Schon Anfang November prangte in riesigen goldenen Lettern auf der gläsernen Eingangstür des Rossmann-Marktes in der Leipziger Hainstraße: Frohe Festtage. Da erscheint es schon fast unzeitgemäß, dass die Lichter am Weihnachtsbaum auf dem Leipziger Marktplatz „erst“ am vergangenen Dienstag angeschaltet und der Weihnachtsmarkt mit christlichen Gesängen des Thomanerchors eröffnet wurden. Wie lange wird die säkulare Stadtgesellschaft noch Wert auf christliche Traditionen legen? Wie lange möchte sie noch an die Grundaussagen des Glaubens und die Grundstimmung des Advents erinnert werden: Hoffnung auf Anerkennung, Würde, Befreiung, auf Liebe, Barmherzigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben – und an die erste Zeile des ältesten christlichen Adventsliedes: „Nun komm, der Heiden Heiland“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 4)? Martin Luther hat dieses Lied 1524 nach dem Hymnus „Veni redemptor gentium“ des Ambrosius von Mailand (Ende des 4. Jahrhunderts) geschaffen. *
Diese Bitte ist erstaunlich: Der Heiden Heiland möge kommen. Nicht der Heiland der Christen, nicht der Frommen Heiland, nicht der Gläubigen Heiland, nicht der Deutschen Heiland. Nein, der Heiden Heiland, der Heiland aller Menschen, der Retter der Welt; der, mit dem keiner rechnet, aber auf dessen Wirken viele hoffen; der, der keiner etablierten Religion, keiner Volksgruppe, keinem Geschlecht, keiner Klasse zuzuordnen ist, sondern der, über den sich alle Welt nur wundern kann – der möge kommen.
Ist das eine abwegige Bitte im Advent? Hätten wir es lieber etwas heimatlicher, geschlossener, volksnäher: Stille Nacht, heilige Nacht …? Das stört niemanden und lässt auch den, der montäglich „Absaufen“ schreit, rührselig werden. Oder setzen wir unsere Hoffnung doch lieber auf irdische Mächte und tragen diese auf dem Plakat durchs abendliche Dresden: „Putin, rette uns“; oder auf einen Donald Trump, der von seinem bisherigen Energieminister Rick Perry zum von Gott persönlich auserwählten Anführer der Vereinigten Staaten erkoren wurde und dessen Schweinereien damit mit einer göttlichen Aura versehen werden. Erst wenn wir spüren, auf welchen Schwachsinn allzu viele Menschen ihre Hoffnung setzen, wird deutlich: Der alte Adventsgesang richtet unsere Hoffnung auf das, was das Jenseits mit dem Diesseits, den Himmel mit der Erde verbindet: die Menschwerdung Gottes – und nicht auf die Gottwerdung des Menschen; diese lässt die Erde zur Hölle werden. Doch nicht, was wir Menschen vermögen bzw. woran wir scheitern, was wir aus uns selbst machen und dafür andere bluten lassen, steht im Mittelpunkt der Weihnacht. Wir feiern, dass Gott sich mit uns Menschen verbindet und verbündet, obwohl wir allzu oft meinen, das sei überflüssig. Bei dieser Menschwerdung handelt es sich aber nicht um eine Deutsch-, Amerikanisch- oder Polnisch-Werdung Jesu. Das hätten wir gerne: Gott nur für uns, zur Absicherung unserer Interessen. Doch in Bethlehem wird kein nationaler Gott, kein Volkstribun, kein Religionsstifter geboren, sondern ein Mensch. Um diesen versammeln sich die ganze Welt und alle Kreaturen.
Das ist gar nicht einfach zu vermitteln in einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Menschen nur noch im eigenen Ich spiegeln möchten (und können), sich an grenzenloser Selbstüberschätzung verheben oder an Bedeutungslosigkeit verzweifeln. Dabei könnten wir gerade in der Adventszeit erfahren, dass Gott uns mit seiner Menschwerdung, mit Jesus von Nazareth, Stärke, Widerstandsfähigkeit, Selbstbewusstsein schenkt: jedem einzelnen von uns, völlig unabhängig vom sonstigen gesellschaftlichen Ranking – so wie es Paul Gerhardt (1607-1676) in dem Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ unübertroffen zum Ausdruck gebracht hat: „Ich lag in schweren Banden, / du kommst und machst mich los; / ich stand in Spott und Schanden, / du kommst und machst mich groß / und hebst mich hoch zu Ehren / und schenkst mir großes Gut, / das sich nicht lässt verzehren, / wie irdisch Reichtum tut.“ (Evangelisches Gesangbuch 11,4) Wie kann man überzeugender, schöner beschreiben, was Gottvertrauen und ein gläubiges Selbstbewusstsein ermöglichen. Diese Zeilen zeugen vom letzten, unzerstörbaren Rest des Glaubens, der auch in der säkularen Gesellschaft Gültigkeit behält und darum nicht in Vergessenheit geraten sollte. Denn das „große Gut“ hat nichts zu tun mit Verbiegung von Gewissen, mit gewalttätiger Hirnwäsche, mit religiöser Spinnerei. Die Grundbotschaft des Advents ist sehr viel konkreter als „Frohes Fest“. Sie lautet: Gott demütigt nicht; er richtet auf. Darum lohnt sich, auch auf den Weihnachtsmärkten an die alte Bitte zu erinnern: Nun komm, der Heiden Heiland.
* Ergänzend verweise ich auf die Predigt vom 01. Dezember 2019 (1. Advent) in der Bach-Kirche Arnstadt: Predigt über Matthäus 21,1-11 am 1. Advent 2019 "Der Heiden Heiland"
9 Antworten
Lieber Herr Käfer – gern gebe ich zu, dass es auch mir ab und an emotional so ergeht, wie Sie es zutreffend beschreiben, vor allem dann, erlebe ich wie viele andere Dresdner, dass staatlich verordnete „Weihnachts-Zaubereien“ z.B. bereits seit dem 14. November (also in der Woche noch VOR dem Ewigkeitssonntag !!!) im Schlosspark Pillnitz bis in den Januar 2020 zelebriert werden; die Geschmacklosigkeit will kein Ende nehmen und parallel dazu bemühen sich kommunale Institutionen redlich darum, dass Dresden 2025 Europäische Kulturhauptstadt werden soll. Und dieser dümmliche, auch unnötige Energie verschleuternde „Budenzauber“ in einem Kulturdenkmal ersten Ranges wird als zweiter Aufguss durch die Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten geldeinnehmend dem auf simple Weise manipulierbaren Publikum als einzigartige Event-Kultur angepriesen. Der Finanzminister Sachsens hat nichts dagegen und der Pillnitzer Schlosspark kann für weitere zwei Monate nur mit nicht geringem Eintritt betreten werden, mal ganz abgesehen von der Kulturlosigkeit, was das Thema: Advent, Christgeburt anbelangt – Wolff beschreibt es haarscharf!
Aber ganz so schwarz wie Sie sehe ich es insgesamt doch nicht, lediglich partielle Unsäglichkeiten (klar, auch kircheninstitutioneller Art) treiben um, sollten uns aber nicht um den Verstand bringen!
Zum Erlangen des inneren Gleichgewichtes empfehle ich Ihnen nun sehr: hören Sie sich doch die Bachkantate „Nun kommt der Heiden Heiland“ (BWV 61) an. Und ich versichere Sie – danach geht es auch Ihnen viel, viel besser.
Mit Grüßern, auch an Chr. Wolff und Herrn Weiss, für einen hellen Advent – Ihr Jo.Flade
Ist Weihnachten nicht längst zu einer wochenlangen „Driving home for Christmas“ – Veranstaltung degeneriert? Spielt da überhaupt noch eine Rolle, ob der Kaufrausch 4, 6 oder 8 Wochen vor dem eigentlichen Fest beginnt? Wie lange noch, bis die „Black-Friday“ – Hysterie dem Heiligabend den Rang abläuft?
So sehr ich mich über Deinen sehr bedenkenswerten Beitrag freue, so pessimistisch bin ich doch, lieber Christian.
Wenn es nicht (mehr) gelingt, uns auch einmal Zeit zu nehmen für grundsätzliche philosophische, ethische und gesellschaftspolitische Fragen, wird der aktuell zu beobachtende Wahnsinn (Lügen bestimmen politisches Handeln, Erstarken von Faschismus und Antisemitismus, Gleichgültigkeit gegenüber Klimaproblemen/ Hunger- und Gesundheitskatastrophen bis hin zu deren Leugnung, zunehmende Kriegsgefahr, auch unter Einsatz von Atomwaffen….) eher zu- denn abnehmen.
Kompetent und gefordert, sinnstiftend zu wirken und diese Debatten zu führen, sehe ich in der Tat am ehesten die Kirche und nicht so sehr Parteien, Gewerkschaften oder NGO’s. Tatsächlich nehme ich aber wahr, dass sich Kirche lieber damit beschäftigt, wieviel Konservatismus sie braucht, wieviel Gender-Gerechtigkeit opportun ist, oder wer wen warum wegmobbt und dann auch noch nachtritt….
Wie bereits gesagt, ich bin da eher pessimistisch, oft auch wütend.
Eine moderne (und politische) Kirche könnte hier nicht nur ihrem Mitgliederschwund entgegenwirken.
Lieber Christian Wolff,
haben Sie Dank für die Hoffnungsgeschichte, die Sie in der Adventsbotschaft für alle Welt so eindrücklich zur Sprache bringen. Eine Frage hat sich mir allerdings gestellt. Und ich bitte Sie, diese nicht als professorale Beckmesserei zu verstehen, sondern als einen Punkt, der das Zentrum meines theologischen Denkens ausmacht:
Ist es wirklich so, dass der „Heiden Heiland“ keiner Religion, keinem Volk und keinem Geschlecht zugeordnet werden kann? Für einen Christenmenschen hat der Retter und Heiland der Welt ein konkretes Gesicht und einen konkreten Namen: Jesus von Nazareth. Und die Menschwerdung Gottes vollzieht sich ja gerade nicht in einem luftleeren Raum, sondern mitten in einer blutigen Geschichte. Gott ist nach den Schriften Mensch geworden in einem jüdischen Kind aus dem Volk Israel und dem Geschlecht Davids. Die Christologie bleibt ohne Israeltheologie weltlos und abstrakt. Gerade das sollte in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus nicht verschwiegen werden. Der Heiden Heiland, ein jüdisches Kind, ermordet am Kreuz durch römische Heiden. Er, ausgerechnet er stößt den Heiden, also uns, die Tür zum Heil des Gottes aus Jakob auf. Diese Provokation sind wir den alten und neuen Feinden des jüdischen Volkes schuldig.
Ihnen eine gesegnete Adventszeit,
Ihr
Rüdiger Lux
Lieber Rüdiger Lux, vielen Dank für Ihren kritischen Einwand. Heute schrieb mir ein befreundeter Pfarrer zu dem Blog-Beitrag: „Ich werde jedoch das Gefühl nicht los, dass der Ursprung des Hymnus antijudaistisch war und in Jesus den Messias der gojim pries, um Israel auszuschließen bzw. zu beerben, wenn nicht sogar zu enterben.“ Im Kern beinhaltet das denselben Einwand, den Sie erheben. Für mich ist wichtig: Mit seiner universalen Perspektive des Glaubens knüpft Jesus von Nazareth, der Jude, an das Ur-Evangelium, die Urgeschichte (1. Mose 1-11) an und zeigt damit auf: Der Glaube Israels ist auf den Gott ausgerichtet, der Himmel und Erde geschaffen und der sich in besonderer Weise Israel zugewandt hat. Dieser Gott ist in Jesus Mensch geworden. Beste Grüße Ihr Christian Wolff
Mich hat vor Jahren der Bericht eines der vor den Nazis in die USA geflüchteten Ullstein-Brüder sehr überzeugt, sein Vater habe alle seine Kinder taufen lassen, weil er zu dem Schluss gekommen sei, der einzige wesentliche Unterschied zwischen Juden- und Christentum bestehe darin, dass wir Christen glauben, Gott selbst sei durch Jesus auf die Welt gekommen, während die Juden in ihm nur einen weiteren wichtigen Propheten sehen. Inhaltlich bestehe dagegen kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Religionen. Da m. W. auch der Islam Jesus als Propheten anerkennt, kann man m. E. heute die frohe Adventsbotschaft wirklich an alle Menschen gerichtet ansehen.
Auch ich danke Ihnen, lieber Herr Wolff, für diese wunderbare Adventsbotschaft. Noch treffender wäre sie gewesen, wenn sie die drei von Ihnen namentlich genannten Heiden Putin, Trump und Perry und die „Absaufenschreier“ trotz berechtigter Kritik auch zu „allen Menschen“ zählen würden, zu denen unser Heiland kommen möge.
Lieber Herr von Heydebreck, das Wort „alle“ ist eigentlich nicht missverständlich. Jeden Tag beten viele Menschen darum, die Genannten zu denen gehören, „zu denen unser Heiland kommen möge“. Die Frage ist aber: Machen sie die Tür auf, wenn geklopft wird? Verstehen sie Menschenwürde auf jeden einzelnen Menschen bezogen? Beste Grüße Christian Wolff
Lieber Herr Wolff, vielen Dank für die schönen Worte! Ich werde sie im Hinterkopf haben, wen wir heute BWV 62 proben und morgen aufführen! Herzlich Ihr Reinhard Mawick
Danke für diese Worte, ja Predigt. Sie sprechen mir aus dem Herzen und benennen die zeitlose Botschaft von Jesu Ankunft in der Welt, konkret in unsere vorfindliche: „[…] in einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Menschen […] an grenzenloser Selbstüberschätzung verheben oder an Bedeutungslosigkeit verzweifeln. Dabei könnten wir gerade in der Adventszeit erfahren, dass Gott uns mit seiner Menschwerdung, mit Jesus von Nazareth, Stärke, Widerstandsfähigkeit, Selbstbewusstsein schenkt.“ In der Tat – Gott äußert sich als ein Kind, als Friedefürst. Gibt es ein aussagekräftigeres Bild? Und ein aktuelleres? Der Wehrlose begegnet den Bewaffneten; Bilder, die an 1989 erinnern – J. Henkys (1981): „Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil Stiefel auf das Pflaster schlagen.“ (EG 20,3).
Ich freue mich schon jetzt auf Ihren nächsten Beitrag.