In einem Brief an die Mitglieder des SPD-Stadtverbandes Leipzig reagiert Christian Wolff auf das Interview, das der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Leipzig-Mitte, André Soudah, der Leipziger Volkszeitung (LVZ vom 30.09./01.10.2017, Seite 1 und Seite 18) gegeben hat.
Am Samstag, 30.09.2017, ist in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) ein Interview mit dem Vorsitzenden des SPD Ortsvereins Leipzig-Mitte André Soudah zu lesen: (http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Leipziger-Andre-Soudah-Wir-muessen-endlich-auch-mehr-fuer-unsere-Leute-tun). Überschrift auf Seite 1: „Akademische Filterblase – Leipzigs SPD-Basis rebelliert“. Die Überschrift erweckt den Eindruck, als würde durch das Interview und den Artikel ein Stimmungsbild der Leipziger SPD wiedergegeben. Doch weit gefehlt. Es kommt ein Mitglied der SPD zur Sprache, nämlich André Soudah. Er ist zwar Vorsitzender des OV Mitte. Ob er aber in dieser Frage für den größten Ortsverein in Sachsen sprechen kann, ist mehr als zweifelhaft. Denn die Mitgliederversammlung, auf der das Ergebnis der Bundestagswahl diskutiert wird, hat noch nicht stattgefunden.
Nun ist sicher jedes Mitglied der SPD berechtigt und aufgerufen, sich über das mehr als katastrophale Wahlergebnis seine Gedanken zu machen, dieses zu analysieren und über die eigenen Erkenntnisse in die öffentliche Debatte einzutreten. Das wird umso glaubwürdiger, je mehr ein solcher Diskussionsbeitrag untersetzt ist mit praktischer politischer Arbeit vor allem während des Wahlkampfes. Wenn sich aber der Vorsitzende eines SPD-Ortsvereins an die Öffentlichkeit wendet, der sich im zurückliegenden Wahlkampf mehr als zurückgehalten hat, der im OV-Vorstand sogar darüber diskutieren ließ, ob es sich überhaupt lohne, Wahlkampf zu machen und der nicht einen Wahlkampf-Stand in der Innenstadt geschweige denn eine Wahlkampfveranstaltung zu organisieren in der Lage war, dann wird die Sache mehr als merkwürdig. Noch merkwürdiger wird es, wenn André Soudah behauptet, die SPD befinde sich in einer „akademischen Filterblase“. Was will er damit wohl ausdrücken? Dass es ein Fehler sozialdemokratischer Bildungspolitik war und ist, vielen Menschen einen akademischen Berufsabschluss zu ermöglichen? Oder dass es falsch ist, in einer Stadt mit 40.000 Studierenden auf diese wichtige Wählergruppe einzugehen? Ich möchte aber auch fragen: Wo bleibt gerade im OV-Mitte ein Zugehen auf die Arbeitnehmerschaft und auf die Gewerkschaften? Wer ist es denn, der seit Jahren die politische Debatte im OV durch eine Art biederes Volkshochschulprogramm ersetzt? Offensichtlich scheint niemand darüber beunruhigt zu sein, wie verkümmert gerade in der Leipziger SPD die gewerkschaftliche Orientierung der politischen Arbeit ist. Ebenso ist schon auffallend, wie sehr sich der OV Mitte zurückgehalten hat in der Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten in unserer Stadt seit Januar 2015. Doch an André Soudah, der im Interview kräftig austeilt, möchte ich noch eine Frage richten: Wie kann man nur auf die Idee kommen, in der Endphase des Wahlkampfes die monatliche Mitgliederversammlung zu einer Besichtigungstour in die Hauptfeuerwache umzufunktionieren? Statt sich also großmäulig in der LVZ zu präsentieren und Noten zu verteilen, wäre eine selbstkritische Bilanz des Vorstands des OV Leipzig-Mitte mehr als angebracht – und eine Entschuldigung beim SPD-Bundestagskandidaten Dr. Jens Katzek, den der OV-Vorsitzende mehr als im Regen hat stehen gelassen.
Im besagten Interview werden von André Soudah Behauptungen in die Welt gesetzt, die keiner Nachprüfung standhalten: das Thema „Innere Sicherheit“ sei tabuisiert worden. Wie bitte? Gerade dieses Thema ist in Leipzig permanent auf der Tagesordnung, nicht zuletzt durch OBM Burkhard Jung und den Stadtverbandsvorsitzenden Hassan Soilihi Mzé . Martin Schultz hat es in jeder Rede angesprochen – Gott sei Dank nicht in AfD- oder CSU-Manier. Das gilt auch für die Themen, die die Menschen direkt angehen, aber von diesen nicht dem Konto SPD zugeschrieben werden: Rente, Bildung, gerechte Arbeitsbedingungen. Aber André Soudah geht es offensichtlich um ganz andere Schwerpunkte. Er will, dass die SPD auf einen Zug aufspringt, der schon seit Monaten kräftig an Fahrt aufgenommen hat, aber unter AfD- und CSU-Label fährt: Neid gegenüber Geflüchteten und Politiker-Bashing. Originalton André Soudah: Die Menschen sind „frustriert. Denn das Geld, das anderen gegeben wird, haben sie verdient. Wir müssen endlich auch mehr für unsere Leute tun.“ Darf ich fragen: Wer gehört zu denen, die das Geld verdient haben – nur Deutsche? Und wer sind „unsere Leute“ – nur Deutsche? Aber weiter mit dem Originalton André Soudah: „… ein Teil unserer politischen Klasse (ist) abgehoben und (sieht) nicht mehr …, was wirklich vor Ort los ist.“ Das hat uns gerade noch gefehlt, in das allgemeine Geschwätz von „politischer Klasse“ oder „Elite“ mit einzustimmen und die Stimmungslage zu füttern, in der ein demokratischer Diskurs kaum möglich ist. Genauso abstrus ist André Soudahs These, dass die Ursache für den Aufstieg der AfD darin liegt, dass „die fortschreitende Liberalisierung unserer Gesellschaft … in unserer urbanen Filterblase Akzeptanz (findet), aber an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen – vor allem im ländlichen Bereich – völlig vorbei(geht)“. Richtig ist: Ja, es gibt einen Kampf der Rechtspopulisten gegen den sog. „Multikulturalismus“ (AfD-Programm), dem dann der „Fortbestand der Nation als kultureller Einheit“ entgegengestellt wird. Soll die SPD das Leitbild einer liberalen, kulturell vielfältigen, weltoffenen Gesellschaft aufgeben, das sie selbst seit über 150 Jahren mit entworfen und befördert hat? Soll sie auch hier denen nachrennen, die nun davon reden „Deutschland muss Deutschland bleiben“ (Tillich)? Soll in der SPD nun eine Reinigungsstrategie Raum greifen, mit der der „Miststall der Demokratie“ (Thomas Assheuer in der neuen ZEIT) von der „Liberalisierung“ befreit wird? Man reibt sich verwundert die Augen …
… und kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn André Soudah Martin Schulz vorwirft: er habe versäumt, „die SPD wieder klar an die Mitte heranzuführen.“ Was heißt denn hier „wieder“? Wo hat sich denn die SPD seit 2005 aufgehalten – oft genug auf Kosten ihrer Erkennbarkeit – wenn nicht in der Mitte? Heute zitiert SPIEGELonline eine Erstwählerin: „Die Mitte ist zu mittig“. Nein, es geht nicht um links oder rechts oder Mitte. Es geht darum, dass die SPD sozialdemokratisches Profil entwickelt und die politischen Schwerpunkte wieder belebt, die sie stark gemacht haben: europäische Einigung, Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit, durchlässige Bildungschancen, eine offene Gesellschaft, Verfassungspatriotismus (Johannes Rau) – eingebettet in eine Vision zukünftigen gesellschaftlichen Lebens, die sich an Grundwerten und Menschenrechten orientiert, den Menschen nahe und zuversichtlich.
Das aber ist etwas sehr anderes, als was uns André Soudah als Strategie empfiehlt. Er will eine „ausgewogene Verkehrspolitik, in der Autofahrer vorkommen“ und er will in Sachen Wohnungspolitik „den Leipzigern reinen Wein einschenken“. Der allerdings stößt sauer auf, denn wir sollen Abschied nehmen vom „Zerrbild“ des „Spekulanten“ – und ach ja, ein bisschen sozialen Wohnungsbau brauchen wir auch. So also stellt sich André Soudah eine Politik vor, die sich an der „Lebenswirklichkeit der Menschen“ ausrichtet. Entweder bin ich seit 48 Jahren in einer Partei, die ich immer missverstanden habe, und gehe offensichtlich blind durch die Stadt, oder bei André Soudah sind ein paar politische Koordinaten durcheinander geraten. Anders kann ich mir dieses Interview nicht erklären. Aber sei’s drum: „Rebellisch“ ist an André Soudahs Äußerungen nichts – wohl aber ganz viel peinlich selbstgerecht, unausgegoren und wenig sozialdemokratisch. Kein Ruhmesblatt für den Vorsitzenden des OV Leipzig Mitte – für mich aber Anlass, mit diesem Brief vor dieser Art von Wahlkampfnachlese zu warnen.
7 Antworten
Lieber Christian
wir haben ja in einem vorhergehenden Blogbeitrag an dieser Stelle erfahren, was die SPD jetzt dringend braucht. Weiterer Diskussionen bedarf es dannn offenbar nicht mehr. Alle, die sich dennoch zu einer davon abweichenden Meinungsäußerung aufraffen, müssen mit einem Bannstrahl von Deiner Blog-Seite rechnen, in dem ihnen vorgeworfen wird, ihnen seien die politischen Koordinaten durcheinander geraten und sie seien auf einen Zug mit AfD- oder CSU-Label aufgesprungen usw. Was die SPD nun dringend braucht, ist eine offene Diskussion, bei der vielleicht auch mal ein Wort fällt, das sonst der in der Partei sehr früh schneidenden Schere im Kopf zum Opfer fällt. Wer in der Form, wie Du dies hier tust, „diskutiert“ und die Leute abkanzelt, will aber in Wahrheit gar nicht diskutieren, sondern Recht haben und Andersdenkende zum Schweigen bringen. Das wird die SPD ganz sicher nicht nach vorn bringen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Clobes
Lieber Michael, nur zur Klärung: auf meinem Blog schreibe ich meine Meinung zu bestimmten gesellschaftlichen, kirchlichen, politischen Vorgängen. Damit kann sich jede/r auseinandersetzen, wenn er/sie will. Ich nehme für mich weder andere noch die „Wahrheit“ in Anspruch. Ich bekleide auch in der SPD kein Amt. Insofern ist das, was ich in meinen Blog stelle, ein Beitrag unter hoffentlich vielen in einem politischen Diskurs. – Im Übrigen stimme ich Dir völlig zu, dass die SPD in all ihren Gliederungen eine offene Diskussion benötigt. Wenn aber der Vorsitzende des SPD Ortsvereins Leipzig-Mitte vor der Diskussion im Ortsverein in einem LVZ-Interview seine Sicht der Dinge verkündet, dann ist das nicht gerade ein Vorbild für den politischen Diskurs. Es wäre angemessener gewesen, er hätte für die Diskussion im OV ein Positionspapier vorbereitet und dieses den Mitgliedern zugesandt. So etwas festzustellen, erlaube ich mir auch in Zukunft – unabhängig davon, ob das nun die Zustimmung aller findet oder nicht. Also: mir zu unterstellen, ich wolle „Andersdenkende zum Schweigen“ bringen ist allein schon deswegen etwas putzig, weil ich über keinerlei Mittel verfüge, so etwas auch nur zu versuchen. Das kannst Du auch daran erkennen, dass ich alle Kommentare – vorausgesetzt sie sind nicht anonym – freischalte, natürlich auch die, die meiner Sicht der Dinge widersprechen. Beste Grüße Christian
Lieber Christian,
mir ist es sebstverständlich nicht daran gelegen, Deine Kritik an den Aussagen von André Soudah zu unterbinden. Aber der Ton macht die Musik und Dein Brief an die Mitglieder, der ja wahrscheinlich nicht nur hier im Blog erscheint, ist voller Beleidigungen und Polemik, so dass sicher so mancher, der sich in die Diskussion einbringen könnte, davor zurückschreckt, wenn er damit rechnen muss, in dieser Form persönlich angegriffen zu werden. Deshalb mahne ich eine Versachlichung der Debatte an. Du, ich und sicher auch André haben schon manche Schläge ausgeteilt, aber auch eingesteckt und können das ab, aber viele werden sich bestimmt in einen Ring, wo so ausgeteilt wird, erst gar nicht reintrauen. Da solltest Du auch mal dran denken.
Viele Grüße
Michael
Hoppala, seit wann ist denn der „Genosse“ Clobes so „dünnhäutig“ geworden. Da habe ich andere Erfahrungen sammeln dürfen. Die Haltung von Christian Wolff ist nicht zu kritisieren, sondern mehr als angebracht. Und auch dem Vorgang angemessen.1
Leider sind wir in Karlsruhe bisher ahnungslos. Die Situation in Sachsen kann hier keiner wirklich einschätzen. Darum: danke für die Info. Wir sind am Anfang eines schwierigen Weges. Hoffen wir, dass die Demokratie wieder vor Ort mit Leben gefüllt wird.
Als Rentner der badischen Kirche muss ich leider feststellen: Demokratie wird in der Karlsruhe Kirche nur bei Bedarf praktiziert.
Sehr geehrter Herr Ubbelohde, wenn Sie genügend „schmerzfrei“ sind, empfehle ich Ihnen das Onlineforum der LVZ (Leipziger Volkszeitung), da können Sie sich ein Bild machen.
Ich als geborener Leipziger (Jahrgng 1940) mit schwäbischer „Sozialisierung“ kam nach meiner Rück- aber nicht Heimkehr, 2001 nach Leipzig aus dem Staunen nicht mehr heraus, was 43 Jahre DDR-Herrschaft in vielen Köpfen bewirkt hat. PEGIDA und Ihr Leipziger Ableger LEGIDA ist für mich nur als Realsatire zu ertragen. Da erhebt eine Horde von Religionsfernen den „Anspruch“ als europäische Patrioten des christliche Abendland zu retten.
Das erinnert mich an den teilweise gelungenen, peinlichen Versuch die von den anderen Ortsvereinen erstellten Kandidatenlisten für ihren Wahlkreis, die im SV und OV Mitte auf Mißfallen stießen, nachträglich per Delegiertenversammlug zu korrigieren. Zum Glück haben „unsere“ Wähler im Norden, dieses Manöver durchschaut und A.S. „abgestraft“. Soviel zu „innerparteilichen“ Demokratie“ in Leipzig. Und solche „Geister“ behelligen die Öffentlichkeit mit ihren Ergüssen. Hilfe!