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Transformation und Reduktion … oder doch Reformation

Diesen Blog-Beitrag zum Reformationstag 2024 widme ich Friedrich Schorlemmer (16. Mai 1944 – 09. September 2024). Mit ihm zusammen habe ich 2017 eine kritische Einschätzung des Reformationsjubiläums vorgelegt: „Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung“.

Seit einiger Zeit geistern sie durch die Kirchenlandschaft, zwei Begriffe, die nur notdürftig den Niedergang der Institution Kirche kaschieren können: Transformation und Reduktion. Erst in diesen Tagen veröffentlichte der Evangelische Pressdienst eine Mitteilung über die Kandidatur des Bischofs der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Christian Stäblein, für den Rat der EKiD: „… er sehe ‚den Rat herausgefordert, die begonnenen Transformationsschritte in der kirchlichen Arbeit mitten in den Abbrüchen und Umbrüchen der Gesellschaft zu unterstützen‘. Die Evangelische Kirche in Deutschland sehe er dabei als ‚Repräsentantin und Impulsgeberin‘. Es brauche bewährte Formate, ‚aber auch neue Suchbewegungen mit Pop-up-Events‘. Dabei gelte es, die sinkende Mitgliederentwicklung wahr- und ernst zu nehmen, erklärte Stäblein.“

Nun ist „die sinkende Mitgliederentwicklung“ keine neue Erscheinung. Sie hält seit fünf Jahrzehnten (!) an. Schon in den 70er Jahren verließ in Mannheim (und nicht nur dort) jedes Jahr zahlenmäßig eine komplette Gemeinde die Evangelische Kirche. Da aber gleichzeitig das Kirchensteueraufkommen kontinuierlich wuchs, gab es keinen Handlungsdruck. Im Gegenteil: Noch in den 80er Jahren wurden üppige Tagungshäuser gebaut und zusätzliche Stellen geschaffen. Finanziell konnte die Institution Kirche aus dem Vollen schöpfen. Gleichzeitig war schon in den 70er Jahren absehbar: Wenn diejenigen, die damals als junge Menschen die Kirche verlassen haben, und ihre Kinder und Kindeskinder keine neue Bindung zur Kirche und zum Glauben aufbauen, wird sich der Entfremdungs—und Säkularisierungsprozess in der Gesellschaft schnell potenzieren. Doch diese Tatsache wurde kollektiv verdrängt – auch von mir. Jetzt aber lässt sich nichts mehr verleugnen.

Spätestens nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 hätte das angestanden, was kirchenintern in aller Munde ist: die „Transformation“, besser: die Reformation einer Kirchenstruktur, die – jedenfalls in Sachsen autoritär und selbstüberheblich – den Gesetzmäßigkeiten einer preußischen Verwaltung Ende des 19. Jahrhunderts folgt. Stattdessen aber wurde diese überlebte Struktur erst einmal zur Grundlage der Kirche im vereinigten Deutschland gemacht und top-down verordnet: Stillstand (West) und Vereinahmung (Ost). Und was ist die Folge? Es wird zwar weiter einer „Transformation“ das Wort geredet. Aber die Frage, was von wo nach wo transformiert werden soll, bleibt weitgehend unbeantwortet. Stattdessen ist, da den Kirchen nun die finanzielle Basis wegbricht, nur noch von Reduktion die Rede – und zwar nach folgendem Muster: Angesichts der sinkenden Kirchensteuereinahmen können in fünf oder zehn Jahren nur noch soundsoviele Pfarrstellen, soundsoviele Stellen für Kirchenmusiker:innen, soundsoviele Stellen für Gemeindediakon:innen, soundsoviele Kirchgebäude und Pfarrhäuser finanziert werden. Diese Berechnungen werden mit zunehmendem Tempo im top-down-Verfahren den Kirchenbezirken als „Strukturreform“ verordnet, die dann vor Ort immer größer werdende „Regionen“ bilden sollen. Letztlich findet dieser rein bürokratische, selbstzerstörerische Prozess in allen Landeskirchen statt, ohne auch nur einmal zwei Grundfragen vor Ort, d.h. mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, zu debattieren:

  • Warum soll es evangelische Kirche/christliche Gemeinde am Ort X geben?
  • Wie können wir den Menschen vor Ort (die Mitglieder der Kirche wie diejenigen, die am Ort leben) nahekommen bzw. nahebleiben, sie durch die biblische Glaubensbotschaft stärken und mit ihnen zusammen ein menschliches Miteinander gestalten?

Ein offener Diskurs über diese Fragen, der von unten nach oben geführt werden muss, könnte dazu führen, dass wir uns nach und nach aus der babylonischen Gefangenschaft einer Verwaltungskirche befreien, die hauptsächlich Mitarbeiter:innen orientiert arbeitet und kaum noch die Menschen im Blick hat, die kirchliche Arbeit ermöglichen und erwarten: die Mitglieder der Kirche und diejenigen, die auf kirchliches Handeln sowie Wegweisung und Orientierung warten. Natürlich benötigt jede Art von kirchlicher Arbeit auch einen institutionellen Rahmen. Nur derjenige, der derzeit gegeben ist, hat sich als unfähig zur Reformation erwiesen. Vielmehr organisiert er einen gigantischen Selbstzerstörungsprozess. Auf der Strecke bleiben zuerst und vor allem diejenigen, die Mitglieder der Kirche sind und (noch) ehrenamtlich mitarbeiten. Verantwortlich für die dramatische Entwicklung ist vor allem der Berufsstand, dem ich selbst angehöre und der alle Schaltstellen in der Institution Kirche besetzt: Pfarrerinnen und Pfarrer. Ist aber dieser Berufsstand in der Lage, das Ruder herumzureißen? Wohl kaum, denn das würde voraussetzen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Auch darum bedarf es einer Reformation, die vom „Priestertum aller Gläubigen“ ausgeht, die Kirche von unten, also Gemeinde vor Ort aufbaut, für einen selbstkritischen Qualifikationsschub aller kirchlichen Berufe sorgt und damit rechnet, dass wir wieder mehr werden.

Dass dies kein Selbstzweck ist, unterstreicht der Zustand unserer Gesellschaft. In ihr leben immer mehr Menschen, die in allen Schichten verzweifelt und vereinsamt um Anerkennung und Rechtfertigung ringen, diese aber  oft nicht finden. Eine solche Gesellschaft benötigt die Grundbotschaft des biblischen Glaubens: Gott hat einen jeden Menschen ins Leben gerufen und in diese Welt gestellt. Damit hat jede:r einen Platz hat, den ihm:ihr niemand streitig machen kann und darf. Daraus erwächst jedem Menschen unabhängig von seiner Stellung ein hohes Maß an Verantwortung für sein eigenes wie für das Zusammenleben mit anderen. Diese Bestimmung des Menschen gilt es von Kindesbeinen an jedem Tag durch Wort und Tat neu in Erinnerung zu rufen. Wenn Christ:innen vor Ort dieses in vielfältiger Weise umsetzen und sich dabei ihrer eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit bewusst bleiben, dann reden wir hoffentlich bald nicht mehr von Reduktion, sondern davon, dass wir in der christlichen Gemeinde mehr werden wollen und können – mehr Menschen, die sich an ihrer Berufung/Taufe erfreuen und sich darum nicht niederdrücken lassen durch all die Verwerfungen, denen wir Menschen auf dieser Erde ausgesetzt sind, ihnen aber auch standhalten können. Von nichts anderem zeugen die biblische Botschaft und die Verkündigung Jesu. Gottseidank gibt es immer noch und wieder Menschen in der Kirche, die als ehrenamtlich Tätige, als Gemeindediakon:innen, als Kirchenmusiker:innen, als Pfarrer:innen dafür ihre Kraft und Fähigkeiten einsetzen, sich von der Kirchenbürokratie lösen und vor Ort neue Formen gemeindlichen Lebens entwickeln.

16 Antworten

  1. Ihr PS, lieber M. Käfer, mit endender Fragestellung, die sich aus Ihrem Kommentar zu Christians Reformation-Reflektionen, also zum tatsächlichen Stand unserer (?) Evangelisch-Lutherischen unsere Kirche stellen muss, stimme ich ganz entschieden zu – das ist die Frage!
    Nur muss man u.a. bedenken, dass Ost und West gravierend unterschiedliche Staatsformen hatten: Demokratie versus Diktatur, Freie Marktwirtschaft versus sozialistische Planwirtschaft, Freiheit versus Unfreiheit.
    Bemerkenswert die Tatsache, dass die Kirche zu tiefsten SED-DDR-Zeiten enormen Zulauf hatte, aus sehr unterschiedlichen Gründen: praktizierter christlicher Glaube, Zuflucht aus staatlicher Bevormundung und Repressionen, Widerstand unter dem schützenden Dach der Kirche kontra Sozialismus, Möglichkeiten des freien Wortes, Finden von Annahme und Geborgenheit, Kreativität und Akzeptanz individueller Daseinsberechtigung. Die Kirchen waren voll, die Friedenskreise z.B. in Dresden anlässlich des alljährlichen 13. Februars wuchsen, In Wittenberg unter Friedrich Schorlemmer wurde ein Schwert zum Pflugschar umgeschmiedet (Micha 5), Aktionen wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ oder „Schwerter zu Pflugscharen“ (Dresden unter Landesjugendpfarrer Michael Bretschneider), der Konziliare Prozess / „Bewahrung der Schöpfung“ 1983 und gemeinsame Erklärung dazu mit EKD und Bischofskonferenz, die Friedensgebete in St. Nicolai Leipzig, das Wirken von Pfarrern wie Wonneberger und Führer und die Bedeutung der Gethsemanekirche in Berlin und das Wirken z.B. von U. Poppe und M. Birthler wie auch das deutliche Wort an die DDR-Führung des Bischofs Forck.
    All dies, als Beispiel der Wahrhaftigkeiten, wurde durch den bemerkenswerten Zulauf vieler Menschen unter den Schutz der Kirche, unterschied sich auch rein politisch sehr von Kirche im Westen. Mir stellt sich die Frage wie vielen andere zunehmend auch, was die Menschen in den sog. „neuen“ Bundesländern veranlasst, Kirche in Scharen zu verlassen, nach diesen Erfahrungen aus zeiten bis 1989. Und mein Fazit sehr klar: unsere Kirche (Institution) ist sprachlos geworden. Christian sagt alles, was uns umtreibt. Und die zweite Frage sofort: Wie soll es denn nun weitergehen? Und geht es den Menschen zu gut? Ist der „Segen“ des stets reklamierte Slogan: „Sicherung des Wohlstandes“ Grund für Kirchenferne? Fehlt hier Orientierung, fehlt Besinnung auf das Eigentliche, sind Äußerlichkeiten so dominant, dass die Innerlichkeit, die Tiefe das Dasein im Individuum nicht mehr gefragt sind? Und was stellt hier in diesem Kontext Bildung dar?
    Die Basis ist die Kirche, und die Institution sollte rasch nachdenken, wie sie endlich die Dinge anpacken muss – endlich. Nochmal: Bewahrung der Schöpfung – allein auf diesem brennenden Problem hätte sie alle Verantwortung, sich deutlich in unserer Gesellschaft zu Wort zu melden!!!
    Ein friedvolles Wochenende – Ihr Jo.Flade

  2. Sehr bedenkenswert und anregend, Dein Beitrag lieber Christian, ebenso die Ergänzungen von Herrn Fersterra!
    Theologisch kann ich dazu wenig beisteuern; allerdings hat mich meine persönliche Erfahrung mit/in der Thomaskirche in Leipzig zu einer anderen Sicht auf „Kirche“ angeregt, als ich sie jahrzehntelang hatte.
    Wenn die christliche Botschaft mit unserer aktuellen Lebenswirklichkeit so hervorragend verknüpft wird, wie das über viele Jahre z. B. Britta Taddiken geschafft hat, spielen Fragen des Glaubens, der grundlegenden Werte und der eigenen Rolle in der Gesellschaft eine ganz andere Rolle! Gottesdienste (Predigten) wurden für mich so zum Anlass für intensives Nachdenken und Diskussionen mit Freunden/Bekannten. Die Freude, den Thomanerchor in einem „normalen“ Gottesdienst zu hören, die Rolle der Nikolaikirche während der friedlichen Revolution, oder die sehr gelungene Erneuerung der Lutherkirche jeweils für sich genommen, hätten Vergleichbares nicht vermocht.
    Sicher hat auch der von H. Fersterra geäußerte Gedanke, „Kirche der bewusst angeeigneten Mitgliedschaft“, einen großen Reiz; für mich bleibt aber die Qualität und Wahrhaftigkeit einer Predigt zentraler Dreh- und Angelpunkt, Kirche wieder attraktiv und relevant zu machen. Damit bin ich bei Deiner These der Verantwortung von Pfarrerinnen und Pfarrern.
    Aus meiner Sicht müssten darüber hinaus eine persönlichere Ansprache und eine größere Nähe zur Gemeinde (im politischen Wahlkampf kennt man den Straßen- und Häuserwahlkampf), ein kritisches Überdenken von „Ritualen“ (Taufe, Abendmahl, Konfirmation/ Firmung, Eheschließung, Beerdigung…) dazu kommen. Nicht zu vergessen eine ehrliche Aufarbeitung von z.T. gravierenden Missständen (Machtmissbrauch, sexuelle Gewalt, Verschwendung, Ausbeutung kirchlicher Arbeitnehmer:innen und Ehrenamtler:innen…). Auch ein Überdenken der Liturgie in Richtung zielgruppenspezifischer Orientierung (musikalisch, sprachlich, Nutzung digitaler Medien…) könnte hilfreich sein.
    Reformation muss mehr als ein (weiterer) Feiertag sein, um Kirche wieder ihre dringend benötigte gesellschaftliche Relevanz zurück zu geben.

    P.S. Der Beitrag von Christine Müller über die „Integration“ der Kirchen in den neu hinzugekommenen Bundesländern nach 1990 scheint mir ein sehr anschauliches Beispiel für den gewaltigen Reformationsbedarf nicht nur in der EKD.
    Wäre in westlichen Kirchengemeinden eine vergleichbare Kraft FÜR die friedliche Revolution, wie sie die Nikolaikirche bewiesen hat, überhaupt denkbar gewesen?

  3. Lieber Christian, vielen Dank für deine Überlegungen. Ich kann nicht anders, als an dieser Stelle von meinen Erfahrungen und unseren Überlegungen nach dem Fall der Mauer zu berichten. U.a. durfte ich diese in das Buch von Gottfried Hänisch „Von neuen Ufern und fehlenden Brücken“ (Wartburg Verlag 2008) beschreiben.
    Meinem Text habe ich die Überschrift gegeben: „Die Wende sind wir der Welt schuldig geblieben“
    Hier zwei kurze Auszüge:
    „Während in der Gesellschaft Runde Tische eingerichtet wurden, hatte ich das Gefühl, dass uns die erprobte Demokratie in den Kirchen der DDR nicht vor der Übernahme der westlichen Kirchen mit ihren Strukturen schützen würde. Die Hierarchien schienen festgelegt.
    Auf einem Seminar der Landesstelle Junge Gemeinde im Frühjahr 1990 nahmen wir den Bericht des damaligen Landesjugendpfarrers über die zukünftige Struktur der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) mit Skepsis entgegen. Es schien, als ob uns im Osten Deutschlands auch die kirchliche Alternative zur EKD verwehrt blieb. Einstimmig beschlossen wir, aktiv zu werden.
    Viel stand nach unserer Meinung auf dem Spiel:
    die neue Praxis des Kirchensteuereinzugs;
    die Einführung des Religionsunterrichtes;
    die sich öffnende Schere bei der Vergütung kirchlicher Mitarbeiterinnen;
    die Übernahme des Militärseelsorgevertrages….“
    „Nachdem die Synoden Beschlüsse gefasst hatten, die unsere Anliegen in keiner Weise aufgriffen, wandten wir uns mit einem kurzen Text an Gemeinden, ehren- und hauptamtliche MitarbeiterInnen mit dem Versuch, gemeinsam nach möglichen Wegen zu suchen:
    Wenn ein Kirchenvolk vor wichtigen Entscheidungen nicht gefragt wird,
    handelt es sich um nichts weniger als um eine andere Form von Diktatur.
    Wenn eine Kirche staatliche Finanzämter benutzt, um zu Geld zu kommen,
    handelt es sich um nichts weniger als eine neue Ehe zwischen Thron und Altar.
    Wenn eine Kirche den Religionsunterricht an den Schulen befürwortet,
    deklassiert sie den Katechumenat der Gemeinde zum überflüssigen Hobbyunternehmen.
    Wenn eine Kirche die Überwindung eines Weltanschauungsmonopols zu recht begrüßt, zugleich aber und stattdessen die Verbreitung ihrer eigenen Lehre an den Schulen installiert,
    degradiert sie selbst das lebendige Evangelium zur abrechenbaren Ideologie
    Wenn eine Kirche ohne Geld nicht nach Konzepten sucht, die dieser Situation gerecht werden, sondern sich Unsummen von Geld schenken lässt, das den eigentlich Armen dieser Erde gehören müsste,
    macht sie die Falschen zu ihren Brüdern und Schwestern.
    (Der Entwurf stammt von Dr. Gottfried Schleinitz. Unser Netz machte ihn sich zu eigen)

    1. Ich verstehe das so, dass das hier eine Plattform ist, auf der man nicht höflich ja sagt und im Kopf etwas ganz anders empfindet und denkt, sondern offen und ehrlich miteinander spricht. Deswegen möchte ich auch nicht höflich schweigen, sondern unzensiert meine spontane Reaktion auf Ihren Kommentar äußern. Und das habe ich gedacht:
      Waren die Menschen in Ostdeutschland (diesmal in den Kirchen) dann also wieder einmal nur Opfer? Ich bitte Sie ehrlich um Aufklärung: Wer saß denn damals in den ostdeutschen Synoden? Haben die Synodalen denn wirklich so gar nicht das „Kirchenvolk“ repräsentiert? Wer hat denn die Hand dazu gehoben, dass alles dem Westen angeglichen wurde (was ich, wie Sie, für eine verpasste Chance halte)? Ich war vor der Wende mehrmals zu kirchlichen Jugendbegegnungen in Gemeinden der ehemaligen DDR. Ich war immer erstaunt wie hoch engagiert und informiert und auch im positiven Sinne politisiert unsere Partner dort waren. Das war für uns aus dem Westen manchmal richtig beschämend. Warum konnte von den Erfahrungen und der Klugheit dieser Menschen so wenig in die gemeinsame Kirche eingebracht werden? Oder warum ist man nicht einfach eigene Wege gegangen?
      Ich habe damals in den Wendemonaten aber auch einen kirchlichen Kongress in Straßburg besucht, an dem kirchliche Vertreter aus Ostdeutschland teilnahmen, die lautstark an ihrer eigenen Kirche nichts Gutes ließen und denen es nicht schnell genug gehen konnte, alles dem Westen anzupassen. Alles was einen Hauch links war, war vom Teufel. Sollte also wirklich nur „der Westen“ daran schuld sein, der wie ein Bulldozer über den Osten hergefallen ist? Ich vertraue diesem einfachen Täter-Opfer-Schema, dass den einen die Verantwortung und den anderen die Rolle der Opfer zuweist, einfach nicht. Ich spüre, wie diese Art der Deutung des Geschehenen zu wenig erklärt und mich verschließt für eine Aufarbeitung. Wenn wir nicht die vielschichtigen Gründe für diese zugestandenermaßen zum Teil misslungene Entwicklung berücksichtigen und uns vor einfachen Schuldzuweisungen bewahren, werden wir nur die Spaltung und Trennung in den Köpfen verschärfen und verlängern und nichts verbessern.

      1. Lieber Rolf Fersterra, es wird sie erstaunen, dass ich ihnen recht gebe. Das war natürlich auch unsere Erfahrung und Enttäuschung. Wir haben zahlreiche Eingaben mit Vorschlägen an die Landessynode geschrieben und einen offenen Brief an unsere EKD-Delegierten, ohne Antworten zu erhalten bzw. in Diskussionen ohne unsere Beteiligung verunglimpft (linke Spinner) oder lächerlich gemacht worden sind. Nun müsste mein Text weiter geschrieben werden, denn nach einigen Jahren haben kirchliche Verantwortungsträger selbst den Verlauf dieser Entwicklung kritisiert. Auf meine Frage an den betreffenden Superintendenten, was er bzw. die Synode mit unseren Vorschlägen damals gemacht hat, antwortete er unverhohlen „In den Papierkorb geworfen“. Tatsächlich hat die Mehrheit der Verantwortungsträger und auch das Kirchenvolk diese Entwicklung befürwortet. Wir nannten uns „Netz der Nachdenklichen“ (wir wollten nicht provozieren). Etwa 80 kirchliche Haupt-und Ehrenamtliche in Sachsen haben damals im Netz mitgearbeitet. (Das waren solche, die sie vermutlich damals kennengelernt haben). Heute muss ich sagen, dass wir zwei Organisatorinnen des Netzes im Grunde diesen Mitarbeitenden Raum für Reflexionen geboten haben, der es verhinderte, dass sie austreten. …

        1. Liebe Frau Müller,
          vielen Dank für Ihre Antwort. So kann ich Ihnen noch versichern, dass ich das Anliegen Ihres damaligen Netzwerkes, die Wiedervereinigung zu einer echten Reformation der evangelischen Volkskirche zu nutzen, sehr gut verstehen kann und auch die Enttäuschung darüber, dass dies nicht geschehen ist. Unsere Kirche ist ja in ihrer Struktur durch eine bis auf die Reformation zurückgehende Geschichte tief geprägt, besonders in ihrer Nähe zum jeweiligen Staat. Das bringt für die Arbeit der Kirche große Vorteile mit sich. Und es beinhaltet zugleich große Gefahren, die Sie in ihrem damaligen Aufruf ja auch ansprechen. Mit Bonhoeffer bin ich zwar der Meinung, das man die volkskirchlichen Strukturen nicht einfach über Bord werfen sollte. (DBW 1,151) Aber es gab in der Geschichte unserer Kirche doch Wendepunkte, die man hätte nutzen können und müssen, unsere Kirche weiterzuentwickeln, indem man nicht zuletzt die enge Verzahnung mit dem Staat modifiziert und am besten gelöst hätte. Solche Schlüsselmomente waren insbesondere: der Zusammenbruch des landesherrlichen Kirchenregiment nach 1918, der Neuanfang der Kirche 1945. Und dann noch einmal die Wende 1989/90. Für eine kurze Zeit öffnete sich in diesen Wendezeiten ein Fenster für tiefergehende Veränderungen. An allen drei historischen Wendepunkten wurden diese nicht genutzt.
          1918 wurde die Forderung einer solchen Reformation übrigens auf besonders interessante Weise im Umfeld der damals sehr bekannten Zeitschrift „Christliche Welt“ entfaltet. Deren Schriftführer und Herausgeber war Martin Rade, Professor für Theologie in Marburg. „Jetzt oder nie“, schrieb Rade in einem Aufruf vom 28.11.1918 „mag die Pastorenkirche der Laienkirche, die Konsistorialkirche der Gemeindekirche weichen.“
          Im Umfeld der „Christlichen Welt“ sind damals die Grundprinzipien einer Gemeindekirche unter dem Titel „Freie evangelische Volkskirche“ entfaltet worden:
          • Aufbau der Kirche von mündigen Gemeinden aus,
          • eine konsequent durchgeführte Lösung vom Staat und staatlichen Strukturvorgaben,
          • die Gestaltung der Kirche ausschließlich nach kirchlichen Prinzipien,
          • die konsequente Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit der Mitgliedschaft.
          Doch weder damals noch nach 1945 war die Kirche bereit zur Umsetzung solcher Gedanken. Zu stark war der Gedanke des Evangelischen mit dem des Nationalen verbunden.
          Die Aufgabe wäre es nicht gewesen, die Volkskirche aufzugeben, sondern den Gedanken der Volkskirche mit dem Gedanken der Freiwilligkeit und der Beteiligung konzeptionell zu verbinden. Leider ist das nicht geschehen.

    2. Und: Bitte, bitte, Vorsicht bei der Wahl der Worte „eine andere Form der Diktatur“: Aus der Kirche kann man austreten, dann ist man frei und es passiert – nichts. Wenn man eine Diktatur verlässt, wird man unter Umständen an der Grenze erschossen … Es ist absolut verantwortungslos das eine mit dem anderen zu vergleichen.

    3. Liebe Christine, vielen Dank für Deinen Kommentar. Er hinterlässt bei mir zwiespältige Gefühle. Denn als Ich 1992 nach Leipzig kam, habe ich auf der einen Seite erlebt, dass das Überstülpen der westdeutschen Kirchenstruktur mit den bekannten Essentials Kirchensteuer-/Tarifsystem, Relligionsunterrichtn an den Schulen, Militärseelsorge auf breite Ablehnung stieß, gleichzeitig aber auch zur organisatorischen Stabilisierung der ostdeutschen Kirchen führte; auf der anderen Seite blieb eine schon damals grundlegende Erneuerung der Kirche in Deutschland aus. Beides hatte zur Folge, dass bis zum Reformationsjubiläum 2017 auch in der Institution Kirche Stillstand herrschte. Jetzt steht uns in ganz Deutschland das Wasser bis zum Hals. In Ostdeutschland wurde dieser Stillstand dadurch noch befördert, dass viele kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insbesondere Pfarrer:innen, ziemlich erschöpft waren – so habe ich sie jedenfalls wahrgenommen. Für mich war es sehr ernüchternd zu sehen, dass z.B. vom konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung, ein wesentlicher Impuls für die Friedliche Revolution, in den Gemeinden kaum etwas spürbar war.

  4. Kann man der Kirche die alleinige Schuld an der Misere geben? Das Paradoxon an der Geschichte ist, dass das moderne Individuum zunehmend mit Vereinzelung, Vereinsamung zu tun hat, wobei soziale Gruppen und Familien eher zu kurzfristigen Randerscheinungen ohne Werteinhalt werden. Selbst die Hochzeiten des Sektenzulaufs scheinen längst Geschichte zu sein. Dagegen radikalisiert man sich heute kurzfristig bei einer neuen Sau von Verschwörung die gerade aktuell durchs Dorf gehetzt wird. Als Antwort wartet die Kirche mit weit offenen Türen jedoch vergebens auf derart verirrte Lämmer. Wie kommt es zu solchen, der Normalität weit entrückten Phänomenen? Mit Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ das den Protestantismus die Grundlage gab, wurde um 1520 offensichtlich ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen. Nur, war der Protestantismus kein statisches Dogma, sondern als ewiger Prozess zu verstehen. Die Kraft der Reformation liegt in ihrem ewigen Protest gegen alles, was das Herz des Religiösen kleiner und enger macht (Jörg Lauster).
    Diese Epochenzäsur könnte man auch als Beginn des Liberalismus bezeichnen, der später in die Moderne überging. Der Eintritt in die Moderne bedeutete jedoch eine Erosion der vertrauten christlichen Vorstellungen (s.Nietzsche „Gott ist tot“), unter Realisierungsverlust der Vermittlung christlicher Ideale. Mit dem heute herrschenden entfesselten Liberalismus haben sich inzwischen nicht nur Werte sondern auch Lebensweisen, Einstellungen und Vorstellungen so verändert, dass es zunehmend darum geht den Fortschritt zu überleben.
    Ein vertiefendes und streitbares Buch zu dieser Meinung ist „Warum der Liberalismus gescheitert ist“ von Patrick J. Deneen.

  5. Lieber Christian Wolff, herzlichen Dank für die Zeitansagen zum Reformationsfest.
    Ihrer Analyse stimme ich weithin zu. Mir ist seit langem eine „behutsame aber entschiedene Transformation“ unserer Kirche wichtig gewesen und ich habe sie in vielen Gesprächen und auch oft Synoden gefordert. Im Zentrum stand dabei für mich die Forderung, unsere Kirche, die eine Kirche der unbewussten Mitgliedschaft ist, Schritt für Schritt in eine Kirche der bewusst angeeigneten Mitgliedschaft zu transformieren. Denn der religionsgeschichtlichen Situation in unserem Land entspricht eine freiwillig angeeignete und bewusst gestaltete Kirchenmitgliedschaft und nicht mehr eine Kirchenmitgliedschaft, in die man hineingeboren wird und die man sich nicht bewusst aneignet. Mithin: Unsere Kirche kann nur überleben, wenn immer mehr und schließlich alle Mitglieder sagen: „Wir sind die Kirche.“
    Diesen Weg ist die Kirche viele Jahrzehnte nicht gegangen. So ist sie geworden und geblieben, was sie ist: in großen Teilen immer noch eine Behörden-, Amts- und Verwaltungskirche. Und insbesondere die Pfarrerschaft ist in ihrer Mentalität immer noch (zum großen Teil unbewusst und ungewollt!) von dieser hoheitlichen Kirche geprägt. Wir sind in unserer Kirche noch weit davon entfernt, Mitglieder mit ähnlicher Wertschätzung und vergleichbarem Interesse zu betrachten, wie dies für „weltliche“ Dienstleister und Wirtschaftsunternehmen seit langem üblich ist.
    Das anonyme Finanzierungssystem der Kirche hat dazu beigetragen. Es hat in der Tat eine gigantische Selbsttäuschung mit sich gebracht. Von oben herab trudelte das Geld auf unsere Konten und es wurde immer mehr. Ich erinnere mich noch an Zeiten, die gar nicht so lange her sind, als wir auf unserer Kreissynode (Siegen, NRW) nicht wussten, was wir mit dem Geld anfangen sollten. Es blieb uns praktisch gar nichts anderes übrig, als immer neue Arbeitsgebiete zu eröffnen. Denn das Geld den Sparkassen zu überlassen, war ja auch keine Lösung. Das geschah, während die Mitgliederzahlen schon kontinuierlich nach unten gingen. Wir haben uns sogar etwas darauf eingebildet, dass Geld für uns in der Kirche keine Rolle spielt. Erst langsam habe auch ich gelernt, dass der kapitalistische Geldfluss eine Form von Kommunikation ist. Während jedes Unternehmen durch das Geld, das es von seinem Kunden erhält, zugleich wertvolle Informationen über die Qualität seines Produkts bekommt (und dann die Qualität oder den Preis anpassen kann), war dies durch die Kirchensteuer nie der Fall.
    Inzwischen habe ich aber auch gelernt, wie komplex die ganze Problematik ist und dass es nicht möglich ist den Niedergang der Kirche einlinig zu erklären. Und ich habe auch begriffen, dass unser Kirchensystem durchaus seine Leistungen hervorgebracht hat. Die Volkskirche als niederschwellige Kirche, die eine distanzierte Mitgliedschaft zulässt, hat immerhin dazu geführt, dass in Deutschland auch jetzt noch viel mehr Menschen Mitglieder der Kirchen sind, als in anderen europäischen Ländern. Dadurch hat die Volkskirche die Säkularisation in Westdeutschland zumindest verlangsamt. Eine Kirche der bewussten Mitgliedschaft hätte mit großer Wahrscheinlichkeit heute viel weniger Mitglieder und hätte in der Gesellschaft eine noch leisere Stimme. Eine solche Kirche hätte auch niemals so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen und ehrenamtlich beauftragen können. Leider ist es wohl so: Die Lage der ev. Kirche wäre heute auch prekär, wenn die Transformation zur Gemeindekirche erfolgt wäre. Viele Ursachen des volkskirchlichen Niedergangs liegen außerhalb dessen, was Kirche selber beeinflussen kann.
    Bei aller Selbstkritik sollte man deswegen jede Form des Selbst-Bashing unterlassen. Falsch finde ich es deshalb die Feststellung: „Verantwortlich für die dramatische Entwicklung ist vor allem der Berufsstand“ der Pfarrerinnen und Pfarrer. Natürlich sind Pfarrerinnen und Pfarrer maßgeblich verantwortlich für die Entwicklungen in unserer Kirche. Zu den Mängeln unserer Kirche gehört aber, dass es keine empirische Evaluation des pfarramtlichen Dienstes gibt. Manche Kritik gegen die Pfarrerschaft wiederholt daher nur landläufige Klischee und Mutmaßungen. Pfarrerinnen und Pfarrer pauschal verantwortlich zu machen, halte ich für gefährlich, weil es auch alle die demotiviert, die alles geben, um der Kirchenkrise entgegenzuwirken. Ich kenne viele Theologinnen und Theologen, die das tun und die durch eine pauschale Kritik zu Unrecht angegriffen werden. Nach meinem Eindruck haben in den letzten Jahrzehnten viele Pfarrerinnen und Pfarrer an vielen Stellen auch sehr gute Arbeit geleistet. Sie waren meistens auch noch in der Kirche vor Ort tätig. Das unter diesen eigentlich noch optimalen Bedingungen der Niedergang der Kirche nicht aufgehalten werden konnte, sollte uns vor einlinigen und einfachen Erklärungen gewarnt sein lassen.

    1. Lieber Rolf Fersterra, vielen Dank für die teils zustimmenden, teils ergänzenden, teils kritischen Anmerkungen. Das Thema ist natürlich so komplex, dass es sich nicht umfassend in annähernd 1000 Wörtern abhandeln lässt. Insofern kann ich auch dem letzten Absatz des Kommentars durchaus zustimmen. Meine Kritik an unserem Berufsstand bezieht sich vor auf das, was Sie selbst kritisch bemrken: dass sich zu viele Pfarrer:innen die Mentalität einer hoheitlichen Kirche aneignen – und genau mit dieser Mentalität in die kirchenleitenden Ämter einsteigen.
      Noch zwei Anmerkungen: 1. Ich rede nicht einer Kirche das Wort, in der alle Mitglieder sich einig sind „Wir sind Kirche“. Ich plädiere dafür, dass wir die Mitglieder, insbesondere die, die nicht aktiv bzw. distanziert sind, würdigen. 2. Ich bin froh und dankbar für alles, was in vielen, vielen Kirchgemeinden an segensreicher Arbeit geschieht – nicht zuletzt durch engagierte und hoch motivierte Pfarrer:innen.

      1. Die evangelische Volkskirche wird immer dem Modell konzentrischer Kreise entsprechen. Mit einem hochengagierten inneren Kreis und zunehmend lockerer Bindung an den Rändern. Kirche sollte unterschiedliche Formen der Nähe und Distanz zulassen. Und sie sollte denen mit uneingeschränkter Wertschätzung begegnen, die (zur Zeit) eine größere Nähe nicht wünschen. (Meine Erfahrung ist, dass einzelne dann auch gerne wieder in den inneren Kreis zurückkehren, wenn ihnen die Distanz zugestanden wurde.) Aber getragen und profiliert wird Kirche von innen her. Wenn es heißt: „Die Kirche“ soll dies oder jenes tun. Wer soll denn dann „die Kirche“ sein? Es können ja nicht nur die Pfarrerinnen, Pfarrer und andere Funktionsträger sein. Es sind die Mitglieder, die dem inneren Kreis zuzurechnen sind. Deswegen muss Kirche zu einer mündig angenommenen Mitgliedschaft einladen und Brücken zu dieser Mitgliedschaftsform bauen. Sie kann sich nicht damit abfinden, dass „wohlwollende Distanz“ das Merkmal des größten Teils ihrer Mitglieder ist. Deswegen muss die Kirche daraufhin arbeiten, dass möglichst viele Mitglieder sagen: „Wir sind die Kirche. Das ist unsere Unternehmung. Wir unterstützen Kirche bewusst.“ Ich stimme Michael Herbst zu: „Wir sollten uns endlich von der Illusion verabschieden, Kirchenmitgliedschaft in freundlicher Distanz sei auf Dauer eine tragfähige christliche Existenzweise. Unser Ziel muss es vielmehr sein, dass Menschen die Rolle als Kunden aufgeben.“
        Und noch etwas zu den Pfarrerinnen und Pfarrern und dem Vorwurf, dieser Berufsstand sei vor allem an der gegenwärtigen Misere verantwortlich. Ich habe den Eindruck, dass Theologinnen und Theologen, die ihre Fähigkeiten und vielleicht auch ein Stück weit das Glück an besondere Stellen geführt hat (Thomaskirche oder Lutherstadt Wittenberg), wenig Ahnung davon haben, wie die Arbeit von Pfarrerinnen und Pfarrern in „ganz normalen Gemeinden“ aussieht. Ich gehe davon aus, dass die meisten auch dieser Theologinnen und Theologen mit großen Erwartungen, Zielen und Visionen in ihren Dienst aufgebrochen sind und mit viel persönlichem Einsatz arbeiten. Aber die volkskirchliche Realität in der Fläche ist mittlerweile so hoffnungslos und deprimierend geworden, dass selbst gute Initiativen und qualitätvolle Angebote einfach ins Leere laufen. Man gestaltet etwas wirklich Gutes und das auch über Jahre hinweg. Dann verändert man es, optimiert es oder versucht etwas Neues. Und es kommt keiner oder immer die wenigen selben. Wenn man dann von Theologen, die in „Leuchtturmgemeinden“ arbeiten, gut gemeinte Ratschläge oder womöglich sogar Kritik hört, steigert das im besten Falle den Frust und macht im schlechteren Fall einfach wütend. Es öffnet jedenfalls keinesfalls dafür, den ernst zu nehmenden Teil der Kritik und der Vorschläge zu hören. Leider sind wir in unserer Kirche immer noch weit davon entfernt aufeinander zu hören. Es gibt verschiedene Ebenen mit wenig kommunikativer Durchlässigkeit nach unten und nach oben. Wenn es mal Begegnungen gibt, sind sie fast nie nachhaltig organisiert. Das habe ich in meiner Tätigkeit so oft erlebt, dass ich es schon nicht mehr zählen kann. Jeder bewegt sich in seinem Biotop und versteht wenig von der Befindlichkeit und den Problemen der anderen. Es fehlt weitgehend an guter empirische Analyse und Evaluation. In der Auseinandersetzung regieren dadurch viel zu viele Klischees und Vorurteile. Wenn wir da keine neuen Wege finden, wird sich die Abwärtsspirale fortsetzen.

        1. Lieber Rolf Fersterra, wieder geht es mir so: Ich kann vielen Gedanken folgen und auch zustimmen – allerdings nicht allen.
          1. Was die Kirchenmitgliedschaft angeht: Da habe ich mir schon zu Beginn meiner Tätigkeit eine sehr pragmatische Sicht angeeignet. Den Begriff „Kerngemeinde“ habe ich nie verwendet. Denn ich wurde nie den Verdacht los, dass von unserem Berufsstand diejenigen zur Kerngemeinde gerechnet werden, die ich kenne. Zur Gemeinde aber gehören für mich alle, die als Kirchenmitglieder geführt sind. Dabei gehe ich zunächst davon aus, dass jedes Kirchenmitglied überzeugte:r Christ:in ist. Das bewahrt mich vor einem Schubladendenken. Im Gegensatz zu Michael Herbst, habe ich kein Problem damit, den Begriff „Kunde“ zu verwenden. Auch ein Geschäftsführer eines Kaufhauses wird als Kunden nicht nur diejenigen bezeichnen, die tatsächlich einen Kauf tätigen. Jede:r, der:die den Laden betritt, ist ein Kunde – und Kunden sind auch die, die ich noch gewinnen möchte, meinen Laden aufzusuchen. Also: Wir können nur lernen, wenn wir uns auf den Begriff einfach einmal einlassen.
          2. Meine kritischen Bemerkungen zum eigenen Berufsstand beziehen sich vor allem darauf, dass an allen Schaltstellen in der Institution Kirche als Pfarrer:innen ausgebildete und tätige Menschen sitzen. Insofern trägt unser Berufsstand eine große Verantwortung für die gegenwärtige Krise. Was nun meine „Ahnungslosigkeit“ angeht, so kann ich nur darauf hinweisen, dass ich als Pfarrer auf dem Dorf angefangen (1 Jahr), dann im Stadtteil einer Großstadt als Gemeindepfarrer gearbeitet habe (knapp 15 Jahre, mit dem Blick von der Peripherie aufs Zentrum) und schließlich 22 Jahre an der Thomaskirche Leipzig tätig war, zu der zahlenmäßig die größte Gemeinde der sächsischen Landeskirche gehört. Ich hatte also auch an dieser „Leuchtturmkirche“ Tag für Tag das ganz stinknormale Programm eines Gemeindepfarrers zu bewältigen. Das war keine „Wohlfühlveranstaltung“, aber für mich in einem sehr säkularen Umfeld eine weder hoffnungslose noch deprimierende Herausforderung. „Leuchturmgemeinden“ leuchten auch nur dann, wenn wir das Licht nicht unter den Scheffel stellen. Insofern ziehe ich mir den Schuh von „gut gemeinten Ratschlägen“, die bei anderen nur „Frust“ erzeugen oder „wütend“ machen nicht so gerne an – zumal ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Mechanismen, die in der Gemeindearbeit wirken, an allen Orten ziemlich dieselben sind.
          3. Ich stimme zu, dass ein (selbst-)kritischer Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf Augenhöhe in unserem Berufsstand sehr unterentwickelt ist. Noch immer erweist sich in vielen Landeskirchen die „Visitation“, also die alle sechs Jahre stattfindende (das aber ist eher die Ausnahme) kritische Bestandsaufnahme der Gemeindearbeit vor Ort, als ein Witz.

          1. Das Bild der konzentrischen Kreise mit einer zentrifugalen Dynamik nach innen hin zur Freiwilligkeitskirche habe ich übrigens zuerst bei Dietrich Bonhoeffer in seine Dissertation Sanctorum communio kennengelernt. Einige Sätze, die sehr zum Nachdenken anregen, möchte ich gerne in Erinnerung bringen:
            Bonhoeffer bejaht die Volkskirche, sieht ihre großen Chancen und möchte sie so lange wie möglich erhalten. Er schreibt: „Ressentiment und dogmatischer Leichtsinn sollen uns nicht kurzerhand unsere geschichtliche evangelische Kirche nehmen können.“ (DBW 1,151) Trotz aller Schwächen „liegt in der geschichtlichen, volkskirchlichen Art der Kirche mit ihre größte Kraft.“ (150)
            Weil Kirche aber in ihrem Wesen Freiwilligkeitskirche ist, gibt es für die Volkskirche zwei Grenzen, die Bonhoeffer formuliert: „Es gibt nun für die Kirche einen Zeitpunkt, in dem sie nicht mehr Volkskirche sein darf, und dieser Zeitpunkt ist dann gekommen, wenn die Kirche in ihrer volkskirchlichen Art nicht mehr das Mittel sehen kann, zur Freiwilligkeitskirche durchzudringen.“ (150)
            Daraus ergibt sich für Bonhoeffer auch eine Grenze für die Kindertaufe als konstituierendem Moment der Volkskirche: „Damit ist aber dem Sinne der Kindertaufe dort die Grenze gesetzt, wo die Gemeinde nicht mehr ernsthaft daran denken kann, das Kind zu ‚tragen‘, wo die Kirche innerlich zerrüttet ist und es gewiss ist, dass das Kind mit der Taufe das erste und letzte Mal mit ihr in Berührung tritt.“ (182) Daher muss „rechtzeitig erkannt werden, wo eine Kirche nicht mehr Volks-, sondern Missionskirche geworden ist.“ (ebd.)

          2. Vielen Dank für die Erinnerung an diese wichtigen Gedanken Bonhoeffers. Kritisch möchte ich dazu Folgendes zu bedenken geben: Ob Freiwilligkeits- oder Volkskirche – sie muss mE immer missionarisch ausgerichtet sein. Wobei es bei Mission in erster Linie nicht nur darum gehen kann, möglichst viele Menschen zu gewinnen (Taufe). Vielmehr kommt alles darauf an, dass Kirche ihre Botschaft durch Wort und Tat glaubwürdig und im öffentlichen Raum/Gesellschaft kommuniziert. In Sachsen wurden jetzt im Zuge der sog. Strukturreform im reduzierten Stellenplan für jeden Kirchenbezirk je nach Größe ein bis zwei „missionarische“ Pfarrstellen eingerichtet. Das ist insofern mehr als „putzig“ (wie der Sachse sagt), als doch jede Gemeindepfarrstelle „missionarisch“ ausgerichtet sein sollte – oder?

  6. Lieber Christian,
    Dein Beitrag regt zum Innehalten und Nachdenken an. Du benennst ganz offen die blinden Flecke in den 70er und 80er Jahre. Wir haben verdrängt. Darum ist es gut, dass Du sehr offen und Zukunft öffnend die beiden Fragen stellst:
    1. Warum brauchen wir eine (evangelische) Kirche vor Ort?
    2. Wie können wir den Menschen nahe kommen, sie aufgrund des Evangeliums stärken.
    Es ist richtig, vom „Priestertum aller Glaubenden“ auszugehen. Ich wünsche uns, dass wir in den Gemeinden diesen beiden Fragen uns ernsthaft stellen und für das gute Evangelium so eintreten. In diesem Sinne: Reformation unserer Kirche.

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