nur: Tod, unwiderrufliches Ende.
- Es ist ein aufregender, immer neu zu kommunizierender Aspekt des biblischen Glaubens, dass Gott – auf dem Umweg von Vernichtungsabsichten – zu dieser Einsicht gelangt: Vernichtende Strafe zerstört Zukunft. Es ist ein Segen, dass Gott diese Einsicht nie mehr aufgibt, sondern sie immer deutlicher werden lässt – bis sie in der Auferstehung Jesu Christi von Toten unwiderruflich geworden ist. Auch hier hat sich Gott nicht auf die Ebene des Todes ziehen lassen, indem er den Tod Jesu mit Vernichtung beantwortet. Er hat – und daran erinnert das Kreuz – die Macht des Todes zunächst anerkannt, ihr sich ausgeliefert und unterworfen, um dann mit der Auferstehung den neuen Anfang zu ermöglichen. Darum ist es ein doppeltes – ein theologisches und ein tatsächliches, handgreifliches – Verbrechen, dass Christen in ihrer Geschichte meinten, den Tod Jesu an den Juden rächen zu müssen und Judenhass und Holocaust förderten. Jesus Christus hat aber keinen neuen Gott offenbart. Vielmehr wurde in seinem Wirken der Gott Israels erkennbar. Darum können Christen die biblische Urgeschichte nur als Ur-Evangelium lesen.
- Vergebung und Gnade, also die Befreiung des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit und seine Rechtfertigung/Menschenwürde, sind Aspekte, die im Mittelpunkt kirchlichen Redens und Handelns stehen müssen – immer verbunden mit dem deutlichen Ruf zur Umkehr und der Bereitschaft, alle individuellen, gesellschaftlichen, globalen Ereignisse des Lebens unter der Fragestellung zu reflektieren: Welche Botschaften hält Gott für uns Menschen bereit? An welchen Stellen müssen wir umsteuern? Diesen Fragen nachzugehen und auf den Alltag der Menschen herunter zu brechen, wäre die zentrale Aufgabe der christlichen Gemeinden in der Coronakrise gewesen.
Ein solches Denken und Glauben ist nur möglich, wenn wir zum einen die „Strahlkraft“ der biblischen Einsichten nicht verblassen lassen, jeden Tag neu und aktuell kommunizieren und zum andern durch entsprechendes prophetisches Handeln die Einsichten zum Strahlen bringen, um so vor allem den Enttäuschten und um ihre Anerkennung Ringenden den Rücken zu stärken.
11 Antworten
Am „biblischen Welt- und Menschenbild“ muss man überhaupt nicht anknüpfen, sondern an die Realität, die einstmals anthropomorph vorgestellt wurde. Die Auferstehung ist die Tatsache, um die sich alles dreht. Das muss mit heutigen Mitteln aufgezeigt werden.
Zeitgemäß kann heute die Wahrheit so verkündet werden, wie ich das zum Beispiel hier – https://www.academia.edu/43836568/Das_Gericht_Gottes – und hier – https://www.academia.edu/43836568/Das_Gericht_Gottes – zeige.
Entschuldigung, beim zweiten link sollte es sich um diesen handeln: https://www.academia.edu/37936734/Genetik_Reinkarnation_Kirche .
Ich wollte auf die Ergebnisse, der parapsychologischen Forschung, der Genetik u.a. hinweisen, die für die Reinkarnation sprechen und zeigen, wie die Kirche mit unzureichenden Argumenten gegen die Reinkarnation argumentiert(e).
Die dominierende Sichtweise, dass das Hegel’sche Gedankenkonstrukt eines Weltgeistes wenig fruchtbar für das Verständnis der Geschichte antreibenden Kräfte ist und schlimmsten Falles für die Legitimation von Allmacht missbraucht werden kann („Gott habe einen Plan für die Welt, und die Vereinigten Staaten verwirklichten ihn unter göttlicher Führung“, Noam Chomski, in „Wer regiert die Welt“), wird auch im angeführten Essay von Thomas Assheuer nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil. Die Weltgeist-Gedankenspiele Assheuers dienen wohl eher als netter Rahmen für eine (eklektische) Generalkritik an den gesellschaftlichen Zuständen unserer Zeit. Dass es tatsächlich eines „wohlmeinenden Weltgeistes“ bedürfe, um „die Vereinten Nationen wiederzubeleben und die Staaten von zerstörerischem Wachstumszwang zu befreien“, ist doch wohl nicht ernst gemeint. Gefragt sind sachliche Analyse und koordiniertes politisches Handeln. Übertriebene Antirassismus-Kampagnen und das Stürzen von Sklavenhalterdenkmälern rangieren dabei weit hinten. Auch die Hoffnung, dass sich aus der Rückbesinnung der Kirchen auf ihre Ursprünge „so etwas … wie ein Weltgeist“ entwickelt (C. Wolff), der eine lebenswerte Zukunft für diesen Planeten entwerfen kann, erscheint mir erstaunlich unpolitisch.
Lieber Herr Lerchner, das Politische besteht eben nicht nur aus „sachlicher Analyse und koordiniertem politischen Handeln“. Es kommt auch immer darauf an offen zulegen, aus welchen Quellen sich denn politische Grundüberzeugungen ableiten lassen und speisen. Hier kommen dann die Anknüpfungspunkte ins Spiel, die ich im Blog-Beitrag kurz skizziert habe, die sehr wohl höchst politische Konsequenzen haben, wenn ich sie denn anwende. Insofern sehe ich mich vom Vorwurf des „Unpolitischen“ nicht getroffen. Beste Grüße Christian Wolff
Ein Aspekt der Schöpfungsgeschichte wäre aus meiner Sicht noch zu betonen: Gott schuf nicht Sonne und Mond, sondern setzte „Lichter“ an den Himmel, die einen Zweck hatten. Sonne und Mond (sol und luna) wurden ja zur Zeit der Abfassung des Berichts als Götter verehrt. Nach dem biblischen Schöpfungsbericht aber können sie als Gegenstände durch den Menschen erforscht werden.
Die Natur ist nicht mehr mythisch.
Man könnte fast sagen, dass die Wissenschaft hier in dieser Fassung des Schöpfungsberichts ihren Ursprung hat und sie ist weitgehend eben nicht zufällig im christlich-jüdischen Kulturraum entstanden. Dazu gehört auch die Astrophysik und die Entwicklung von Computern, die Viehzucht und die Psychologie, der Erforschung von Vulkanen und die Entwicklung von Wasserstoffautos…
Der Mensch ist da grundsätzlich frei, durch keine Gebote eingegrenzt, Geheimnisse zu erforschen, und nur begrenzt durch die Freiheit der anderen Menschen. Einen „Weltgeist“, von dem Hegel spricht, ist dazu nicht nötig zu denken.
Es kommt immer wieder zu „unvernünftigen“ Entscheidungen, die mit einer gewissen „Gottesdummheit“, wie Thomas Mann es ausdrückt, zusammenhängen, also mit unserer Sünde, die sich im politischen Leben und in unserem Alltag leider immer wieder bemerkbar macht.
Die Natur auch die menschliche Natur ist nichts göttliches und hat nichts göttliches an sich, wohl aber kann ich mich an der Natur erfreuen und Gott dafür danken.
Martin Wolff
Wenn es gelingt, diese Gedanken auf der Metaebene zu verarbeiten, dann wird die Verantwortung für die Vorgänge auf dieser Welt(psycho-)logisch.
Der Arikel ist ja „an und für sich“ sooooo richtig. Alles formal korrekt, nur leider ist die Wirklichkeit und der Mensch (siehe auch unten zu Karl Marx) nicht danach. Denn: Leider ist weder die biblische Vernunft (Gen 1-11 ) noch Hegels ach so vernünftiger Weltgeist eine Abbildung der Wirklichkeit des Menschen (wie im Übrigen die reale Entwicklung nach Hegel zeigt, denn es ist alles ganz anders gekommen, als von ihm qua Weltgeist prognostiziert). Der Mensch „an und für sich“ ist eben nur sehr partiell, sehr sehr partiell durch Vernunft bestimmt. An Trump (vor allen seine WählerInnnen, denn die haben ihn ja groß gemacht) und andere Potentaten muss ich nicht extra erinnern. Der Mensch „an und für sich“ ist eben nicht nur durch die todlangweilige Vernunft, öde und bleibend umstritten, bestimmt. Er ist auch durch seine vernunftverquere, ja eben un-vernünftige Emotionen und vor allem Ressentiments, Aberglauben, All- und Ohnmachtsphantasien (daher die heutigen Verschwörungstheorien bei Corona) und anderes bestimmt. Dies ist wirkmächtiger als die bloße ofer auch reine Vernunft. „Fortschritt“ in der Menschheit ist meist nur durch einzelne geniale Querdenker, die zufällig („Kontingent“ das Paradewort dafür) Entdeckungen machten, entstanden. Die träge alles immer bis zum Letzten hin und her abwägende Vernunft hat kaum Fortschritte gewirkt trotz Kant z.B. dem Obervernünftigen, dem andere (u.a. auch Hegel im Namen SEINER Vernunft) sofort widersprochem haben. Also: Ich „glaube“ nicht an die Vernunft, denn ich kenne den Menschen. Z.B. war Karl Marx‘ Philososphie, ja sein kommunistisches Ideal sehr, sehr vernünftig. Sie hatte nur einen klitzekleinen Fehler ,Der Mensch war nicht danach (kann man im Übrigen schon der Bibel bei Ananias und Saphira Apostelgeschichte 4 nachlesen). Und siehe auch die Potentaten in dee DDR, die am Ende nur für sich selbst sorgten und nicht für alle Menschen, also gut kommunistisch für das Gemeinwohl. Also:je älter ich werde, umso skeptischer werde ich da, das Hohelied der Vernunft zu singen. Vielleicht hat da Luther doch recht: Die Vernunt ist zwar nicht an sich eine Hure, aber der Missbrauch (der selbstsüchtige Missbrauch) macht sie zur Hure, die alles verdirbt. Bin ich zu pessemistisch geworden? Ich warte auf Widerspruch (zu Luther, zu Marx, zu Kant und ganz allgemeien)
Axel Denecke
So ganz verstehe ich den Einspruch nicht. Denn gerade die Urgeschichte ist ein Versuch, mit der Unzulänglichkeit des Menschen, seiner „UnVernunft“, seiner Endlichkeit, seiner Herrschsucht umzugehen und sie zu deuten. Ganz wichtig: Genauso wenig wie sich Gott mit der Sünde des Menschen einfach abfindet, sollten wir es tun. Seine Gnade sollte uns Menschen ebenfalls dazu ermuntern, mit uns selbst, dem Nächsten und dieser Welt gnädig umzugehen – uns also nicht einfach mit den Unzulänglichkeiten abzufinden. Darin sehe ich einen wichtigen, wesentlichen Beitrag der Kirchen zum Leben. Das war der Sinn meines Blog-Beitrages – und nicht etwa, den Menschen zum vernunftbegabten Wesen hochzustilisieren. Die Nüchternheit des biblischen Menschenbildes sollte uns niemals zum den Status quo rechtfertigenden Fatalismus verleiten. Dieser Gefahr sind Luther und die lutherische Theologie leider immer wieder erlegen. Christian Wolff
„Der Mensch ‚an und für sich‘ ist eben nicht nur durch die todlangweilige Vernunft, öde und bleibend umstritten, bestimmt.“
Todlangweilige Vernunft? Dann schjauen Sie doch mal in Christian Wolffs
„Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, 1719,
Die sechste Auflage hin und wieder vermehret 1736“
http://dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=https%3A%2F%2Fdigital.ub.uni-duesseldorf.de%2Foai%2F%3Fverb%3DGetRecord%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3D9294137&tx_dlf%5Bpage%5D=6&cHash=a54a3ba738598528f4740e0ee05d9077
Da sich der Artikel hinter einer Bezahlschranke befindet, habe ich ihn zum Download bereitgestellt: https://www.file-upload.net/download-14227197/Hegel-Assheuer-20-8-6ZEIT.pdf.html
Danke.