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Der 20. Juli 1944 – mehr als ein Vermächtnis

Am Mittwoch, 20. Juli 2022,  jährt er sich zum 78. Mal: der Tag, an dem 1944 das Attentat auf den Diktator Adolf Hitler scheiterte. Die Widerstandsgruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944)*, der das Attentat ausführte, und Carl Goerdeler (1884-1945), bis 1936 Oberbürgermeister Leipzigs, wollte durch die Beseitigung Hitlers das nationalsozialistische Terrorregime überwinden und den 2. Weltkrieg beenden. Doch innerhalb der Widerstandsgruppen gab es erhebliche Zweifel, ob ein Attentat auf Hitler ausreichen würde, einen grundlegenden politischen Umsturz in Gang zu setzen. Zum einen waren sich viele sehr unsicher darüber, wie die tatsächliche Stimmung in der Bevölkerung war und wie die Hitler-treuen Abteilungen der SS, SA und Gestapo auf einen Umsturzversuch reagieren werden. Könnte es zu einem Bürgerkrieg kommen? Zum andern gingen die Vorstellungen über das zukünftige politische System Deutschlands weit auseinander. Carl Goerdeler favorisierte einen autokratisch geführten deutschen Nationalstaat, während die Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ um Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945) den Nationalismus überwinden und eine Gesellschaft, die sich

Signet des Kreisauer Kreises: das Kreuz steht für ein christliches Menschenverständnis und die Werte des Christentums, der rote Ring symbolisiert den Kampf der Arbeiterbewegung für politische und soziale Emanzipation und die Solidarität aller Menschen.**

von unten aufbaut, gestalten wollten. Auch versuchten die Kreisauer, zu denen Pater Alfred Delp (1907-1945) und Sozialdemokraten wie Carlo Mierendorff (1897-1943) und Adolf Reichwein (1898-1944) gehörten, christliche und liberale Kräfte sowie die sozialistische und kommunistische Bewegung im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und für einen Neuaufbau Deutschlands zu vereinen. Das einigende Band sah man in den Grundwerten des Christentums und in der Menschenwürde. So beginnen die „Grundsätze für die Neuordnung“ vom 9. August 1943 mit dem programmatischen Satz: „Die Regierung des Deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft.“ ***

Wenn wir von heute auf die Ereignisse vor bald 80 Jahren blicken, dann fällt auf, wie viele sehr unterschiedlich denkende Menschen sich im Widerstand gegen Hitler und das Nazi-Regime auf die christlichen Grundwerte beriefen – und das, obwohl die Kirchen in dieser Zeit immer noch sehr wankelmütig agierten. Als ich vor einigen Jahren eine Zeitzeugin fragte, was denn am 20./21. Juli 1944 nach dem gescheiterten Attentat in der Thomaskirche geschah, antwortete sie: Da wurde für den Führer gebetet und Gott gedankt, dass er das Attentat überlebt hat. Dennoch fanden viele Menschen angesichts der Zerstörung aller moralischen Werte durch die Nazis und im Widerstand gegen Hitler gerade in den Grundwerten des christlichen Glaubens und in einem getrösteten Gottvertrauen Halt, Orientierung und Ermutigung zu entschlossenem Handeln. Das ist mehr als ein Vermächtnis! Es ist der deutliche Hinweis darauf, wie angewiesen wir Menschen in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche auf Anknüpfungspunkte sind, die Fundament für eine Neuausrichtung gesellschaftpolitischer Orientierung sein können.

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* Bis auf Carlo Mierendorff wurden alle in diesem Artikel genannten Widerstandskämpfer von den Nazis ermordet. Mierendorff kam bei dem Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943 ums Leben.

** Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke. 1907-1945. Eine Biographie, München 2007, S. 265 (eine sehr lesenswertes Buch!)

*** aaO, S. 266

6 Antworten

  1. Sie sagen es, Herr Schwerdtfeger:
    „Nur Sachlichkeit im Ziel, überzeugte Argumentation und Klarheit in der Sprache (auch wenn sie von einigen als unhöflich mißverstanden wird) überwinden individuelle Rechthaberei, Verschleppung von Entscheidungen und schwammige Zieldefinitionen.“

    Und zu Herrn Heydebrink:
    Ja, es gab Gegner der NS-Diktatur, besonders lesenswert ist in diesem Zusammenhang:
    „Non ego“ (Ich nicht) / Joachim Fest; Rowohlt, 2006
    Und zu Dir, lieber Christian:
    DANKE! In diesen gegenwärtigen Zeiten gilt es, höchst aufmerksam zu sein, sich auseinanderzusetzen und Klarheit zu priorisieren; Herr Schwerdtfeger sagt es.
    Herzliche Grüße via Leipzig – Jo.Flade

  2. Es ist gut, lieber Herr Wolff, daß Sie diesen Beitrag zum heutigen 20. Juli geschrieben haben – und wie Sie das getan haben, verdient Respekt. Ich stimme Plätzsch zu, daß ein Erfolg viele menschliche und materielle Opfer im letzten Kriegsjahr verhindert hätte – selbst wenn, wie man annehmen muß, die alliierte Forderung des „unconditional surrender“ gleichzeitig und gegenüber ALLEN Deutschland bekämpfenden Mächten eine durchaus erhebliche Verzögerung der deutschen Kapitulation und möglicherweise auch bürgerkriegsähnliche Zuständen in einigen Gegenden Deutschlands, und damit auch viele weitere Opfer, bedeutet hätte. Und da die Situation auch bei einer deutschen Kriegsbeendigung bereits 1944 wohl dennoch – im Gegensatz zu 1918 – zu einer vollständigen Besetzung Deutschlands und einem moralischen und politischen Neuaufbau von unten durch die Alliierten geführt hätte, beurteile auch ich die Gefahr einer nochmaligen Dolchstoßlegende als eher gering.
    Was wichtiger ist an Ihrem Beitrag ist die Verdeutlichung, daß Menschen aus völlig unterschiedlichen Hintergründen und mit völlig unterschiedlichen Entwürfen für ein künftiges Deutschland sich trotzdem zu einer so gefährlichen, aber eben auch großen Tat unter Zurückstellung ihrer teilweise doch erheblichen Unterschiede zusammenfinden und ihre eigenen „kleinen“ Entwürfe dem gemeinsamen Ziel unterordnen konnten. In seinem neuen Buch „Staatskunst / Leadership“ – einer brillanten Verbindung von Geschichte und Zukunftslehren – merkt Kissinger an: „adverse times – ever the teacher of realities“ (schwierige Zeiten – schon immer der beste Lehrer im Hinblick auf die Realität). Dies war die Erkenntnis des Widerstandes des 20. Juli (und nur sie konnte auch den Konflikt zwischen Eid und Gewissen auflösen) und sie führte ihn zusammen. Die heutige Lage ist – bezogen auf individuelle Entscheidungen – nicht ganz so dramatisch. Aber sie erfordert ebenfalls ein stärkeres Zusammenstehen. Und deshalb gilt auch ein anderer Satz aus diesem Buch Kissingers, der hier im Blog mehr Berücksichtigung finden sollte. „ Anger has replaced dialogue as a way to carry out disputes, and disagreement has become a clash of cultures“. Nur Sachlichkeit im Ziel, überzeugte Argumentation und Klarheit in der Sprache (auch wenn sie von einigen als unhöflich mißverstanden wird) überwinden individuelle Rechthaberei, Verschleppung von Entscheidungen und schwammige Zieldefinitionen.
    Andreas Schwerdtfeger

  3. Danke für diese Würdigung des 20. Juli 1944, lieber Herr Wolff. Mein Vater, der einigen Attentätern sehr nahe stand, hat mir einmal gesagt, es war gut, dass das Attentat stattgefunden hat, um der Welt zu zeigen, dass nicht alle Deutschen hinter dem verbrecherischen Nazi-Regime standen. Aber vielleicht war es auch gut, dass es scheiterte, so dass eine neue „Dolchstoßlegende“ vermieden und eine vollständige Überwindung des Regimes möglich wurde.

    1. „Aber vielleicht war es auch gut, dass es scheiterte…“
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      Nein! Schließlich sind zwischen dem 20. Jui 1944 und dem 8. Mai 1945 mehr Menschen umgekommen als von Kriegsbeginn an bis zum Attentat. Richtig ist, dass nur ein kleiner Teil der deutschen Elite zum Umsturz bereit war. So krankte die Organisation schon daran, dass Stauffenberg als Kopf der Verschwörer erst wieder in Berlin sein musste, damit die Aktion richtig anlief.

  4. Ich habe mir im Jahr 2019 die Dresdner Ausstellung angesehen. Rätselhaft bleibt, warum Stauffenberg die zweite Bombe, die er wegen Zeitmangel nicht scharfmachen konnte, nicht in seine Aktentasche tat. Sie wäre bei der Zündung der anderen Bombe mit Sicherheit explodiert. Dann hätte auch der massive Tisch Hitler nicht schützen können.
    https://www.welt.de/kultur/article197218227/Ein-Besuch-bei-der-Stauffenberg-Ausstellung-im-Dresdner-Militaerhistorischen-Museum.html

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