Seit März treffen sich auch in Leipzig sonntags ab 14.00 Uhr hunderte Bürgerinnen und Bürger, um sich zu einem geeinten Europa zu bekennen. Damit soll den Neu-Nationalisten a la AfD, Front Nationale oder PiS entgegengetreten werden. Es war gut, dass sich die Initiative „Pulse of Europe“ Ende letzten Jahres gebildet hat und auch in Leipzig auf Resonanz gestoßen ist. Doch nun zeigt sich, dass die Europa-Hymne zu singen, die Europa-Fahne zu schwenken und den Segen der offenen Grenzen bei Urlaubsreisen zu beschwören nicht ausreicht, um eine politische Begeisterung für Europa und Erneuerung der Europäischen Union in Gang zu setzen. Auch wenn sich „Pulse of Europe“ als überparteilich versteht – die politischen Ziele für Europa müssen deutlich benannt und Widersprüche aufgezeigt werden.
- Beim Thema Europa geht es nicht zuerst um Deutsche, Franzosen oder Engländer, nicht um Polen, Tschechen oder Griechen. Es geht zuerst und vor allem um: Menschen. Um die Menschen, die in Europa leben, aber auch um die, die weltweit in welcher Weise auch immer von unserer Art zu leben betroffen sind. Es geht letztlich um jeden Menschen. Aber das gilt auch für den Stadtrat von Leipzig, den Gemeinderat von Würselen oder den Landrat von Borna. Sie treffen Entscheidungen für Menschen, die in einer bestimmten Region leben (aber sich morgen schon woanders niederlassen können). Europäische Politik bedeutet also: der Würde und dem Recht des Menschen zu dienen. Die europäische Einigung steht in der Konsequenz dessen, was am 10. Dezember 1948 nach dem katastrophalen Bankrott nationalistischer Politik von den Vereinten Nationen verabschiedet worden ist: die Charta der Menschenrechte. Da ist nicht von der Über- oder Unterordnung bestimmter Nationen oder Menschengruppen die Rede. Da heißt es in Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Es macht keinen Unterschied, in welchem Land ein Mensch geboren wird. Für ihn gelten gleichermaßen die Menschenrechte, wie auch die unterschiedlichen Staaten an diese Menschenrechte gebunden sind. Erstaunlicherweise wird in der Charta der Begriff „Nation“ nur im Zusammenhang mit den „Vereinten Nationen“ gebraucht, das Attribut „national“ findet sich an keiner Stelle. Im Blick auf die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Nation wird von „Staatsangehörigkeit“ gesprochen, auf die der Bürger einen Anspruch hat, die er aber auch wechseln kann. Wenn wir heute von Europa sprechen, dann müssen wir die Bürgerinnen und Bürger im Blick haben, die hier leben oder leben wollen. Für sie gelten Gesetze und Regelungen, nicht für die Deutschen, die Franzosen, die Griechen. Unabhängig davon leben wir Menschen in familiären, regionalen, nationalen und internationalen Bezügen. Doch von diesen darf keine Bevorzugung oder Benachteiligung abgeleitet werden. Diese darf auch nicht dazu führen, sich selektiv von den Menschenrechten zu verabschieden.
- Europa muss das, was sich zwingend aus den Menschenrechten ergibt, umsetzen, verteidigen und gestalten: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Presse-, Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, keine Todesstrafe. Mit Ländern, die diese Grundlagen der Menschenrechte nicht beachten oder verletzen, müssen Verhandlungen darüber geführt, dass diese Missstände behoben werden. Konkret: Die Verletzung der Gewaltenteilung in Polen und der Pressefreiheit in Ungarn darf nicht als gegeben hingenommen werden. Durch den Verbund der europäischen Länder müssen die Bürgerinnen und Bürger darin bestärkt werden, sich in ihren Ländern aktiv für die Menschenrechte einzusetzen.
- Wenn das Leitbild für Europa der Mensch, sein Recht und seine Würde, ist, dann muss europäische Politik dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger in gerechter Weise an Einkommen, Bildung und Wohlstand beteiligt werden. In den vergangenen 20 Jahren sind in vielen Regionen Europas soziale Schieflagen entstanden, die den gesellschaftlichen Frieden bedrohen. Das muss in den kommenden Jahren behoben werden. Dabei geht es nicht um „Gleichmacherei“, sondern um die Anerkennung der Leistung und Würde eines jeden Menschen. Die Europäische Union benötigt nicht nur eine gemeinsame Währung. Europa benötigt auch eine Angleichung der sozialen Standards. Die alte Forderung der Gewerkschaften nach einer europäischen Sozialunion als notwendige Ergänzung zur Wirtschafts- und Finanzunion muss in die Tat umgesetzt werden.
- Das Friedensprojekt Europa muss viel stärker in den Fokus der politischen Debatte rücken – aber nicht nur rückwärtsgewandt, indem auf den Aussöhnungsprozess bis 1989/90 verwiesen wird. Europa hat die Aufgabe, sich für langfristig angelegte Friedensprozesse in den Regionen zu engagieren, in denen derzeit kriegerische Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten die Lebensgrundlagen von Generationen zerstören. Solche Prozesse können aber nur gelingen, wenn Aufrüstung und Rüstungsexporte rigoros eingedämmt und soziale Entwicklungen vor Ort befördert werden. Voraussetzung dafür ist, dass Europa seine eigenen inneren Konflikte auf gewaltfreie, demokratische Weise austrägt und löst.
- Europa braucht keine Leitkultur, sondern ein Bekenntnis zur religiösen und kulturellen Pluralität als Bedingung eines demokratischen Zusammenlebens. Darum ist der Versuch von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), mit 10 Punkten eine „Leitkultur für Deutschland“ zu beschwören, von vornherein zum Scheitern verurteilt – und wie die SZ schreibt „albern“. Ich will nur auf zwei Punkte hinweisen: 1. de Maizière spricht in seinem Papier ständig von „Wir“: „Wir sagen unsere Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand … Wir sind aufgeklärte Patrioten“. Aber wer gehört zum „Wir“? Am verständlichsten wäre ja noch die Antwort: Familie de Maizère. Wenn aber unter dem „Wir“ „die Deutschen“ verstanden werden soll, dann ist dies gleichermaßen vereinnahmend wie ausgrenzend, auf jeden Fall aber anmaßend. Als deutscher Staatsbürger will ich nicht für eine „Leitkultur“ vereinnahmt werden, die nur dazu dient, anderen abzuverlangen: so musst du werden, wenn du dazugehören willst. 2. Richtig gefährlich werden aber de Maizières Ausführungen in Sachen Europa. Im Punkt 9 heißt es: „Deutsche Interessen sind oft am besten durch Europa zu vertreten und zu verwirklichen. Umgekehrt wird Europa ohne ein starkes Deutschland nicht gedeihen.“ Was heißt hier eigentlich „umgekehrt“? In beiden Fällen definiert de Maizière Europa von Deutschland aus. Dabei war die europäische Einigung die Antwort auf Nationalismus und die Voraussetzung für die deutsche Einheit. Hier wird deutlich: Wer von einer nationalen Leitkultur spricht, macht Europa zweitrangig und stellt es –wenn es Spitz auf Knopf kommt – zur Disposition. Genau das geschieht derzeit in zu vielen europäischen Ländern.
Darüber müssen wir auch bei „Pulse of Europe“ offen debattieren – und deutlich machen: Wer für Europa streitet, dem kann es nicht um deutsche Identität gehen. Es geht um Menschen, Menschen, die jetzt hier leben und die als Geschöpfe Gottes zu würdigen sind und zu ihrem Recht kommen sollen.
Kundgebung Pulse of Europa, Sonntag, 07. Mai 2017, 14.00 Uhr auf dem Nikolaikirchhof.
9 Antworten
Lieber Herr Stadnitschenko,
zunächst bitte ich um Entschuldigung, dass ich erst jetzt auf Ihren Kommentar antworte. Das hat zwei Gründe: Zum einen wurde ich bis vor kurzem zugeschüttet mit Fake-Kommentaren aus Russland (das habe ich abstellen können); zum andern ist mir dann Ihr Kommentar „weggerutscht“. Aber da dieser Blog-Beitrag nach wie vor sehr abgefragt wird, will ich nun die Beantwortung der Fragen nachholen:
1. Es kommt sehr darauf an, wie weit man den Kultur-Begriff fasst. All das, was Sie hier aufzählen, gehört zur Lebensart in europäischen Regionen. Ob das aber kulturelle Ausdrucksformen sind, die uns von anderen Kulturen unterscheiden, oder die gegen andere Kulturen verteidigt werden müssen, wage ich zu bezweifeln.
2. Die von Ihnen aufgezählten Komponisten gehören auf jeden Fall zu den ganz Großen der europäischen Musikkultur in ihrer ganzen Vielfalt. Ob sich aus diesen Werken eine „Leitkultur“ entwickeln lässt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall zeigen sie, dass sie einem großen Kulturraum entstammen. Der aber hat sich auch über die Jahrhunderte veränderte. Wichtig scheint mir vor allem eines zu sein: diese Komponisten sprengen mit ihrer Musik alle nationalen Engführungen legen Zeugnis ab von der universalen Sprache der Musik. Das wird dann noch offensichtlicher, wenn diese Musik in außereuropäischen Kulturkreisen aufgeführt wird.
3. Diese Frage habe ich unter 2. eigentlich beantwortet: Musik muss nicht übersetzt werden. Musik kann in allen Kulturkreisen verstanden werden.
4. Erstrangig: Musik, bildende Kunst sind in jeder Hinsicht grenzüberschreitend und widersprechen aller nationalistischer Verengung und Vereinnahmung. Insofern ist Musik ein so wichtiger Beitrag im interkulturellen Leben. Zweitrangig: In welchem Kontext die Musik ursprünglich entstanden ist.
5. Meines Erachtens gibt es kein Land auf dieser Erde, das keine Musiker, Schriftsteller oder Dichter hervorgebracht hat. Die Frage ist, was wir von den jeweiligen Ländern wissen bzw. zur Kenntnis nehmen.
6. Es gibt meines Erachtens weder „christliche“ noch „unchristliche“ Musik. Wohl gibt es sehr viel Musik, die im christlichen, kirchlichen Kontext entstanden ist oder entsteht, und natürlich solche, die nicht in diesem Kontext zu verorten ist. Sin die Kompositionen Wagners „christliche“ Musik? Ist ein Orgelwerk Bachs, aufgeführt beim Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg „christliche“ Musik? Ist Beethovens „Eroica“, aufgeführt in der Thomaskirche, „christliche“ Musik? Ich möchte mit diesen Fragen nur die Problematik Ihrer Fragestellung andeuten.
7. Sie sehen aus 6., dass ich mit dem Attribut „christlich“ meine Probleme habe, auch mit dem Begriff „christliches Abendland“. Ja, vieles in Europa ist geprägt durch das Christentum, viele Traditionen wurzeln im christlichen Glauben. Viele davon gilt es zu pflegen, von unsäglichen haben wir uns zu verabschieden (wie die Unterdrückung der Frau). Aber: mit dem Attribut „christlich“ verbinden sich auch viele Verbrechen, ganz viel Versagen und Fehlentwicklungen. Wir müssen also differenzieren.
8.-10. Wie gesagt: Vieles wurzelt in christlichen Traditionen. Aber in der globalisierten Welt gesellen sich andere kulturelle Traditionen zu uns. Damit stehen wir vor zwei Aufgaben: unsere eigene kulturelle Identität zu klären und gleichzeitig angstfrei anderen Kulturen begegnen.
11. Im Sinne von 8.-10.: Weder noch. Wir leben in einer größer gewordenen Pluralität. Diese sollten wir bejahen, gleichzeitig aber unsere kulturellen Traditionen profilieren.
12. Ihre Frage macht eine abfüllende Diskussion erforderlich. Grundsätzlich: Ich suche die „Schuld“ für diese Entwicklung nicht bei anderen, sondern zunächst bei mir selbst. Darum meine Antwort: Wir vernachlässigen die Pflege unserer Traditionen und versuchen uns gleichzeitig gegen andere Kulturen/Religionen abzuschotten. Beides ist aus meiner Sicht falsch.
Für mich ist ein Wort vom Mystiker Meister Eckart Leitgedanke in der Debatte um kulturelle, religiöse Identität: „Wer um seine Mitte weiß, kann weite Kreise ziehen.“
Herzliche Grüße Ihr Christian Wolff
Lieber Herr Wolff,
ich freue mich, daß Sie diesmal in der Sache auf meinen Beitrag eingehen – das ist schön.
Allerdings ist Ihre Beschreibung meines “Grundvorwurfs” nicht ganz korrekt, weshalb ich das Argument (nicht als Vorwurf) nochmal wiederholen will:
Ihr ganzer blog zeigt dem Leser, daß Sie nicht nur konkrete Überzeugungen haben (was ich doch begrüße, denn es ist in Deutschland ja inzwischen selten, wie die Tatsache zeigt, daß 24 Stunden vor einer Wahl mehr als ein Drittel aller Befragten aussagen, sie hätten sich noch nicht entschieden, sie hätten also keine Überzeugungen) – daß Sie also nicht nur konkrete Überzeugungen haben sondern alle anderen Überzeugungen entgegen Ihrer Aussagen von Demokratie, Pluralität und Meinungsfreiheit nicht mit Argumenten und Sachlichkeit sondern mit Verachtung, mit Verbalinjurien, mit Intoleranz und überwiegend Argumentationsverweigerung begegnen. Beispiel? De Maizière hat versucht, eine Grunddiskussion in unserem Lande argumentativ zu konkretisieren – vielleicht war er dabei in seinen Formulierungen nach Ansicht einiger ungeschickt. Aber es ist doch zu begrüssen, daß ein Minister seine Aufgabe wahrnimmt und konkret und anleitend sagt, was er zu aktuellen Problemen meint und wie er sie konkret definiert. Ihre demokratische Antwort ist: “albern und peinlich” – bei gleichzeitigem Hinweis darauf, daß wir alle unsere Überzeugungen haben dürfen. Toll! Beispiel? Sie mögen die AfD nicht, halten sie für gefährlich – und anstatt gegen sie demokratisch zu argumentieren, finden Sie die demokratische Ausdrucksform: verlogen, verantwortungslos, unmoralisch. Toll! Beispiel? Sie kämpfen undifferenziert für alle, die von außen zu uns kommen, ohne auch nur bereit zu sein, die entstehenden Probleme anzuerkennen, und schimpfen undifferenziert und sehr demokratisch auf alle, die diese Probleme zu sehen glauben, auf alle, die unsere Gesetze ausführen (Abschiebung und nachrichtendienstliche Überwachung zB), auf alle, die in ihrem Hause in angemessenem Rahmen Herr bleiben wollen (Polen, Ungarn, etc). Toll!
Es kann sein, wie Sie annehmen, daß ich nicht zwischen persönlichen Überzeugungen und Leitlinien unterscheiden kann. Was ich aber kann, ist zwischen Anerkennung der Meinungen anderer Menschen als “mögliche und im demokratischen Spektrum angesiedelte Meinungen” und intoleranter Ablehnung aller Ansichten außer der eigenen zu unterscheiden. Und “mögliche Meinungen” muß man eben argumentativ bekämpfen, auch wenn sie außerhalb der eigenen “Möglichkeiten” angesiedelt sind. Und man muß klar unterscheiden zwischen Meinung und Verunglimpfung (nicht nur Böhmermann, vielleicht auch man selbst?). “Fuge incauta verba” las ich neulich eingemeisselt über dem Eingang eines Hauses in Ostunia/Apulien – ein schönes Motto und es sollte demokratische Diskussionen leiten.
Mit guten Wünschen für das Wochenende,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Wolff!
1. Wenn wir von Europa sprechen, dann sprechen wir von Menschen. Ach, was ist das mal wieder für ein emotionales und unpolitisches Daherreden: Es klingt gut, es markiert die weiße moralische Weste, es – nützt den Europäern und den Bürgern dieser Welt politisch nichts. Denn diese Menschen, von denen wir da reden, sind zunächst … Europäer. Europäer, die ihren Kontinent bewahren wollen, die ihre Traditionen, Wertvorstellungen, Überzeugungen selbst gestalten und entwickeln wollen und die konsequenterweise denen, die von außen dazukommen, abverlangen, daß sie diese Lebensart anerkennen und akzeptieren, sich ihr anpassen und eventuell nach einer Phase der Eingliederung auch selbst mitgestalten. Sie, lieber Herr Wolff, sind der energischste Vertreter einer europäischen und deutschen Leitkultur, predigen Sie uns doch andauernd – und mit Recht – Ihre christliche Überzeugung. Und zugleich lehnen Sie die Vorstellungen anderer über Leitkultur vehement und häufig intolerant-aggressiv ab. Wie demokratisch! Wie achtungsvoll vor der Menschenwürde!
2. Wie recht haben Sie doch mit Ihrem Hinweis auf das, was unsere demokratische Rechtsvorstellung ausmacht. Und dann führen Sie Ungarn und Polen, etc, als Beispiele für deren Verrat an und verweisen auf die Verpflichtung Europas, dies intern zu bekämpfen. Alles richtig. Aber das heißt eben nicht, daß wir die Menschenrechtsverletzungen in aller Welt – Syrien, Sudan, Nordkorea, etc – nur durch Aufnahme von deren Bürgern begleiten, diese Staaten dadurch ausbluten und ihre Diktatoren unterstützen, und diese Menschen, denen wir Heimrecht und Schutz gewähren, auch noch über die eigenen Bürger, auch Ungarn und Polen, und deren Vorstellungen stellen.
3. Daß eine europäische Währungsunion zwingend auch die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialunion erfordert, ist ja offensichtlich. Daß auch südeuropäische Bürger ihre Würde haben, bedarf keiner Erwähnung. Aber Sie vermeiden mit Ihrem so einfachen Hinweis wieder einmal, die politischen Konsequenzen klar auszusprechen: Daß zur Würde und zur sozialen Teilhabe auch gehört – für Völker wie für einzelne Menschen – daß sie ihren eigenen Teil beitragen zum allgemeinen Wohl, daß sie also für ihre Schulden alleine verantwortlich sind, daß ihr Lebensstil zwischen Arbeit und Freizeit sie tragen muß, daß es gegen die Würde ist, über die eigenen Verhältnisse zu leben. Der Vertrag von Lissabon, dem alle EU-Staaten zugestimmt haben, verbietet die Sozialisierung von Staatsschulden. Wer die Einhaltung dieses Vertrages fordert, handelt weder gegen die EU noch gegen die Menschenrechte oder -würde.
4. Europa sollte und muß vielleicht sogar stärker teilnehmen an internationalen Friedensbemühungen. Voraussetzung dafür ist neben einer überzeugenden aber nicht belehrenden eigenen Politik mit maßvollen, realisierbaren und nicht ideologisch vollkommenen Ansprüchen die Fähigkeit zur Durchsetzung von Minimalstandards, wenn dies die Weltgemeinschaft beschließt oder das eigene Bündnisinteresse dies erfordert. Dazu sind Streitkräfte erforderlich, deren Einsatz Teil jeder vernünftigen Politik ist bzw sein kann. Ohne Streitkräfte kann weder Politik noch humanitäre Hilfe gegen Diktatoren gelingen. Und ebenso sind Bündnisse mit Beteiligung von Regionalstaaten zur Krisenbewältigung unerläßlich. Daß diese Regionalstaaten in die eigenen Rüstungsbemühungen eingeschlossen werden, ist unvermeidlich. Entwicklungshilfe – man muß dies leider zur Kenntnis nehmen – ist entweder zwingende humanitäre Unterstützung zum Lebenserhalt betroffener Kriegsopfer, dann aber ist sie konsumptiv und also langfristig unwirksam. Oder sie ist investitiv – Bildung, Wirtschaftsprojekte, Hilfe zur Selbsthilfe, etc –, dann aber kann sie nur wirksam sein, wenn der Diktator beseitigt und Frieden in der Region hergestellt ist.
5. “Bekenntnis zur religiösen und kuturellen Pluralität” ist die Beschreibung einer Leitkultur; insofern ist der erste Absatz dieses Abschnitts widersprüchlich in sich selbst und zeigt Ihre ganze Dialektik auf: Was andere denken wird nicht ge”braucht”, was Sie denken ist verbindlicher Anspruch, darf aber nicht Leitkultur sein, weil Sie dies als Kampfbegriff verunglimpfen wollen. Es mag sein, daß de Maizières Formulierung mit “Wir” unglücklich ist. Richtig aber bleiben seine Inhalte, die in der Tat beschreiben, welche Werte wir durch unser Handeln zum Ausdruckl bringen – zum Beispiel in Begrüßungs-, Diskussions-, und Umgangsriten. “Albern” ist bei uns nur, wenn jemand religiöse und kulturelle Leitkultur einfordert und den Begriff dann aber bekämpft.
Und was “Deutschland in Europa und umgekehrt” angeht, so ist daran wirklich gar nichts gefährlich. Gefährlich ist es, wenn man die aufgrund der Lage und Stärke Deutschlands nunmal gegebene wichtige Rolle unseres Landes – die im übrigen auch alle anderen Mitglieder in jeder Lage einfordern, finanziell, wirtschaftlich, steuernd, etc – negiert und sie gleichzeitig als moralische Übergröße, zB gegenüber Ungarn und Polen andauernd besserwisserisch und belehrend ins Spiel bringt.
Lieber Herr Wolff, Sie können gut predigen – politisch gibts noch viel zu lernen. Bei mir ist es wahrscheinlich umgekehrt.
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Christian Wolff,
Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Martin Schubert,
alles, was Sie im Blog schreiben, ist natürlich sehr interessant, rührend und kann jedermann sofort zum tiefen Nachdenken bringen.
Erlauben Sie mir bitte versuchsweise eine europaeische Vision zu erreichen, indem ich Ihnen unten (hoffentlich nicht uninteressante, jedoch leider ziemlich problematische) ausgerechnet diese folgende 12 Fragen in diesem Zusammenhang stelle – nämlich:
1. Muss der Begriff der „Europäischen Kultur“ unbedingt mit Dingen wie Schwarzwälder „Kuckucksuhr“, Schnaps „Kirschwasser“, „Kirschtorte“, Schuhplattlern, Pfälzer Saumagen, sowie auch mit der typisch schwäbischen „Brezel“, Russischen Holzpuppen „Matreschkas“, d.h.sog.“Babuschkas“, Wodka und Samowaren und lauter solchen Sachen in Zusammenhang gebracht werden oder machen Sie das ganz absichtlich und bloss provokativ? Dies sind an sich, ja, (und bleiben immer noch!) sehr nette stark traditionsgebundene von den Touristen und Gäste stets begehrenswetre typische Souvenir-Sachen.
Aber: 2. Finden Sie nicht das vorerst eine sehr gute, klassische d.h.kuenstlerisch würdige Musikkultur, d.h. z.B. eine erstklassige Konzertaufführung der Werke von solchen west- und osteuropäischen genialen Komponisten wie J.S. Bach, Buxtehude, Zachow, Haendel, Haydn, Beethoven, Mozart, Vivaldi, Rossini, Verdi, Wagner, Lizst, Brahms, Mahler, Schubert,Tchaikowsky, Rachmanininoff, Prokofieff, Skryabin, Stravinsky, Schostakovitsch, Chopin, Schumann, Mendelssohn, Dvorak, Smetana, Berlioz, Saint Sanse, Strauss, Offenbach, Grieg, Ravel, Sibelius, Nilssen können alle in „unseren seligen west- und osteuropäischen Ländern gemeinsam in einem seligen Lächeln vereinen zu können“, d.h. wäre eine Musikkultur nicht eine ECHTE UND EINZIG RICHTIGE LEITKULTUR für die ganz Ost-und West-Europa zu erkennen/festzustellen?!
3. Finden Sie nicht, dass vorerst die echt gute Musik diesen allen o.g. zahlreichen europäischen Komponisten ist für die moderne, d.h. heutige europäische Menschen unvergleichlich viel leichter verständlicher und wichtiger als die geniale Dichtung und Literatur von Goethe, Schiller, Droste-Hülshoff, Tolstoy, Dostojevsky, Chechov sowohl in der Originalsprache als auch in einer manchmal fragwürdigen Übersetzung (die lassen manchmal zu wünschen übrig)?
Die Hauptfrage ist: 4. Was wäre für moderne Menschen im heutigen europäischen Kulturaustausch als erstrangig und was als zweitrangig zu bezeichnen?
By the way: 5. Welches europäische Land hat gar keine bedeutenden Musiker, Schriftsteller und Dichter hervorgebracht?
6. Kennen Sie irgendwelche durchaus „unchristliche“ europäische geniale Musik? Falls ja, geben Sie mir bitte Bescheid, seien Sie so lieb!
7. Wäre z.B. ausgerechnet diese typisch europäische Eigenschafft nicht naemlich das, was man konnte im Allgemeinen als eine „echte Europaeische Vision“ zu bezeichnen?
8. Hat der weltbekannte französische Schriftsteller Antoine de Saint Exupery nicht treffend und extrem einfach gesagt/ besser ausgedruckt zugegeben, dass „unsere europäische Kultur in seiner Herkunft ist durchaus eine „christliche Kultur“? Das gab es einmal!
9. Hat Exupery sich in seinem Buch „La terre des hommes“ bloss stark geirrt oder gar nicht? War es damals bloss nur ein Wunschdenken seinerseits?
10. Ist/bleibt die moderne europäische Kultur von Heute immer noch (wenn überhaupt) christlich?
11. Wie können Sie unsere heutige Epoche weltweit nennen: „Postchristlich“ oder vielleicht eher als eine „Neopaganische“ Zeit noch deutlicher zu bezeichnen?
12. Warum ist der Glaubensabfall von der Ev. und Kath. Kirche heutzutage ganz besonders in den Westeuropäischen Ländern so gross?
Lassen Sie bitte von sich hören!
Viele herzliche Gruesse aus dem Grossen Konzert-Saal des Moskauer Tchaikowsky Konservatorium,
Dr.Wladimir Stadnitschenko,
Rubinstein Museum Direktor
Sehr geehrter Herr Stadnitschenko,
vielen Dank für die anregenden Fragen, auf die gerne antworten möchte.
1. Ja, das ist provokativ zugespitzt. Ich wollte aber nicht sagen, das sei Kultur. Vielmehr wollte ich sagen, dass der Begriff problematisch ist, weil er von vielen Menschen genau SO gebraucht wird.
2. Kultur ist immer ein abgrenzender Begriff. Wenn ich die musikalische Kultur der Europäer heraushebe, impliziere ich, andere Länder hätten hier weniger Bedeutsames zu bieten. Und nein, eine echte und einzig richtige Leitkultur kann ich nicht erkennen. Vielleicht liegen ja die Jugendlichen mit Ihrem Musikgeschmack richtig? Moderne Musik, die die Emotionen und Themen der Zeit aufgreift?! Diese Menschen werden die klassische Musik vielleicht als rückwärtsgewandt und statisch empfinden. Nein, ich will niemanden zwingen, klassische Musik als „die bessere“ zu empfinden.
4. Statt eines einheitlichen Kulturraums stelle ich mir eine Vielzahl von Gruppen vor, die jeweils ihre eigenen Regeln und Formen haben. Sie bilden Schnittmengen miteinander, mal große mal kleine, aber nicht immer die gleiche. Über diese Schnittmengen sind alle miteinander verbunden, aber möglicherweise ist eine GEMEINSAME Schnittmenge ALLER Gruppen gar nicht vorhanden oder identifizierbar. Jeder wird also unterschiedliche Prioritäten setzen.
6. Ich anerkenne, dass der christliche Glaube zu einer enormen Fokussierung des künstlerischen Schaffens auf Themen des christlichen Glaubens geführt hat. Ob der chrisliche Glaube aber URSACHE des künstlerischen Schaffens ist, kann ich nicht sagen. In anderen Kulturen kenne ich mich nicht soweit aus, als dass ich sagen könnte, der christliche Glaube wäre in diesen Dingen über andere Glaubensrichtungen erhaben.
8. Dann meinte er vielleicht auch die Intoleranz. Sie scheint mir lange ein Begleiter der christlichen Lehre gewesen zu sein.
10. Aufklärung und Humanismus würde ich gerne in den Mittelpunkt stellen. Die Werte und Ideale von Aufklärung und Humanismus mussten gegen die rückwärtsgewandten Kräfte der Kirchen erkämpft werden. Doch die Kirchen haben sich gewandelt und heben heute ihre Fahnen in den Wind dieser Errungenschaften. Sie kämpfen nun gemeinsam mit den Aufkläreren gegen Intoleranz und Abgrenzung. Das freut mich und wir sollten weiter gemeinsam für das (zukünftige) Glück der Menschen kämpfen. Welcher Herkunft die gemeinsamen Werte und Ziele sind, ist unerheblich, wenn ich möglichst alle darunter verssammeln möchte.
Herzliche Grüße aus Leipzig
Dr. Martin Schubert
Lieber Herr Stadnitschenko,
zunächst bitte ich um Entschuldigung, dass ich erst jetzt auf Ihren Kommentar antworte. Das hat zwei Gründe: Zum einen wurde ich bis vor kurzem zugeschüttet mit Fake-Kommentaren aus Russland (das habe ich abstellen können); zum andern ist mir dann Ihr Kommentar „weggerutscht“. Aber da dieser Blog-Beitrag nach wie vor sehr abgefragt wird, will ich nun die Beantwortung der Fragen nachholen:
1. Es kommt sehr darauf an, wie weit man den Kultur-Begriff fasst. All das, was Sie hier aufzählen, gehört zur Lebensart in europäischen Regionen. Ob das aber kulturelle Ausdrucksformen sind, die uns von anderen Kulturen unterscheiden, oder die gegen andere Kulturen verteidigt werden müssen, wage ich zu bezweifeln.
2. Die von Ihnen aufgezählten Komponisten gehören auf jeden Fall zu den ganz Großen der europäischen Musikkultur in ihrer ganzen Vielfalt. Ob sich aus diesen Werken eine „Leitkultur“ entwickeln lässt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall zeigen sie, dass sie einem großen Kulturraum entstammen. Der aber hat sich auch über die Jahrhunderte veränderte. Wichtig scheint mir vor allem eines zu sein: diese Komponisten sprengen mit ihrer Musik alle nationalen Engführungen legen Zeugnis ab von der universalen Sprache der Musik. Das wird dann noch offensichtlicher, wenn diese Musik in außereuropäischen Kulturkreisen aufgeführt wird.
3. Diese Frage habe ich unter 2. eigentlich beantwortet: Musik muss nicht übersetzt werden. Musik kann in allen Kulturkreisen verstanden werden.
4. Erstrangig: Musik, bildende Kunst sind in jeder Hinsicht grenzüberschreitend und widersprechen aller nationalistischer Verengung und Vereinnahmung. Insofern ist Musik ein so wichtiger Beitrag im interkulturellen Leben. Zweitrangig: In welchem Kontext die Musik ursprünglich entstanden ist.
5. Meines Erachtens gibt es kein Land auf dieser Erde, das keine Musiker, Schriftsteller oder Dichter hervorgebracht hat. Die Frage ist, was wir von den jeweiligen Ländern wissen bzw. zur Kenntnis nehmen.
6. Es gibt meines Erachtens weder „christliche“ noch „unchristliche“ Musik. Wohl gibt es sehr viel Musik, die im christlichen, kirchlichen Kontext entstanden ist oder entsteht, und natürlich solche, die nicht in diesem Kontext zu verorten ist. Sin die Kompositionen Wagners „christliche“ Musik? Ist ein Orgelwerk Bachs, aufgeführt beim Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg „christliche“ Musik? Ist Beethovens „Eroica“, aufgeführt in der Thomaskirche, „christliche“ Musik? Ich möchte mit diesen Fragen nur die Problematik Ihrer Fragestellung andeuten.
7. Sie sehen aus 6., dass ich mit dem Attribut „christlich“ meine Probleme habe, auch mit dem Begriff „christliches Abendland“. Ja, vieles in Europa ist geprägt durch das Christentum, viele Traditionen wurzeln im christlichen Glauben. Viele davon gilt es zu pflegen, von unsäglichen haben wir uns zu verabschieden (wie die Unterdrückung der Frau). Aber: mit dem Attribut „christlich“ verbinden sich auch viele Verbrechen, ganz viel Versagen und Fehlentwicklungen. Wir müssen also differenzieren.
8.-10. Wie gesagt: Vieles wurzelt in christlichen Traditionen. Aber in der globalisierten Welt gesellen sich andere kulturelle Traditionen zu uns. Damit stehen wir vor zwei Aufgaben: unsere eigene kulturelle Identität zu klären und gleichzeitig angstfrei anderen Kulturen begegnen.
11. Im Sinne von 8.-10.: Weder noch. Wir leben in einer größer gewordenen Pluralität. Diese sollten wir bejahen, gleichzeitig aber unsere kulturellen Traditionen profilieren.
12. Ihre Frage macht eine abfüllende Diskussion erforderlich. Grundsätzlich: Ich suche die „Schuld“ für diese Entwicklung nicht bei anderen, sondern zunächst bei mir selbst. Darum meine Antwort: Wir vernachlässigen die Pflege unserer Traditionen und versuchen uns gleichzeitig gegen andere Kulturen/Religionen abzuschotten. Beides ist aus meiner Sicht falsch.
Für mich ist ein Wort vom Mystiker Meister Eckart Leitgedanke in der Debatte um kulturelle, religiöse Identität: „Wer um seine Mitte weiß, kann weite Kreise ziehen.“
Herzliche Grüße Ihr Christian Wolff
Ihr Statement: „Europa braucht keine Leitkultur, sondern ein Bekenntnis zur religiösen und kulturellen Pluralität als Bedingung eines demokratischen Zusammenlebens.“ ist abenteuerlich. Die demokratische Verfassung ist die Bedingung für religiöse und kulturelle Vielfalt nicht umgekehrt. Ich möchte nicht, dass unsere Verfassung und unser Rechtssystem durch andere Relogionen versucht wird zu dominieren oder zu unterminieren.
Lieber Herr Prof Löbler, vielen Dank für den Hinweis auf eine mögliches Missverständnis aufgrund einer ungenauen Formulierung (die aber nicht „abenteuerlich“ ist): Am besten hätte ich formuliert, dass sich Demokratie und Pluralität gegenseitig bedingen. Ihre Sorge kommt ja nur dann zum Tragen, wenn es keine religiöse und kulturelle Pluralität gibt. Beste Grüße Christian Wolff
Vielleicht ist es der Begriff der Kultur, der es so problematisch macht, de Maizière zu folgen. Kultur, das klingt nach Kuckucksuhr, Schuhplattlern und Pfälzer Saumagen. Oder nach Goethe und Droste-Hülshoff. Nichts worauf man denken könnte, alle in diesem Land gemeinsam in einem seligen Lächeln vereinen zu können.
Was er dann aber aufzählt sind Positionen und Werte, Grundannahmen im täglichen Umgang miteinander. Aber nur Weniges ist typisch deutsch, die meisten Positionen sind viel allgemeiner und gelten auch anderswo – nicht nur in Europa.
Indem de Maizière solches als „deutsch“ einhegt, impliziert er, dass sich „die anderen“ die Hand nicht geben, keine bedeutenden Musiker und Schriftsteller hervorgebracht haben und Konflikte mit der Faust lösen.
Eine europäische Vision ist das nicht.