Die grausame Enthauptung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty auf offener Straße im Pariser Vorort Conflans-Saint-Honorine durch einen Islamisten und der tödliche Messerangriff eines syrischen Islamisten auf zwei Touristen in Dresden am 4. Oktober 2020 legen schonungslos offen: Jede Form von Fundamentalismus ist nicht nur menschenfeindlich, Fundamentalismus ist der Vorhof des Terrorismus. An solch horrenden Verbrechen gibt es nichts zu rechtfertigen oder zu beschönigen. Wenn wir aber nun eine Debatte über die Vorgänge in Paris und Dresden führen, dann haben wir sehr zu differenzieren zwischen dem gewalttätigen Fundamentalismus und der Ideologie, dem politischen Programm, der Religion, auf die er sich beruft. Denn das Wesen des politischen, religiösen, moralischen Fundamentalismus besteht darin, dass durch ihn anders denkende, anders glaubende Menschen in ihrer Integrität so entwertet werden, dass die Auslöschung ihres Lebens als heldenhafte Tat gewertet wird. Im Fundamentalismus geht es eben nicht darum, die eigene Position und Überzeugung zu entwickeln, zu festigen und in einen öffentlichen Diskurs einzubringen. Vielmehr werden die eigene Ideen- oder Glaubenswelt absolut gesetzt, und alle, die sich dort nicht beheimaten wollen bzw. diese ablehnen, als lebensunwerter Störfaktor betrachtet. Man macht aus ihnen Ungeheuer, Geziefer, Untermenschen, Teufelsanbeter, die ihr Lebensrecht verwirkt haben. So wird jede Hemmung vor todbringender Gewalt ab- und die Brücke zum Terrorismus gebaut.
Es ist der Fundamentalismus, der so gefährlich ist – nicht aber der Islam, das Christentum, der jüdische Glaube, die Moral oder eine radikal links oder rechts ausgerichtete politische Überzeugung. Sie sind für sich genommen Teile der Vielfalt menschlichen Lebens. Über sie muss offen gestritten werden können. Darum sollten wir uns hüten, fundamentalistische Gewalttaten dazu zu missbrauchen, Religion, Politik, Moral als solche zu bekämpfen. Gleichzeitig müssen aber gerade Religionsgemeinschaften, insbesondere Kirchen und islamische Verbände, ihren Beitrag dazu leisten, dass sie offensiv und unaufgefordert den mit ihrem Glauben verbundenen oder den sich auf diesen Glauben berufenden Fundamentalismus eindämmen. Sie sind vor allem aufgerufen, den Fundamentalismus grundsätzlich zu ächten. Das schließt ein, dass die eigene Vergangenheit darauf hin kritisch überprüft wird, wo die Kirche als Institution fundamentalistisch aufgetreten ist.
In diesem Sinn verstehe ich die jüngsten Äußerungen von Papst Franziskus zur Homosexualität als einen – zugegebenermaßen winzigen – Schritt in die richtige Richtung. Der Papst erkennt endlich die Realität der Homosexualität als legitime Lebensäußerung von Menschen an. Damit bricht er mit einer kirchlichen Praxis, Homosexualität als Sünde, Krankheit, Perversität zu betrachten und von Gesellschaften zu erwarten, diese Sicht zu übernehmen. In früheren Zeiten führte das in den Kirchen dazu, Schwule und Lesben gewalttätig auszugrenzen und ihrer Vernichtung tatenlos zuzusehen (wie in der Nazizeit). Auch heute noch fühlen sich fundamentalistische Kreise aufgerufen, homosexuell Lebende mit Gewalt zu bedrohen oder Frauen, die abgetrieben haben, bzw. Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, an den Pranger zu stellen, gewalttätig zu ächten, zu terrorisieren. Darum ist es wichtig, dass die Institutionen, auf deren Glaubensgrundlagen sich Fundamentalisten in ihrem schändlichen Tun berufen, klar stellen: Auch wer für sich Homosexualität für eine Sünde oder Perversität hält, auch wer für sich Schwangerschaftsabbruch als Tötungsdelikt wertet – Menschen, die den eigenen Maßstäben nicht genügen, haben ein unveräußerliches Lebensrecht. Dieses muss gerade von Juden, Christen, Moslems ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Gleiches gilt natürlich für die kritische Auseinandersetzung über Glaubensgüter in einer freien und offenen Gesellschaft. Hier kann und darf es keine Beschränkungen geben – außer denen, die durch das Strafrecht vorgegeben sind.
Es wäre viel geholfen, wenn wir uns in einer demokratischen Gesellschaft einig werden können: Der Fundamentalismus, also die Absicht, nicht nur andere Überzeugungen zu bekämpfen, sondern den Andersdenkenden und Andersglaubenden zu vernichten, ist eine große, Tod bringende Gefahr für das multireligiöse und multikulturelle Zusammenleben – und zerstört wie in Paris und Dresden Menschenleben und stürzt die Angehörigen der Ermordeten in tiefes Leid. Gerade das muss uns wachrütteln.
16 Antworten
Die Hasstiraden des türkischen Präsidenten gegenüber Macron und Europa bestätigen das über den Fundamentalismus von Ihnen, Herr Wolff, Gesagte.
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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat europäischen Politikern Islamfeindlichkeit vorgeworfen und sie als „Kettenglieder der Nazis“ bezeichnet. „Feindlichkeit gegenüber dem Islam und den Muslimen ist in manchen europäischen Ländern zu einer Politik geworden, die auf Ebene der Staatschefs persönlich ermutigt und unterstützt wird“, sagte Erdogan in Ankara. „Ihr seid im wahrsten Sinne des Wortes Faschisten“, sagte er. „Die Muslime erleben heute eine ähnliche Lynchkampagne, wie sie gegen Juden in Europa zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde.“ Erdogan wirft Europa und insbesondere dem französischen Staatschef Emmanuel Macron seit Tagen Islamophobie vor und zweifelte erneut, wie schon am Wochenende, die psychische Gesundheit des französischen Präsidenten an.
https://www.n-tv.de/politik/Erdogan-sieht-ueberall-Faschisten-und-Nazis-article22125594.html
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Zeit, sich zu wehren, meint er – und ruft seine Landsleute auf, Frankreich in die Schranken zu weisen: „Ich appelliere jetzt an meine Bürger: So, wie in Frankreich dazu aufgerufen wird, Waren ‚made in Turkey‘ zu boykottieren, so will ich meine eigenen Bürger dazu auffordern, keine französischen Waren zu kaufen!“ Erdogan schließt sich damit dem Boykottaufruf von Demonstranten in einigen arabischen Ländern vom Wochenende an.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/frankreich-tuerkei-boykott-wirtschaft-101.html
Terrorismus ist der Krieg der Armen gegen die Reichen. Der Krieg ist der Terrorismus der Reichen gegen die Armen. So kommentierte Peter Ustinov den Irak – Krieg.
Der Islamwissenschaftler Olivier Roy sieht Modernisierung, Säkularisierung und Globalisierung als entscheidende Faktoren für den Aufstieg des Fundamentalismus. Die Globalisierung habe eine Trennung zwischen Religion, Nation und Kultur bewirkt. Religiosität sei eine individuelle Angelegenheit geworden, jeder bastelt sich seinen eigenen Glauben. In den Ländern des Westens hänge die Anfälligkeit der Menschen für den religiösen Fundamentalismus vor allem von Entwurzelung, Segregation und Diskriminierung ab.
Betrachte ich Fundamentalismus allgemeiner als „Überzeugung oder Geisteshaltung, die sich durch ein kompromissloses Festhalten an ideologischen oder religiösen Grundsätzen kennzeichnet und das politische Handeln bestimmt“(Wikipedia), so ist das Festhalten sich für aufgeklärte haltender Menschen und Gesellschaften an einer weltzerstörenden Lebens- und Wirtschaftsweise selbstverständlich Fundamentalismus, also auch Vorhof von Terrorismus und Krieg.
Nach dem Attentat auf die Satirezeitschrift in Paris demonstrierten Menschen und Politiker für die Verteidigung „unserer“ Lebensweise. Was haben sie aus den Attentaten gelernt? Nichts!
Immanuel Kant sah das radikal Böse im Hang, das eigene Interesse dem allgemein Menschlichen überzuordnen. Für Hannah Arendt war es das, was man unter keinen Umständen akzeptieren darf, weil seine Folgen unabsehbar sind. Das radikal Böse habe mit dem Überflüssigmachen von Menschen als Menschen zu tun, dessen Ausdruck das Lager sei, ein Ort, an dem jede Form der Tätigkeit prinzipiell sinnlos wird.
Für sie war das Böse banal, wenn es keine Ursprünge im verbrecherischen Denken hat. Das banale Böse hat jeder zu verantworten, weil er denken kann.
Ob ein Mord aber eine Straftat ist oder nicht, ist Zufall. Er ist in jedem Fall abscheulich. Der denkende Mensch ist aber stets für ihn verantwortlich, wenn er ihn akzeptiert. Deshalb betont Jean Ziegler zu Recht, dass jedes Kind, das heute verhungert, ermordet wird.
So sieht es also auch aus, das Elend des Fundamentalismus! Alle seine Formen sind menschenfeindlich. Aber er dominiert die Welt. Das zu ändern setzt zunächst voraus, dass sich die Fundamentalisten selbst erkennen.
Ich kann nur warnen vor jeder Form, den Fundamentalismus und vor allem die aus ihm heraus wachsenden Verbrechen zu rechtfertigen – wohl wissend, dass der Grad, der zwischen Rechtfertigung und Erklärung immer sehr schmal ist. Darum kann ich mit Sätzen wie „Ob ein Mord aber eine Straftat ist oder nicht, ist Zufall.“ oder „Das zu ändern setzt voraus, dass ich die Fundamentalisten selbst erkennen.“ wenig anfangen. Es bleibt dabei: nach dem biblischen Menschenbild ist jeder Mensch für das verantwortlich, was er anrichtet – im Guten wie im Bösen. Christian Wolff
Der Mord an Samuel Paty wäre unter dem IS-Regime keine Straftat gewesen. Nichts ändert das an der Verantwortung des Mörders. Darum geht es mir, um das Gegenteil einer Rechtfertigung, nämlich die Verantwortung des Täters (da sind wir völlig einig), die die Ausrede der Pflichterfüllung nicht zulässt.
Dass Fundamentalisten sich selbst erkennen, ist denklogisch ausgeschlossen, denn dann wären Sie keine Fundamentalisten mehr. Deshalb irritiert der Satz. A. Arnold liegt mit seiner Skepsis gegenüber dem Begriff richtig. In der Realität wird er leider als Zuweisung an Andere missbraucht. Das erspart dem Verwender oft die Ursachenanalyse. Das radikal Böse (Arendt, Kant) ist universell, deshalb bevorzuge ich diesen Begriff.
Er erlaubt nicht, das Böse für gut zu halten, z.b. weil man Befehle befolgt, seine Arbeit erledigt oder „nur“ konsumiert. Einfacher wird die notwendige Debatte über die Verantwortung dadurch nicht, wie der Philosoph Markus Gabriel jüngst im Interview illustrierte: „Dieses Konsumverhalten, was wir jetzt haben, dazu gehört etwa immer das neueste Smartphone der nächsten Generation, ist in der Tat radikal böse im durchaus düstersten Sinn des Wortes, wegen der kausalen Liefer- und Produktionsketten, die daran beteiligt waren, und wegen des hohen Energieverbrauchs.“
Die Debatte ist aber unausweichlich, weil die Zerstörung der menschlichen Zivilisation zwar zufällig gerade keine Straftat, aber trotzdem ein Verbrechen ist.
Ich glaube, die Diskussion über einen „Fundamentalismus“ schlechthin, ist heute so nicht mehr ganz haltbar, wenn man einerseits die moderne Gehirn- und Verhaltensforschung, und andererseits unsere eigene Entwicklung im Verlauf der Aufklärung mit in Betracht zieht. Doch mit dem zunehmenden Erkenntnissen um Ursache und Wirkung scheint eine Beurteilung derartiger Schandtaten aus unserer aufgeklärten Sichtweise um so komplexer zu werden. Diese Taten sind zweifellos grausam. Die Öffentlichkeit bedient sich dabei aber unserer gewohnt alten einfachen Denkmuster, und scheint unser Feindbild nach altem Schema schnell zu befriedigen?
Gewalt erzeugt immer Gegengewalt. Das hat unser Kulturkreis selbst aus den letzten 500 Jahren erst lernen müssen. Zu dieser „anderen Welt“ Islam wäre vielleicht gerade mal die Frage erlaubt: Braucht der Islam eine Reformation?
In seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ schrieb Luther: „Es gibt zwei Reiche auf dieser Welt, die sich gegenseitig aufs heftigste bekämpfen… “ (Buch:Luther, F.Schorlemmer S.174) Heute weiß man, Radikalität entsteht in der Kindheit. Und 40 % der jugendlichen Zuwanderer sind durch Krieg, Gewalt und Folter traumatisiert, deren Ursachen und Schuld mittlerweile ebenso in einem Zusammenhang betrachtet werden müssen.
Mit „zunächst“ haben Sie recht. Ich melde jedoch Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters an. Ein Gericht könnte das feststellen, und dann wäre es kein Verbrechen.
Ein Straftat bleibt auch dann ein Verbrechen, wenn der Täter – aus welchen Gründen auch immer – für schuldunfähig gehalten wird oder ihm die Tat nicht nachgewiesen werden kann (man denke nur an die vielen Nazi-Täter, die nicht verurteilt werden konnten).
Diese Definitionsfrage ist etwas akademisch. Die BILD will wissen, dass die beiden Opfer als schwules Paar erkennbar waren. Dann wäre Schwulenfeindlichkeit ein klar erkennbares Motiv für die Straftat.
Und damit sind wir dann wieder beim Thema.
Bei Fundamentalisten und ihren Taten sollte man zunächst gewissermaßen entschuldigend nicht eine psychiatrische Erkrankung oder eine psychische Störung unterstellen, so wie man ja auch bei anderen Straftaten davon zunächst einmal nicht ausgeht. Damit macht man es dem Täter und den dahinter stehenden Ideologen zu leicht. Sollte sich ein solcher Zustand später herausstellen, gibt es dann in einem Strafverfahren entsprechende angemessene Handlungsmöglichkeiten.
….da haben Sie (leider) Recht… Fundalismus ist wohl kaum eine Folge einer sog. psychischen Störung. Ich halte fundamentalistische Haltungen oder Überzeugungen eher für eine grundsatzgeleitete politisch absichtsvolle Handlungsleitung, die zerstörerisches Potential hat und zunehmend entwickelt.
Grüsse
Th. Weiß
ich muss korrigieren. ich meine natürlich: Fundamentalismus!
Bei dem Angriff des gerichtsbekannten Gefährders in Dresden mit einem schwer verletzten und einem toten Touristen sollte man eine psychiatrische Begutachtung des Täters in Betracht ziehen. Der ermordete französische Lehrer war demgegenüber ein bekanntes Hassobjekt.
Das jede*r, der/die sich dem Fundamentalismus verschreibt, auch eine psychische Störung aufweist, liegt in der Natur der Sache. Aber das mindert nicht die Schwere des Verbrechens. Christian Wolff
Wenn ein Syrer sich bereits fünf Jahre in Deutschland aufhäl, zwar islamistisch-radikal einschlägig bekannt ist, und plötzlich zwei ihm völlig unbekannte Deutsche auf offener Straße völlig grundlos (soweit bekannt) mit einem Messer attackiert, so liegt der Verdacht nahe, dass er psychisch krank und damit strafrechtlich nicht verantwortlich ist. Es handelte sich somit nicht um ein Verbrechen.
1. Zunächst ist jeder Mensch für das verantwortlich, was er tut. Auch das entspricht der Menschenwürde.
2. In Dresden wurde ein Mann ermordet (er erlag seinen Verletzungen) und einer schwer verletzt. Was ist das anderes als eine schwere Straftat, ein Verbrechen?