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Verwerflich?

Im Sommer 1982 erhielt ich eine Postkarte von meiner Patentante. Sie machte gerade Urlaub auf der Insel Spiekeroog. Sinngemäß schrieb sie mir: Stell Dir vor: Ich war am Sonntag in der Dorfkirche im Gottesdienst – und in diesem ganz normalen Sonntagsgottesdienst wurden Johannes Rau und seine Frau Christina kirchlich getraut. Johannes Rau (1931-2006) war damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, seine Frau Christina ist eine Enkelin des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899-1976). Daran musste ich denken, als ich die Berichte über und diversen Reaktionen auf die Hochzeit, insbesondere die kirchliche Trauung, von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und der Journalistin Franca Lehfeldt las. 1982 haben Johannes und Christina Rau vorgemacht, wie ein prominentes „Polit-Paar“ heiraten und Hochzeit feiern kann, ohne dass ein an sich privates Ereignis tagelange Debatten auslöst. Allein daran kann man und frau erkennen, wie verquer das dreitägige, öffentliche Spektakel war, was das Hochzeitspaar Lindner/Lehfeldt aus dem Höhepunkt ihres Zusammenlebens gemacht hat. Offensichtlich hat es im Umfeld des Bundesfinanzministers und der Journalistin niemanden gegeben, der oder die sie vor diesem völlig unangemessenen, protzig-peinlichen Auflauf auf der Insel Sylt bewahrt hat. Denn die Signalwirkung in einer Zeit von horrend wachsenden finanziellen Belastungen durch Inflation, Energiekosten und eines in jeder Hinsicht teuren Krieges ist eindeutig: Was wir Regierungspolitiker jetzt von der Bevölkerung an Einschränkungen erwarten, gilt für uns, die wir das beschließen, im Zweifelsfalle nicht. Boris Johnson lässt grüßen. Dabei erwartet niemand, dass Lindner seine Hochzeit im stillen Kämmerlein mit Brot und Käs feiert. Johannes und Christina Rau haben sich das JA-Wort in einem öffentlichen Gottesdienst gegeben und sicher auch kräftig gefeiert. An diesem Gottesdienst aber konnte jede und jeder teilnehmen. Von einem Politiker wie Christian Lindner muss man und frau erwarten können, dass er um die öffentliche Wirkung seines Auftretens weiß. Mit Neid und Missgunst hat die Kritik an der Hochzeit nichts zu tun. Neid kennt nur eine Richtung: von Oben nach Unten! Die Leute, die sich über die Maßlosigkeit aufregen, missgönnen Herrn Lindner nicht seinen Reichtum und seine Möglichkeiten. Aber sie reagieren sehr sensibel auf den Umgang mit demselben und den Einsatz des Reichtums. Das ist das, was Viele der Gutsituierten immer unterschätzen.

Bleibt die Merkwürdigkeit der kirchlichen Trauung. Nach allem, was bekannt ist, hat Lindner selbst bei der zuständigen Pfarrerin der St. Severin Kirche in Keitum angerufen und um die kirchliche Trauung gebeten. Das ist sein gutes Recht. Wir wissen auch, dass Lindner und Lehfeldt wohl getaufte Christen, aber keine Kirchenmitglieder sind. Natürlich liegt es im Ermessen eines/einer jeden Pfarrer*in zu entscheiden, ob er/sie eine kirchliche Trauung durchführt oder nicht. Darum ist die Entscheidung der Sylter Pfarrerin zu respektieren. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen:

  • Auch diejenigen, die aus der Kirche austreten, bleiben getaufte Christen. Denn die Taufe verliert mit dem Kirchenaustritt nicht ihre Gültigkeit.
  • Es gibt so viele unterschiedliche Gründe, warum ein Mensch die Kirche verlässt, dass es durchaus möglich ist, von der Regel abzuweichen, dass im Fall der Trauung mindestens ein Teil der Kirche angehören muss.
  • Die Ehe wird nach evangelischem Verständnis nicht in der Kirche, sondern auf dem Standesamt geschlossen. Die kirchliche Trauung ist ein Gottesdienst anlässlich der Eheschließung, in dem für das Brautpaar um den Segen Gottes gebeten wird.

Aus der Erfahrung von Hunderten von Trauungen weiß ich, dass ich mich manchmal (völlig unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit) gefragt habe: Dient bei dieser Trauung die Kirche nur als Kulisse für ein rauschendes Fest, und werde ich lediglich als Zeremonienmeister für eine „Traumhochzeit“ a la Linda de Mol (das war in den 90er Jahren eine RTL-Show) gebraucht? Geholfen hat mir, dass ich den Brautpaaren eigentlich immer vermitteln konnte: Wir feiern einen Gottesdienst und bereiten diesen gemeinsam vor. Für diesen Gottesdienst gibt es eine Liturgie. Wenn also besondere Wünsche geäußert wurden: nach Einspielen von bestimmter Musik/Songs bzw. nach Texten oder Reden anderer, habe ich freundlich aber bestimmt darauf hingewiesen: Das können Sie alles gerne bei der anschließenden Feier einbauen, aber im Gottesdienst wird die Musik gespielt, die für diesen Rahmen im Verlauf der Jahrhunderte geschaffen wurde, wir singen die Lieder, die zu einem Gottesdienst passen, und lesen und bedenken die Texte, die wir in der Bibel vorfinden. Das hat immer funktioniert – gerade auch im sehr säkularen Leipzig. Da gehören von den Teilnehmer*innen an einer kirchlichen Trauung die meisten nicht der Kirche an. Für sie aber ist gerade der gottesdienstliche Rahmen einer Trauung besonders eindrücklich. Unter diesen Bedingungen kann ich mir auch die kirchliche Trauung eines Paares wie Lindner/Lehfeldt vorstellen. Peter Sloterdijk hätte gerne die Lesung (z.B. 1. Korinther 13) übernehmen können; Bundeskanzler Olaf Scholz und Friedrich Merz hätten sich gerne am Fürbittgebet beteiligen können. Und: Auch der Penner, der die hoffentlich täglich geöffnete St. Severin Kirche immer wieder aufsucht, hätte an dem Gottesdienst teilnehmen können. Denn darauf muss man bestehen: Auch die kirchliche Trauung eines Promi-Paares ist ein öffentlicher Gottesdienst – selbst wenn bestimmte Sicherheitsmaßnahmen unvermeidlich sind. Vielleicht hätte die Pfarrerin in den Vorgesprächen das Paar auch vor Peinlichkeiten bewahren können. So hätte gerade eine solche kirchliche Trauung ein Signal dafür sein können, was Kirche ist: ein offenes Haus, aber eben ein Gotteshaus.

Dass das aber überhaupt nicht in der Öffentlichkeit ankam, zeigt, dass wir als Kirche wieder einmal die falschen Signale gesetzt haben. Wieder einmal stehen wir als staatstreue Institution da, die den Mächtigen (und einem Bundesfinanzminister aus wohlverstandenem Eigeninteresse erst recht!) zu Füßen liegt; als Institution, die mit ihrem Ureigensten, dem Gottesdienst, offensichtlich nicht mehr selbstbewusst umgehen kann. Wenn etwas an dem Vorgang verwerflich ist, dann ist es vor allem das derzeitige Unvermögen der Kirche, bei ihrer Sache zu bleiben.

9 Antworten

  1. Die „Staatstreue der Kirche“ zeigt sich leider besonders dann, wenn prominente Kirchenvertreter sich gegen demokratische Anti-Regierungs-Proteste aussprechen – obwohl sie noch weniger Jahre vorher FÜR Demokratie waren („Aufbruch 2019“). Es wäre sehr gut, wenn Sie Ihre Rolle in den Jahren 2020 und 2021 aufarbeiten würden: Im November 2020 haben Sie zur Verhinderung einer demokratischen Demonstration auf dem Augustusplatz aufgerufen, und noch im Dezember 2021 haben Sie einen Aufruf unterzeichnet, der friedlichen Demonstranten in antidemokarischer Weise „Ihr seid nicht das Volk“ entgegenwarf. Die Kritik der Querdenker und anderer an der brutalen Lockdown- und Diskriminierungs-Politik war nicht nur völlig rechtmäßig, sondern sie haben auch Recht gehabt – das muss man aus wissenschaftlicher Sicht heute so feststellen. Drosten, Brinkmann und andere Lockdown-Befürworter sind verstummt, und Streeck durfte in der ZEIT zugeben, dass die Impfstoffe eben längst nicht so erfolgreich waren, wie gehofft. Wird das uns allen eine Lehre sein?

  2. Ok. Lieber alter Freund. Auch im Geiste.
    Ich befinde mich gerade in oder auf der Wallhala. Und überlege, was wohl die hier „verewigten“ Nobelmenschen zu dieser Hochzeit sagen würden.
    Eberhard

  3. Der Beitrag spricht mir aus dem Herzen. Die Trauung in Sylt war in dieser Form ein Kniefall vor den Mächtigen. Für die Kirche wurde die Chance einer Verkündigung ihrer Botschaft vertan.
    Dane an Herrn SINOFZIK für seinen Mut sich während der Predigt einzubringen. Ich bin dazu wohl zu feige oder zu harmoniebedürftig. Immerhin schaffe ich es jetzt mich bei der lieblosen und mich störenden Kollekte während des Gottesdienst zu verweigern und mich auf den Ausgang zu beschränken. Zuvor habe ich meine Haltung zuvor gegenüber dem Kreiskirchenvorstand erläutert, ebenso den Pfarrern vor Ort.

  4. Ein interessanter Beitrag! Hier schreibt uns Wolff, daß zwar (richtig) nichts auszusetzen sei an einer privaten Entscheidung, daß aber andererseits der Entscheidende schon seine Position, sein Amt, die Wirkung seines Tuns auf andere eben unter diesen Gesichtspunkten besser berücksichtigt hätte. Schreibt man ihm dies selbst und schlägt eine Trennung von Pfarrersamt und einseitiger, konkreter politischer Meinungsmache vor, so findet das empörten Protest mit genau dem Argument, das er Lindner verweigert: Als Bürger dürfe er das doch, aber eben als Minister nicht. Gibt es wirklich einen großen Unterschied zwischen „peinlicher Protzerei“ eines Amtsträgers im Angebersinne und konkreter politischer Beeinflussung und einseitiger politischer Beeinflussung eines Amtsträgers? Ich glaube eher nicht.
    Ich stimme der Kritik an Lindner zu und unterschreibe Sinofziks Postulat „klare Abgrenzung“, die aber dann in allen Fällen gilt. Aber wenn man natürlich bei jeder Kritik an sich selbst, bei jedem zwar durchgehend argumentativen, aber eben nicht der eigenen Meinung entsprechenden Beitrag nur mit schnippischer Irrelevanz antwortet (Wolff, 3. Juli, 16:29h), dann wird der Blog unseriös.
    Ein anderes macht dieser Beitrag ebenso deutlich: Die evangelische Kirche Deutschlands ist über die Jahre immer mehr in die Beliebigkeit abgerutscht, hat kein klares religiöses Profil mehr, deckt alles zu unter dem Mantel einer diffusen Allgemeinliebe – und wirkt dadurch zunehmend unglaubwürdig. Wen wunderts, daß ihr die Menschen weglaufen – im Steuersinne, nicht im Glauben.
    Eine gute Woche wünsche ich.
    Andreas Schwerdtfeger

    1. „Gibt es wirklich einen großen Unterschied zwischen „peinlicher Protzerei“ eines Amtsträgers im Angebersinne und konkreter politischer Beeinflussung und einseitiger politischer Beeinflussung eines Amtsträgers? Ich glaube eher nicht.“
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      Sie überschätzen die politische Wirksamkeit des „Amtsrägers“ Wolff gewaltig. Ich habe jedenfalls noch nicht eine mehrere Tage andauernde Berichterstattung über diesen Blog weder in BILD noch in seriösen Zeitungen gelesen.

      1. Tausende evangelische Christen verlassen jährlich ihre Kirche, u. a. auch wegen „politischer Rausschmeisser“ im Sinne unseres Amtsträgers. Überschätzen?
        Andreas Schwerdtfeger

  5. Dem ist nichts hinzuzufügen!!!
    Solche Ereignisse verdeutlichen aber, wie doch die unselige protestantische Verbindung von „Thron und Altar“ nach über 100 Jahren scheinbar im Unterbewußtsein mancher noch immer geistert!
    Mit Blick auf Kirchenaustritt: es ist genau 50 Jahre her, dass ich als nebenamtlicher Organist einer rheinischen Kirchengemeinde den Pfarrer während der Predigt unterbrochen und gefragt hatte, was er denn mit seinen gesteltzten theologischen Formulierungen aussagen wolle. Da säße eine Gemeinde und eine Gruppe von Konfirmanden*innen, die nicht ca 10 – 12 Semester Theologie studiert hätten. Die gegebene Antwort spare ich mir hier. Mir wurde der Vertrag gekündigt, was mir als Theologiestudent doppelt wehtat: geistlich und finanziell. Es kam zu einem Konfliktgespräch im LKA Düsseldorf mit meinem Superintendenten. Ein Wort gab das andere und jugendlich-impulsiv entgegnete ich dem Sup an einer Stelle: „Wenn ich mit meinem Theologiestudium etwas anfangen könnte ohne in der Kirche zu sein, dann wäre ich aus diesem ‚Laden‘ schon kängst ausgetreten“. Diese Aussage wurde mir bestimmt ein Jahrzehnt bei mancher Gelegenheit süffisant auf’s Brot geschmiert. Ich bin nicht aus der Kirche ausgetreten, habe aber nicht lange für sie gearbeitet. War viele Jahre bei der Diakonie und dann freiberuflich tätig. Stehe allerdings relativ oft und gerne vertretungsweise irgendwo auf der Kanzel, natürich auch auf der meiner Wohnortgemeinde. Mein „Spruch“ von vor 50 Jahren kommt heute als Mitglied eines Bevollmächtigtenausschusses immer wieder in den Sinn. Und oft trifft er auch heute noch zu. Aber ich bleibe ;-).Doch an solchen unklaren Abgrenzungen à la Sylt, ja auch an einem gewissen kirchlichen Devotismus gegenüber staatlichen Instanzen und Personen „leide“ ich schon. Ich gebe gern dem „Kaiser, was des Kaisers“ ist. Dazu gehört aber eben für mich auch eine gute Portion Kritik in Gottes Namen. Und klare Abgrenzung. Das glaube ich, Gott schuldig zu sein!

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