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Rede auf Ukraine-Kundgebung vor dem Gohliser Schlösschen am 02.04.22

Wir spüren es auf jeder Kundgebung seit dem 24. Februar 2022: Es ist ein großer Unterschied, ob jemand zu uns spricht, der oder die direkt vom brutalen Angriffskrieg des Putin-Russland betroffen ist; oder ob jemand – wie ich selbst – seine Gedanken zu dem entsetzlichen Kriegsgeschehen äußert und nachher wieder seinem Leben in ungestörter Normalität nachgehen und sich in großer Sicherheit wähnen kann. Darum treffen uns die Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj im Innersten – ganz anders als eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Darum treiben uns die bewegenden, anrührenden Worte von Ukrainer*innen auf Kundgebungen die Schamröte ins Gesicht. Darum haben wir allen Anlass, sehr selbstkritisch und demütig denen gegenüber zu treten, die jetzt konkret unter den Bombardierungen, den Zerstörungen ihrer Lebensgrundlagen unendlich leiden oder die bei uns – verängstigt, verzweifelt, aller Zuversicht beraubt – Zuflucht suchen.

Die unterschiedlichen, sich durchaus widersprechenden Perspektiven sollten wir aber nicht bedauern oder einebnen oder darüber sprachlos werden. Diese Unterschiedlichkeit in unserem Reden und Tun ist notwendig, auch die Kontroverse. Ja, wir müssen öffentlich darum ringen, streiten, was jetzt bei uns der politisch richtige Weg ist: Stopp der russischen Gasimporte, Waffenlieferungen an die Ukraine, 100 Milliarden Aus- und Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr? Denn die wichtigste „Waffe“ im Kampf gegen Diktatur und Krieg ist: die Demokratie, eine demokratische Streitkultur, die freie Rede, die Vielfalt der Lebensentwürfe und Argumente, der kritische Diskurs. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine lehrt uns: Am Ende von Autokratismus und Diktatur, am Ende von Beschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, am Ende vom Austrocknen demokratischer Prozesse stehen Nationalismus, Militarismus, imperialistischer Krieg. Diesen Zusammenhang haben wir im Blick auf Russland in den vergangenen 20 Jahren aus den Augen verloren; einen Zusammenhang, den wir aus unserer eigenen Geschichte eigentlich kennen müssten.

Bei allen Vorbehalten, die man bei historischen Vergleichen an den Tag legen sollte: Jetzt stehen wir genau vor dem Scherbenhaufen wie Europa zu Beginn des 2. Weltkrieges. Putin hat in Russland zunächst mit brachialer Gewalt die Diktatur nach innen durchgesetzt, um dann mit ebensolcher Gewalt seinen großrussischen Herrschaftsphantasien zu folgen – unter gezielter und infamer Ausnutzung einer europäischen Politik, die eigentlich ein gemeinsames Haus Europa bauen wollte.

Die Frage, die sich jetzt stellt: Soll dieses Ziel eines gemeinsamen Hauses Europa, eines friedlichen Zusammenlebens nun ad acta gelegt werden? Ist auf lange Sicht Russland als feindliches Ausland zu behandeln? Nein! Wie auch immer der gegenwärtige Krieg ausgehen wird: Russland bleibt ein Teil Europas – genauso wie Belarus, Georgien, Moldavien, die Balkanstaaten, die EU-Staaten und natürlich die Ukraine. Wir müssen uns neu auf eine Friedensordnung für das gemeinsame Haus Europa verständigen. Wir müssen schon jetzt für Grundwerte dieser Friedensordnung eintreten: Wahrung der Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Das hat nichts damit zu tun, anderen eine westliche Lebensweise aufzuoktroyieren. Dafür gibt es viel zu viele Menschen in den Vereinigten Staaten und in West-Europa, die im verwerflichen Autokratismus ihr Heil suchen. Trump und Orbán lassen weniger grüßen als warnen. Nein, es sind diese Grundwerte, die allein friedliches Zusammenleben auf diesem Planeten ermöglichen.

So sehr ich die Wut auf das Putin-Russland teile, so sehr ich befürworte, dass es unsere vornehmste Aufgabe ist, die Selbstverteidigungskräfte der Ukraine zu stärken, so sehr ich hoffe und bete, dass das Putin-Regime bald zusammenkracht und der Krieg beendet wird – in all unserem Denken, Reden, Handeln dürfen wir die genannten Grundwerte nicht aus den Augen verlieren. Wir dürfen uns niemals durch die Gewalt- und Rachesprache eines Putin auf seine Ebene, auf die Ebene kriegerischer Zerstörung und gegenseitiger Verfeindung ziehen lassen und damit die eigenen Grundwerte verraten.

Putin und seine Vasallen sind Verbrecher. Ja. Viele Menschen werden durch und im Krieg zu Verbrechern. Ja. Unzählige russische Bürger*innen ermöglichen all diese Verbrechen. Ja. Aber es muss weiter ein Grundsatz des christlichen Glaubens, der zum Grundsatz des Rechtsstaates wurde, gelten: Auch der größte Verbrecher hat einen Anspruch auf die Menschenwürde, die er durch sein Handeln mit Füßen getreten hat. Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006) sagte im Blick auf den Täter des Massakers von Erfurt im Jahr 2002: „Was immer ein Mensch getan hat: Er bleibt ein Mensch.“ Lasst uns davon niemals abrücken. Es gibt keine Unmenschen, wohl aber unmenschliche Taten – im Krieg allemal.

Lasst uns nie der Illusion anheimfallen, man könne Probleme lösen, indem man sie vernichtet. Wir lösen sie dadurch, dass wir gemeinsam um den richtigen Weg ringen und dabei allen Menschen ausreichend Luft zum Leben lassen. Darum gehe ich gegen Krieg und gegen Hochrüstung auf die Straße. Darum streite ich weiter für einen tatkräftigen Pazifismus, nämlich Konflikte mit dem geringst möglichen Gewaltaufwand zu lösen. Darum gilt meine Solidarität den Ukrainer*innen. Darum hoffe ich auf ein Ende des Putin-Regimes. Darum trete ich weiter für ein friedliches Zusammenleben im Haus Europa ein.

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Nachtrag: Seit dem gestrigen Sonntag (03. April 2022) ist die Welt entsetzt über die Massaker, die offensichtlich von russischen Truppen in mehreren Vororten Kiews unter der Bevölkerung verübt wurden. Man spricht von Kriegsverbrechen. Aber ist nicht der Krieg als solcher schon ein Verbrechen? Was kann man in einem Verbrechen anderes erwarten, als dass Menschen zu Verbrechern werden? Mir ist es nach wie vor ein Rätsel, wie man Krieg mit Zivilität in Verbindung bringen kann.

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