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Um den gemeinsamen Nenner ringen – Rede von Dr. Anselm Hartinger am 30.01.2024

Am 30. Januar 2024 hat der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, Dr. Anselm Hartinger, auf der Kundgebung „Leipzig für alle – für Demokratie und Menschenrechte, gegen völkischen Nationalismus“ auf dem Nikolaikirchhof eine bemerkenswerte Rede gehalten. Gerne veröffentliche ich diese als Gastbeitrag auf meinem Blog:

Liebe Freundinnen und Freunde der Demokratie,
ich stehe hier als Privatperson, aber vor allem als Historiker, und da gehört es dazu, auch mal den Schreibtisch zu verlassen und das Wort zu ergreifen, wenn es nötig ist. Und jetzt ist es nötig.
Wir stehen hier vor der Nikolaikirche, auf einem Platz, der uns seit 1989 daran erinnert, was möglich ist, wenn Menschen mutig, gewaltfrei und einig ihr Schicksal in die Hand nehmen und daran glauben, daß friedliche Veränderung machbar ist. An diesem wunderbaren Ort kann man gar nicht verzagen, und diese Zuversicht ist das, was wir alle am meisten brauchen!
Heute ist der 30. Januar – der Tag der Machtergreifung des Hitlerfaschismus vor 91 Jahren. An diesem Tag fing das an, was nach 12 Jahren mit der totalen Zerstörung Europas, mit einem Leipzig und Sachsen in Trümmern, mit unendlichem Leid und unfassbaren Verbrechen sowie dem völligen moralischen Bankrott einer ganzen Gesellschaft endete. Noch im April 1945 mußten amerikanische Soldaten und verblendete Hitlerjungen in dieser Stadt sterben, bevor dieser Spuk endete – und alles deshalb, weil die allermeisten Menschen 1933 eben nicht verstanden oder verstehen wollten, was hier bevorstand. Hitler und seine Mitstreiter kamen ja nicht mit jener brutalen Gewalt an die Macht, die sie danach entfesselten – sie kamen ganz legal, im Frack und mit Ernennungsurkunde ans Ruder, weil allzu viele glaubten, man könne die Feinde der Demokratie an der Macht dann schon irgendwie zähmen, einbinden oder gar entzaubern. Die Lehre vom Januar 1933 ist aber, daß das nicht funktioniert, daß man das verhindern muß, bevor es zu spät ist, daß sich Demokratinnen und Demokraten rechtzeitig verständigen müssen, wann man Stop sagen muß, bevor es nicht mehr geht. Nie wieder ist also potentiell immer, und vor allem jetzt.
Wir sprechen gerade mit Entsetzen über rechtsextremistische Pläne, Teile der Bevölkerung unseres Landes zu stigmatisieren, auszubürgern, zu vertreiben – auch da wissen wir ja nur allzu gut, wo das enden kann. Genauso wachsam müssen wir aber sein, wenn es um die Freiheit der Kunst, der Kultur, der Bildung und der Forschung geht. In den Hinterzimmern der identitären Rechten wird ganz gewiß längst auch über die Umerziehung der Köpfe und Kulturen gesprochen ¬– auch hier müssen wir uns gegen alte und neue Vereinnahmungen wehren. Es muß weiter möglich sein, dieses Land und diese Stadt zu lieben, und sich trotzdem oder gerade deshalb kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Meine polnischen Kolleginnen und Kollegen in unserer Partnerstadt Krakau haben in den letzten Jahren erlebt, wie sich eine europafeindliche und nationalistische Politik konkret auswirkt und welche Verarmung nicht nur des geistigen Lebens damit einhergeht. Auch im Leipzig des Jahres 1933 ging die Gleichschaltung der Theater, Konzerthäuser, Bibliotheken und Schulen fast reibungslos über die Bühne, und wir sehen auch heute schon in manchen Orten und Landkreisen, wie versucht wird, Mittel für politische Bildung zu streichen, ein Kulturzentrum zu schließen, ein kritisches Festival abzusägen. Das ist kein Zufall, nein, es sind neben der Justiz immer die Kultur und die Medien, an die sich die Feinde der Freiheit zuerst wagen, weil sie diese Macht der kritischen Wahrheit fürchten. Bitte seien Sie da mit uns wachsam und – wenn es darauf ankommt – auch solidarisch.
Genauso wichtig ist, daß wir in diesen Kontroversen nicht verhärten und selbst ausgrenzend werden. Eine offene Gesellschaft funktioniert nur, wenn wir wieder lernen, sowohl linke wie liberale und konservative Stimmen zuzulassen und aus unseren nur der Selbstbestätigung dienenen Echokammern herauskommen. Es reicht nämlich nicht, immer nur auf diese und jene Partei oder Gruppierung zu zeigen und pauschal vor „dem Faschismus“ zu warnen. Die Zerstörung der liberalen Gesellschaft beginnt in unserem eigenen Kopf! Wir müssen bei uns selbst anfangen, müssen die Toleranz, die wir einfordern, auch selbst üben und aufhören, uns wegen jeder kleineren Meinungsverschiedenheit oder einem vor 15 Jahren in völlig anderem Kontext gesagten Wort zu zerfleischen. Auch in meiner Profession, der Geschichts- und Erinnerungskultur, geht es oft viel zu konfrontativ zu, grenzen wir uns in unproduktiven Opferkonkurrenzen ab und schwächen uns dort, wo wir Gemeinschaft am meisten brauchen. Demokratie ist Meinungsvielfalt, zweifellos – aber wir müssen aufhören, uns auch auf solchen Kundgebungen gegenseitig vorzuführen, wir sollten vielmehr Menschen sowohl in ihrer historischen Einordnung als auch im heutigen Umgang miteinander zugestehen, daß sie eine Entwicklung durchmachen, sich verändern können; wir müssen jetzt mehr denn je um gemeinsame Nenner ringen, seien sie (erst einmal) noch so klein.
Denn das einzige, was wirklich zählt, ist das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die die beste aller Gesellschaftsordnungen ist, aber auch die einzige, die sich selbst abschaffen kann, wenn man im Konkurrenten schon den Feind und im Andersdenkenden bloß den Störenfried sieht. Lassen wir das nicht länger zu, und tragen wir unsere Konflikte so aus, wie es unsere Verfassung vorsieht – in den Parlamenten, in Parteien und Organisationen, bei Wahlen oder eben im friedlichen Gesicht-Zeigen auf der Strasse. Und es ist – bei aller Kritik an problematischen Entwicklungen – im Ganzen gut, und ganz anders als 1933 und auch als 1989, daß wir uns da Polizistinnen und Polizisten gegenübersehen, die grundsätzlich in der demokratischen Tradition stehen. Danke, daß ihr heute für uns da seid!
Denn an eines muß man auch erinnern: vor den Synagogen, vor den Gewerkschaftshäusern und lange vor den Vernichtungsöfen brannte in Deutschland 1933 ein anderes Gebäude – der Reichstag, das Parlament. Und die, die noch in der Nacht des Brandes die Verfolgungsmaschinerie anwarfen, nutzten diesen Moment, um den Parlamentarismus gleich ganz abzuschaffen. Das aber konnte nur gelingen, weil ihn viel zu viele Menschen im Land als unnütze „Schwatzbude“ bereits zuvor aufgegeben hatten, weil sie die Institutionen der Demokratie verachteten und nur noch apathisch darauf warteten, von welcher Seite aus der vernichtende Stoß geführt werden würde. Auch, weil es der Politik nicht gelang, die drängenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, weil viele politisch Handelnde selbst nicht mehr an die Demokratie glaubten und ihr Heil in einem verantwortungslosen Befreiungsschlag suchten, der Diktatur und letztlich Angriffskrieg hieß. Darum sollten wir die, die heute in Parlamenten, Regierungen und Rathäusern Verantwortung tragen, auch nicht andauernd beschimpfen, sondern ihnen vielmehr helfen, es weiter anders zu machen und Herausforderungen in demokratischer Weise zu begegnen; hören wir auf, uns über die manchmal langwierigen Entscheidungswege zu beklagen und widerstehen wir konsequent den einfachen Lösungen und populistischen Verheißungen. Die aktuellen Krisen und Probleme unseres Landes und der Welt sind komplex und manchmal kaum noch zu überblicken – eines wissen wir aus der Geschichte aber genau: autoritäre Versprechungen münden am Ende immer in Krieg und Gewalt auf Kosten der Schwachen und Schutzbedürftigen. Deshalb müssen wir uns auch nicht – wie manche behaupten – „unser Land zurückholen“. Wir dürfen es nur genau wie unsere Demokratie nicht aufgeben – und deshalb stehen wir heute hier.
Ich komme zum Schluß: Der 30. Januar 1933 bleibt vor unserem inneren Auge auf immer mit gespenstischen Bildern verbunden. Die einen zogen mit brennenden Fackeln und antijüdischen Hassparolen durch die Strassen, während andere wie gelähmt hinter zugezogenen Gardinen ihre Angst hinunterschluckten. Von diesem Tag und diesem Platz soll heute ein anderes Bild ausgehen – Menschen, die einander vertrauen, Menschen, die sich das Lachen und die Lebensfreude nicht nehmen lassen und Menschen, die ihre Hand ausstrecken und den Austausch auf Augenhöhe suchen. Ziehen wir diese offene Hand niemals vorschnell zurück und haben wir ein offenes Ohr auch für die Zweifel und Ängste unserer Mitmenschen – dann werden wir anders als 1933 immer in der Mehrheit sein und unser Land auch in 12 oder 20 Jahren noch erkennen. Machen wir uns frei von den lähmenden Wiederholungsmustern der Geschichte, indem wir entschlossen unsere Gegenwart gestalten und auf einer europäischen und demokratischen Zukunft bestehen. Vielen Dank!
Anselm Hartinger (30.1.2024)

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