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Die Tonlage muss sich ändern (1): Von „Anreizen“, „Pull-Faktoren“ und der Würde des Menschen

Seit Monaten tönt es fast unisono aus dem politischen Bereich: Wir sind „am Limit“ … Städte und Gemeinden können nicht mehr … die Grenze der Aufnahmekapazität ist erreicht … es kommen zu viele Geflüchtete … die Integration ist gescheitert – von der menschenverachtenden Rhetorik der AfD ganz zu schweigen. Doch die Rechtsnationalisten können sich die Hände reiben. Denn dass es „am besten“ wäre, wenn Deutschland gar keine Geflüchteten mehr aufnimmt, gehört zum Standard-Narrativ der AfD: „Ihr habt hier keinen Platz“, so die Botschaft von Alexander Gauland (AfD) schon 2017. Merkwürdig ist nur: Viele Bürger:innen nehmen bis heute im Alltag gar nicht wahr, dass jetzt vermehrt Geflüchtete aufgenommen werden. Sie, d.h. der Teil, der auf AfD-Propaganda positiv reagiert, wird nur „wach“, wenn sie darauf gestoßen werden, dass in ihrem Stadtteil Geflüchtete untergebracht werden sollen. Dieses „Stoßen“ hängt aber ganz wesentlich davon ab, wie in einer Ortschaft, in einem Stadtteil über Geflüchtete geredet, kommuniziert wird: ob sich Bürger:innen von Rechtsnationalisten zu Demos und Kundgebungen mobilisieren oder zum ehrenamtlichen Engagement ermuntern lassen.

Festzuhalten gilt: Dass sich Menschen aus aller Welt auf die Flucht begeben und nach Europa wollen, hat seine Ursache vor allem in

  • grausamen Diktaturen in den Heimatländern,
  • Krieg im eigenen Land,
  • Klimakatastrophen: Fluten, Dürren und in deren Folge Hunger.

Ebenso gilt festzuhalten: Die meisten Menschen, die vor Hunger, Krieg, Verfolgung flüchten, suchen in unmittelbarer Umgebung/Nachbarländern Schutz und bessere Lebensverhältnisse. Nur ein kleiner Teil der 100.000.000 Menschen, die sich derzeit auf der Flucht befinden, gelangt nach Europa.

Das bedeutet: Die Länder der EU hatten Jahrzehnte Zeit, um durch eine aktive Klima- und Friedenspolitik einen signifikanten Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu leisten. Auf diesem Gebiet ist aber wenig bis kaum etwas geschehen – man denke nur an den 20-jährigen Afghanistan-Krieg mit seinem katastrophalen Ende. Da die Kriege aber immer näher an uns heranrücken (der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der Terror von radikal-islamistischen Gruppen wie Hamas und Hisbollah im arabischen Raum) und weltweit immer mehr autokratische Systeme ein friedliches Zusammenleben zerstören, ist es kein Wunder, dass mehr Menschen Schutz in Ländern der Europäischen Union suchen. Unabhängig davon, dass natürlich nicht alle, die sich weltweit auf die Flucht begeben, in Deutschland aufgenommen werden können, darf nicht den Geflüchteten die Schuld für ihre Flucht aufgebürdet werden. Doch genauso verläuft die Debatte bei uns. Immer mehr setzt sich der Zungenschlag durch: Ihr, die Geflüchteten, seid die Ursache dafür, dass bei uns die Stimmung schlecht ist, die Rechtsnationalisten Zulauf haben, sich der Wohnraum verknappt, zu wenig Lehrer:innen zur Verfügung stehen, Turnhallen belegt werden, die Kriminalität wächst, der Antisemitismus steigt, und … und … und …

Völlig vergessen wird derzeit: Dass in einigen Gemeinden und Städten die Aufnahmekapazität an ihre Grenzen gerät, liegt nicht so sehr an der aktuellen Anzahl von Geflüchteten, sondern vor allem an der absolut notwendigen Aufnahme von ca. 1 Mio Menschen aus der Ukraine. Vergessen wird aber auch – und das sollten sich die Herren Merz, Lindner und Buschmann einmal fragen, bevor sie die nächste Breitseite gegen Geflüchtete loslassen: Wer reinigt eigentlich ihre Büros? Wer schleppt ihnen die Pakete von Amazon, UPS, Hermes oder DHL bis vor die Wohnungstür? Wer sorgt dafür, dass derzeit nicht noch mehr Bus- und Straßenbahnlinien von den kommunalen Verkehrsbetrieben nicht bedient werden können? Es sind zum größten Teil Geflüchtete. Sie haben dafür gesorgt, dass in der Corona-Zeit die Logistik nicht zusammengebrochen ist. Doch davon ist derzeit genauso wenig die Rede wie davon, dass es in den vergangenen Monaten weder dem Bundespräsidenten oder Bundeskanzler, noch irgendeinem/einer Ministerpräsidenten/in oder Oberbürgermeister:in, von führenden Politiker:innen in den Parteien ganz zu schweigen, in den Sinn gekommen wäre, sich hörbar und zuerst bei den Hunderten Initiativen und Tausenden Bürger:innen in ganz Deutschland zu bedanken, die Tag für Tag Geflüchteten beistehen, sie bei Behördengängen begleiten, ihnen bei der Integration behilflich sind, Sprachunterricht erteilen, ihnen den Rücken stärken. Ohne dieses seit Jahren andauernde ehrenamtliche Engagement der Vielen hätten wir tatsächlich eine Migrationskrise. Doch davon ist seit Monaten mit keiner Silbe die Rede. Stattdessen erhalten sie ungesagt die bittere Botschaft: Ihr engagiert euch für die Falschen.

Ebenso ist es reine Augenwischerei, die Zahl von Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen, dadurch reduzieren zu wollen, dass man sog. „Anreize“ oder „Pullfaktoren“ beseitigt. Gemeint sind dann Sozialleistungen für Geflüchtete. Die Vorstellung, dass sich in Somalia jemand deswegen auf die Flucht begibt, weil er in Deutschland ein paar Euro mehr Sozialleistungen als in einem anderen EU-Land bekommt, bzw. abgeschreckt wird, weil nun eine sog. „Bezahlkarte“ eingeführt werden soll, ist geradezu irrig – und sagt eine Menge über das Neid-Denken eines Herrn Merz und Panikattacken von Politiker:innen aus, denen der Kompass verlorengegangen ist. Der größte Anreiz für Geflüchtete, sich auf den Weg nach Europa, nach Deutschland zu machen, ist trotz aller Einschränkungen die Aussicht, hier angstfrei und in Frieden leben zu können, Demokratie zu erfahren, Meinungs- und Religionsfreiheit zu erleben. In der „Logik“ der derzeitigen Debatte müssten ja auch diese „Anreize“ beseitigt werden. Dass die AfD dieses beabsichtigt, ist offensichtlich. Aber wollen sich CDU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen tatsächlich auf einen solchen Irrweg begeben? Das ist so abwegig, dass man sich nur wundern kann, dass die derzeitige „Anreiz“-Rhetorik hundertfach in den Medien wiedergekäut wird. Es wird höchste Zeit, dass wir zu einer Tonlage zurückfinden, die dem Gegenstand, nämlich der Menschenwürde von Geflüchteten, entspricht und die das Wichtigste im Blick behält: die Integration der Geflüchteten und die Wahrung der Grundrechte aller.

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In wenigen Tagen folgt „Die Tonlage muss sich ändern (2): „kriegstüchtig“ werden? Ganz sicher nicht!

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